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Die Kunst des Bluffens
Okay, ich geb’s zu.
Rani hatte mir ein, zwei Tipps gegeben. Etwa, dass Clayton auf Karaoke steht. Sie hatte auch Def Leppard und Family Guy erwähnt, und alle anderen vermeintlichen Gemeinsamkeiten. Lauter Details, von denen sie angenommen hatte, dass Clayton sie an einem Mädchen anziehend finden würde, falls er mit dem Gedanken spielen sollte, fremdzugehen. Einschließlich der Tatsache, dass dieses Mädchen weiß sein müsste.
Rani wollte nicht, dass ich es wie üblich mit der schwarzen Karte auf dem Tisch beende. Mit der kalten, harten Wirklichkeit aus meinem Munde, während ich mir den Sweater überziehe und meinem Testobjekt einen letzten, langen, mitleidigen Blick zuwerfe, ehe ich gehe.
Das reichte ihr nicht. Sie wollte es sehen. Wollte ihn auf frischer Tat ertappen. Wollte ihm ins Gesicht sehen, wenn ihm klar wurde, was geschehen war. Er sollte wissen, dass sie Bescheid wusste, dass sie es immer wissen würde.
Das ist nicht die typische Vorgehensweise. Aber Rani war auch keine typische Auftraggeberin.
Wir hatten uns bei Barnes & Noble in der Third Street Promenade in Santa Monica kennengelernt. Auf den ersten Blick schien es, als wollte sie dort in der Sachbuchabteilung wie ich ihren Wissensdurst stillen. Doch wie sich herausstellen sollte, interessierten wir uns für unterschiedliche Themen. Ich beobachtete sie aus dem Augenwinkel, während ich in der Nische mit den Ratgebern die zahllosen Titel überflog, die dem Leser jede noch so tief liegende Angst zu nehmen versprachen. Sie wirkte verloren. Zog hie und da ein Buch aus dem Regal, blätterte kurz darin, stellte es seufzend und sichtlich entmutigt wieder zurück. Obwohl sie bloß eine simple Jogginghose, einen Kapuzensweater und Ugg-Pelzstiefel trug, war der ganze Raum erfüllt von ihrer exotischen Schönheit.
Ich näherte mich ihr unauffällig, tat, als wäre ich auf der Suche nach einem bestimmten Autor, bis ich einen Blick auf die Werke erhaschen konnte, die sie im Arm hielt.
Seitensprung! So legen Sie ihm das Handwerk; Woran Sie erkennen, dass Ihr Mann Sie betrügt; Ist er Ihnen untreu? Finden Sie es heraus!
Ich sah den Kummer in ihren Augen, als sie jeden einzelnen Titel durchblätterte. Es war ein Kummer, den diese Bücher nicht heilen konnten. Ich wusste das, und sie wusste es insgeheim auch. Aber eine andere Möglichkeit wollte ihr partout nicht einfallen.
Kein Wunder, dass sie so verloren wirkte.
Ich verspürte tiefstes Mitgefühl mit ihr. In ihrem makellosen Gesicht zeichneten sich all die schlaflosen Nächte ab, die sie damit zubrachte, den Menschen, den sie liebte, zu betrachten. All die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, die Antworten, die sie zu erhalten hoffte, am nächsten Morgen … oder am übernächsten, oder tags darauf. Solange sie nur endlich wieder schlafen konnte.
»Darf ich dir einen Tipp geben?« Ich deutete auf das Buch, das sie in der Hand hielt.
Sie hob beschämt den Kopf, als wäre sie von ihrer Großmutter beim Pornofilmgucken erwischt worden. Dann spiegelte ihre Miene eine gänzlich unangebrachte Dankbarkeit wider. »Keine gute Wahl?«, fragte sie mit hoffnungsvoller Stimme. Kein Zweifel – sie suchte jemanden, der sich auf dem Gebiet auskannte. Und das tat der Typ an der Infotheke, der an ein Eichhörnchen erinnerte und dessen Gürtel nicht zu den Schuhen passte, ziemlich sicher nicht.
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Kann ich dir nicht sagen, ich habe es nicht gelesen.«
Rasch nahm sie ein anderes Buch aus dem Regal und hielt es hoch. »Was ist mit dem hier?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ehrlich gesagt, habe ich keins von denen gelesen.«
Sie musterte mich verwirrt. Vermutlich hielt sie mich, meinem absolut normalen Aussehen zum Trotz, für eine dieser Verrückten, die durch die Straßen von Santa Monica wandern und wildfremden Menschen ungefragt Beziehungstipps erteilen. »Welchen Tipp wolltest du mir dann geben?«
 
Rani war eine meiner »pro bono«-Klientinnen. Ich verlangte von ihr nicht einen Cent für meine Dienste, hauptsächlich deshalb, weil sie keinen erübrigen konnte. Sie schob Nachtschichten bei Starbucks, um sich ihr Jurastudium zu finanzieren.
»Wir sind seit damals auf der Highschool in Iowa zusammen«, erklärte sie mir, als wir vor einem der Cafés an der Promenade Platz genommen hatten, um eine Limonade zu trinken. »Es ist für uns beide die erste Beziehung.«
»Du siehst nicht aus, als wärst du im Mittleren Westen geboren«, scherzte ich.
Sie lächelte und sah einem Passanten nach, der an unserem Tisch vorbeiging. »Meine Familie ist aus Indien eingewandert, als ich vierzehn war. Mein Dad hat einen Job in der amerikanischen Zweigstelle seiner Technologiefirma bekommen. Der perfekte Start in ›ein besseres Leben‹. Jedenfalls wurde mir das so verkauft.« Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Ich wollte nicht aus Indien wegziehen. Dort war ich beliebt, hatte viele Freundinnen. Alle mochten mich. Die Kinder in Iowa waren richtig gemein. Ständig haben sie sich über meinen Akzent und mein Aussehen lustig gemacht. Ich war umzingelt von blonden Haaren und blauen Augen. Das war das gängige Schönheitsideal in Iowa. Nur die blonden, blauäugigen Kinder hatten Freunde... Beim Mittagessen ließen mich meine Mitschüler nicht am selben Tisch sitzen, also habe ich die Pausen in der Bücherei verbracht. Eigentlich war es verboten, dort zu essen, aber die Bibliothekarin hat ein Auge zugedrückt.« Sie schmunzelte. »Ich hab ihr wohl leid getan.«
Ich nickte und nippte abwartend an meiner Limonade.
»Und eines Tages kam Clayton herein. Ich kannte ihn vom Sehen. Er war im Fußballteam und sah unheimlich gut aus. Ich dachte, er wollte sich ein Buch holen, aber er kam geradewegs auf mich zu und setzte sich gegenüber von mir an den Tisch. Er sagte, er wüsste, dass ich jede Mittagspause in der Bücherei verbringe, und wollte mal sehen, warum. Ob die Bücherei jetzt der neue In-Treff sei oder so.«
»Wie süß«, bemerkte ich.
Sie nickte. »So war er immer. Von dem Tag an hat er immer mit mir in der Bibliothek gegessen. Er hat nie gefragt, warum ich nicht wie die anderen Schüler in der Cafeteria esse. Musste er wohl auch nicht.«
Ich war ganz in die Geschichte vertieft. »Und weiter?«
»Nichts weiter. Seither sind wir zusammen.«
»Warum dann die Bücher? Warum deine Zweifel?«
Sie seufzte, strich sich mit der Hand den Pferdeschwanz glatt. »Gerade weil wir seither zusammen sind. Ich glaube, er will mehr... Er ist neugierig. Er will wissen, was er verpasst. Ich glaube, er will ein weißes Mädchen.«
Ich hätte beinahe die Limonade wieder ausgespuckt. »Was? Ist das dein Ernst? Du bist wunderschön! Absolut atemberaubend! Und er hat dich ausgewählt, aus einem Meer weißer Mädchen... weil du anders bist. Warum sollte er plötzlich seine Meinung ändern?«
Sie zuckte die Achseln und schüttelte hilflos den Kopf. »Keine Ahnung. Ist nur so ein Gefühl. Mir ist aufgefallen, dass er manchmal anderen Frauen nachsieht. Ich bin einfach nicht sicher, ob ich dazu bestimmt bin, für immer die Frau an seiner Seite zu sein. Wie soll man das nach zehn Jahren auch wissen? Und mal ganz ehrlich – es ist doch utopisch, dass man mit fünfzehn seinen Seelenverwandten findet.«
Ich presste die Lippen aufeinander und wandte den Blick ab. »Stimmt«, räumte ich ein.
»Wenn er mich betrügt, dann nicht gleich mit der Erstbesten, die er in einer Bar aufgegabelt hat, da bin ich sicher. Er ist nicht der Typ für einen One-Night-Stand. Wenn überhaupt, wird er die Betreffende näher kennenlernen, mit ihr ausgehen wollen. Um einfach mal zu sehen, was da draußen sonst noch so herumläuft.«
Ich nickte und berührte ihre Hand. »Lass mich dir helfen.«
Sie legte den Kopf schief. »Wie denn?«
»Ich biete einen Spezialservice an. Für Frauen wie dich. Was du suchst, findest du nicht in irgendwelchen Büchern.«
Rani hob neugierig eine Augenbraue. Also erzählte ich ihr von Ashlyn und ihren Machenschaften.
Ihre Reaktion war interessant. Ich bin es nicht gewohnt, gänzlich Uneingeweihten von meiner Arbeit zu erzählen. Meine Auftraggeberinnen sind ja meist bis zu einem gewissen Grad vorbereitet. Schließlich haben sie mich angerufen. So halb rechnete ich damit, dass Rani entsetzt aufspringen und Reißaus nehmen würde, während ich mit Limonade begossen auf der Rechnung sitzen blieb. Doch weit gefehlt. Sie starrte mich an wie ein religiöser Fanatiker eine eben erst entdeckte uralte Reliquie, ungläubig und voller Zweifel ob ihrer Echtheit zunächst, und dann mit der verzückten Benommenheit eines Menschen, dessen Glaube soeben in den Grundfesten erschüttert wurde.
»Aber ich habe kein Geld, um...«
»Ich möchte dir bloß helfen«, versicherte ich ihr.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Tränen der Dankbarkeit, Tränen der Angst, Tränen der Erleichterung, weil sie endlich die Antworten erhalten würde, nach denen sie schon so lange suchte.
Und weil sie sich dabei nicht auf ein Buch verlassen musste.
 
Ich stand vor der Tür von Ranis und Claytons Wohnung und lauschte den gedämpften Stimmen drinnen. Die Auseinandersetzung würde wohl noch eine ganze Weile dauern.
Rani hatte recht. Es ist wirklich ziemlich utopisch, dass man mit fünfzehn seinen Seelenverwandten findet. Und doch hätte ich den beiden gern die Daumen gedrückt. Wünschte mir, dass sie sich zusammenrauften, dass sie diesen Vorfall als Chance sahen. Als Hürde, die überwunden und aus dem Weg geräumt werden musste, ehe sie neu durchstarten, ihren gemeinsamen Weg fortsetzen konnten.
Aber ich habe es mir zur Regel gemacht, niemandem die Daumen zu drücken. Keine Ausnahmen. Und so legte ich, ehe ich ging, nur sacht die Hand an die Holztür, um mich von Prinzessin Rani zu verabschieden.
Tags darauf fuhr ich zum dritten und letzten Mal zu meinem Pokerunterricht. Nach der Besprechung mit Roger Ireland vorige Woche hatte ich mir unverzüglich über das Online-Portal Craigslist einen Lehrer gesucht, der mich für meinen Auftritt in Las Vegas am Samstag vorbereiten sollte. Angesichts der zurzeit herrschenden Poker-Manie ein Kinderspiel.
Bei meinem ersten Besuch hatte ich meinem Lehrer Ethan (er selbst zieht die Bezeichnung »the Cowboy« vor) erklärt, ich wolle einen Poker-Crashkurs absolvieren, um einen Geschäftspartner in Vegas zu beeindrucken. Stimmte ja auch. Ethan war es sichtlich schnurz, aus welchem Grund ich zu ihm kam, solange mein Scheck gedeckt war und er das Geld auf seinem Online-Poker-Account deponieren konnte.
»Während der letzten beiden Lektionen haben wir uns auf Spielregeln und Spielverlauf konzentriert«, setzte er an, während er geschickt einen Stapel Karten mischte. »Ich habe Ihnen beigebracht, wie Sie auf der Basis der gesamten Einsätze Ihre Gewinnchancen berechnen können, und natürlich auch, wie Sie erraten, was die anderen Spieler in der Hand haben.« Wir saßen in Ethans Spielkeller, einem regelrechten Mini-Casino mit Porträts berühmter Spieler an den Wänden und drei professionellen Pokertischen, die den Raum dominierten. Der Teppich war genauso grellbunt gemustert wie die Bodebeläge in den Casinos auf dem Strip.
Ich ergriff die vier Chips, die vor mir lagen, und begann mit den »Fingerübungen«, die mir Ethan während der letzten Stunde kurz demonstriert hatte. Genauso hatte ich die Spieler auf ESPN mit ihren Chips jonglieren sehen, während sie sich ihren nächsten Schritt überlegten. Wenn ich den Anschein erwecken wollte, dass ich das Spiel beherrschte, war der Trick mit den Chips genauso wichtig für meine Glaubwürdigkeit wie die profunde Kenntnis der Regeln. Und Glaubwürdigkeit war am Samstag absolut oberstes Gebot, ob ich das Spiel nun beherrschte oder nicht.
»Heute verleihe ich Ihnen den letzten Schliff«, fuhr Ethan fort.
»Perfektionieren wir den Chip-Trick?«
»Nein... das Bluffen«, stellte er gewichtig fest. Er spannte mich gern auf die Folter.
»Ah.«
»Das ist das Schwierigste am Pokern. Aber wenn Sie das Bluffen erst beherrschen, ist der Rest ein Kinderspiel.«
»Sie bringen mir also das Lügen bei?«, hakte ich nach.
»Das Täuschen. Ihre Mitspieler sollen glauben, Sie hätten etwas auf der Hand, obwohl Sie gar nichts haben – oder umgekehrt«, erwiderte er blasiert.
»Sag ich doch. Lügen.«
Ethan schnaubte indigniert ob meiner stark vereinfachten Darstellung dieser faszinierenden Materie. »Ja, so könnte man es wohl auch nennen. Aber ein Bluff ist viel mehr als bloß eine unschuldige kleine Lüge. Lügen im Alltag ist keine große Herausforderung, denn die Menschen haben keinen Grund, Ihnen zu misstrauen. Beim Pokern dagegen müssen Sie Ihre Mitspieler dazu bringen, Ihnen zu glauben, obwohl sie allen Grund haben, Ihnen zu misstrauen. Da erfordert das Bluffen ein besonderes Talent. Es ist eine richtige Kunst.«
Ich nickte und lächelte vor mich hin. »Ich glaube kaum, dass das Bluffen ein Problem für mich darstellt.«
Ethan hob angesichts meines Selbstvertrauens eine Augenbraue, dann klopfte er mit dem Kartenstapel auf den Tisch und begann mit dem Austeilen. »Okay, Sie Großmaul, dann zeigen Sie mal, was Sie drauf haben.«
 
Der Freitagabend kam, und ich war spät dran... wie immer. Diesmal allerdings nicht zu einem Auftrag, sondern zum Geburtstagsdinner meiner Nichte, das in einem Restaurant in Westlake Village stattfinden sollte. Hastig schlüpfte ich in die Jeans, die Hannah so toll fand, zog mir ein Top von Baby Phat über, tuschte mir die Wimpern und machte mich auf den Weg.
Ich fuhr auf die Autobahn auf und reihte mich in den zähflüssigen Verkehr ein. Die 405 glich wieder einmal eher einem Parkplatz als einer Straße. Hannahs Eltern und meine Mutter leben in Thousand Oaks, etwa fünfzig Kilometer nördlich von hier. In Südkalifornien werden Entfernungen allerdings nicht in Kilometern oder Meilen angegeben, sondern in der geschätzten Fahrzeit, und diese hängt von diversen Variablen ab. In erster Linie von Tageszeit und Wochentag.
Das sind die beiden Faktoren, nach denen ich mich stets erkundige, wenn mich jemand fragt, wie weit es von A nach B ist. An einem Dienstag um elf Uhr vormittags beispielsweise dauert die Fahrt von mir nach Thousand Oaks etwa eine Stunde, an einem Freitagabend um fünf (wie heute) fast zweieinhalb Stunden. Am Samstag um zwei Uhr früh dagegen kann ich dieselbe Strecke in gerade mal fünfundvierzig Minuten zurücklegen (vorausgesetzt, ich presche mit rücksichtslosen hundertfünfzig Sachen durch die Gegend).
Ehrlich gesagt, können die meisten Leute in L.A. mit Meilen- oder Kilometerangaben nicht viel anfangen. Kommt man ihnen mit »ungefähr acht Kilometer östlich von hier«, dann mustern sie einen unweigerlich, als käme man vom Mars und fragen: »Okay, wie lange brauche ich, wenn ich um halb fünf losfahre?«
Es wird ja gemeinhin angenommen, es gäbe auf der Welt zwei Maßsysteme: einerseits das metrische, das praktisch überall außer in den USA verwendet wird, und andererseits das super-nervige, absolut unlogische amerikanische, das nicht einmal wir Amerikaner so richtig durchschauen. Tatsächlich allerdings existiert neben diesen beiden noch ein drittes, nämlich unser südkalifornisches System, auch »Raum-Zeit-Inkontinuum« genannt.
Und meine RZI-Berechnungen sollten sich auch diesmal wieder als korrekt entpuppen: Nach etwa zwei Stunden verließ ich den Freeway und düste über eine Allee in Richtung Restaurant. Ein Blick auf die Uhr an meinem Armaturenbrett bestätigte meine Befürchtungen: Ich kam hochoffiziell zu spät. Ich stieg aufs Gas und bereitete mich seelisch schon mal auf die Strafpredigt meiner Halbschwester Julia vor. Und just in dem Augenblick, als ich die Geschwindigkeit drosseln und abbiegen wollte, sah ich im Rückspiegel auch noch ein Blaulicht aufblitzen. Na, toll. Das hatte mir gerade noch gefehlt, dass ich mich jetzt mit einem Vorstadtpolizisten herumärgern konnte, der nichts Besseres zu tun hatte, als Strafzettel zu verteilen, nur weil mal jemand drei Stundenkilometer zu schnell gefahren war. Hüstel. Oder dreißig.
Ich fuhr an den Straßenrand und überlegte fieberhaft, wie ich aus dieser Zwickmühle am besten wieder herauskam. Ein Hechtsprung in die Büsche schied vermutlich aus, wenn ich nicht wollte, dass in den Sechs-Uhr-Nachrichten mein Foto über den Bildschirm flimmerte. Nein, die psychologische Schiene war da viel effektiver.
Ich warf einen Blick in den Außenspiegel. Gott sei Dank, ein männlicher Beamter. Das machte die Sache bedeutend einfacher. Ich kurbelte das Fenster hinunter, knipste das Innenlicht an und setzte mich aufrecht hin.
»Guten Abend, Ma’am«, sagte der Polizist und trat an mein offenes Fenster.
»Miss«, korrigierte ich ihn. Sehr höflich, um zu signalisieren, dass ich es nicht aus Verärgerung tat, sondern damit er die Möglichkeit hatte, die richtige Anrede zu verwenden.
»Miss«, wiederholte er mit unverändert feindseliger Miene. Was hatte der »Cowboy« noch gleich gesagt? »Beim Bluffen geht es zu gleichen Teilen darum, etwas vorzuspiegeln, das nicht stimmt, und darum, den Gegenspieler zu durchschauen.«
Mein derzeitiger Gegenspieler war verheiratet; sein Ehering glänzte im Schein der Innenleuchte. Ich reichte ihm Führerschein und Fahrzeugpapiere. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, welche Art von Ehemann ich vor mir hatte – einen, der seinen Treueschwur ernst nahm, oder eher einen von der Sorte, mit der ich für gewöhnlich zu tun hatte? Die Tatsache, dass er den Ring im Dienst trug, wies auf Ersteres hin, aber das genügte nicht.
Und dann stach mir ein kleiner weißer Fleck auf der Brusttasche seiner Uniform ins Auge. Er sah aus, als hätte jemand hastig mit einem feuchten Tuch darübergewischt, aber nicht genügend Zeit gehabt, ausführlich daran herumzurubbeln.
»Sobald Sie Ihren Gegenspieler durchschaut haben, können Sie sich eine Strategie überlegen.«
Officer Kendall, wie mein Gegner seinem Namensschild zufolge hieß, war glücklich verheiratet – im Moment jedenfalls. Ich durfte also auf keinen Fall die Verführerin-Karte ausspielen. Damit würde ich bei ihm auf Granit beißen.
Die meisten Paare, die kürzlich Nachwuchs bekommen haben (zumindest war er in diesem Fall noch so frisch, dass er auf Papis Uniform Bäuerchen machte, ehe dieser zur Arbeit aufbrach), befinden sich in einem Zustand wiederauflebender ehelicher Glückseligkeit. Sie haben ein neues Leben erschaffen. Officer Kendall trug seinen Ehering voller Stolz, und er wäre bestimmt wenig empfänglich für die Reize einer sexy Biene in einem überteuerten Geländewagen, die dieses Glück gefährden konnte.
Ich musste mir also etwas anderes einfallen lassen.
Er befestigte meinen Führerschein auf seinem Klemmbrett und leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Miss Hunter, ich habe Sie angehalten, weil Sie...«
Ich blinzelte ins Licht. »Ich weiß, ich war zu schnell. Tut mir schrecklich leid«, sagte ich aufrichtig zerknirscht. Ohne einen Hauch von Spott.
»Sie haben ganz schön auf die Tube gedrückt«, stellte er fest und klappte seinen Block mit den Strafzetteln auf.
Ich legte unauffällig den Kopf schief, um die Aufschrift auf dem Kugelschreiber zu lesen, den er eben zückte.
Volltreffer.
Meine Rettung hieß Lex Harrison.
»Sie kommen mir so bekannt vor, Officer. Sind wir uns schon mal begegnet?«, flötete ich.
»Nein.« Er begann übellaunig, meine Daten auf den Strafzettel zu übertragen.
Ich tat, als würde ich mir das Hirn zermartern, während ich aus dem Augenwinkel verfolgte, wie sein Stift über das Papier glitt. »Jetzt weiß ich’s wieder! Sie sind doch auf der Suche nach einem neuen Job, nicht? Meine Kollegin ist mit Ihrem Fall betraut.«
Seine Miene erhellte sich. »Sie kennen Mona Pietrik?«
»Na, und ob. Ich wusste doch, dass ich Sie neulich bei Lex Harrison gesehen hab.« Ich kicherte mädchenhaft. »Haben Sie nicht erst kürzlich Nachwuchs bekommen?«
Er fing an zu strahlen wie ein Weihnachtsbaum. Na, also. Jetzt hatte ich meine Fahrkarte in die Freiheit. Besser gesagt, ins Restaurant. Die Puzzleteile passten perfekt zusammen: Baby, neuer Lebenswandel, und demnächst ein neuer, sicherer Job, von dem er abends rechtzeitig zum Dinner nach Hause kam – ohne Schusswunde im Kopf.
»Ja, ganz recht.«
Ich lächelte ihn an, als wären wir alte Bekannte. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Polizist sind.«
Er seufzte. »Hoffentlich nicht mehr lange. Mein Traumjob ist das hier beileibe nicht.«
»Ich weiß, was Sie meinen – bevor ich bei Lex Harrison als Berufsberaterin angefangen habe, musste ich in einem Sportstudio Handtücher aufsammeln. Grauenhaft. Da kommt man abends nach Hause und stinkt nach dem Schweiß anderer Leute.«
Er lachte herzhaft. »Klingt wirklich grauenhaft.« »Sie sagen es.« Ich schwieg einen Moment. »Tja, Mona macht ihre Sache ganz hervorragend. Ich bin sicher, sie findet den perfekten neuen Job für Sie.«
»Danke.« Er riss den halb ausgestellten Strafzettel aus dem Block und zerknüllte ihn. »Bestellen Sie ihr doch Grüße von mir.«
»Aber gern.«
Er reichte mir meinen Führerschein und die Papiere und klappte mit einem freundlichen Augenzwinkern seinen Block zu. »Einen schönen Abend noch... und achten Sie in Zukunft ein bisschen auf Ihre Geschwindigkeit.«
 
Zehn Minuten später hielt ich auf dem Parkplatz eines kitschigen Italieners. Als ich das Restaurant betrat, stürmte sogleich eine schlaksige Gestalt auf mich zu, brüllte meinen Namen und barg den Kopf in meiner Halsbeuge. Ich umarmte meine Nichte und strich ihr über die blonden Locken.
»Hallo, Kleines! Alles Gute zum Geburtstag!«
»Danke!« Hannah drückte mich an sich und hopste dann zum Tisch zurück. Ich folgte ihr. Außer mir waren bereits alle anwesend. Hannah nahm ihren Ehrenplatz an der Stirnseite ein, Mom saß gegenüber von ihr. Ich blieb einen Augenblick stehen und gab vor, die zahlreichen Fotos an den Wänden zu betrachten, als würde ich mich fragen, ob man die darauf abgebildeten Menschen kennen sollte.
Tatsächlich versuchte ich bloß, mich für die Begegnung mit meiner Mutter zu rüsten. Ich befand mich in einer etwas verzwickten Lage... nicht zum ersten Mal. Ich war nämlich nicht sicher, ob sie schon von der Verlobung meines Vaters gehört hatte. Von mir würde sie es jedenfalls nicht erfahren. Falls sie es allerdings schon wusste, dann wollte ich nicht, dass sie mir in epischer Breite davon erzählte. Was mein Vater trieb, interessierte mich nicht im Mindesten; dass er wieder heiraten wollte, war bereits mehr Information als mir lieb war. Leider gehört meine Mutter nicht zu den Menschen, die mit ihren Gefühlen hinter dem Berg halten. Seit der unschönen Scheidung vor zweieinhalb Jahren war ich unfreiwillig Zeugin zahlreicher Gefühlsausbrüche gewesen.
Auf derlei konnte ich heute Abend wirklich verzichten. Mein Leben war schon kompliziert genug, und ich hatte alle Hände voll damit zu tun, meine eigenen Gefühle im Zaum zu halten.
Wie ich es in den vergangenen sechzehn Jahren getan hatte.
Um sie zu beschützen.
Ich deutete auf das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto einer fülligen Lady, die sich zwei Wassermelonen vor die Brüste hielt, und lächelte. »Ist ja ulkig«, sagte ich und begab mich dann zu meiner Mutter, um sie auf die Wange zu küssen. »Hi, Mom.«
Sie umarmte mich ungelenk im Sitzen. »Hi, Jenny. Hast du meine letzte E-Mail bekommen? Die mit dem Botanik-IQ-Test?«
»Ja, hab ich. Tut mir leid, ich war so im Stress, dass ich noch nicht dazu gekommen bin, den Test zu machen.« Meine Mutter hat sich in einen fünfzehnjährigen Web-Junkie verwandelt, seit sie ein paar Monate zuvor das Internet für sich entdeckt hatte. Sie verbringt den Großteil ihrer Zeit mit Online-Persönlichkeitstests, lädt Musik und Fernsehsendungen herunter, verschickt Fotos und treibt sich bis in die frühen Morgenstunden in irgendwelchen Chatrooms herum. Vor ein paar Wochen sagte sie sogar irgendetwas von wegen Instant Messages. Ich kann und will mir gar nicht vorstellen, dass meine Mutter mit wildfremden Menschen im ganzen Land ihr Lieblings-Lasagnerezept austauscht.
Ich wollte mich gerade neben sie setzen, als ich Hannah von der gegenüberliegenden Seite protestieren hörte.
»Nein! Ich habe dir hier drüben einen Platz reserviert!«
Puh. Ich wandte mich zu Mom um und zuckte entschuldigend die Schultern, als wollte ich sagen: »Was soll ich machen? Sie ist erst zwölf.« Sie lächelte mich an und nickte zustimmend.
Also ließ ich mich erleichtert zwischen Hannah und einer ihrer Freundinnen nieder. Dann schämte ich mich. Ich sollte gern neben meiner Mutter sitzen. Ich sollte gern jedem einzelnen Detail ihres Martyriums lauschen. Schließlich ist sie meine Mutter und hat viel durchgemacht. Zu viel. Trotzdem war ich Hannah gemeinerweise dankbar für die Sitzordnung. Es geht doch nichts über ein bisschen Geplauder über Make-up, nervige Lehrer und Mitschülerinnen, die sich den BH zweifellos mit Socken ausstopfen, weil ihre Brüste total ungleich aussehen, und eckig obendrein.
Ich bat Hannah um Verzeihung für die Verspätung, wobei ich bewusst verschwieg, dass ich beinahe einen Strafzettel wegen Raserei bekommen hätte. Mom würde mich bloß tadeln, weil ich zu schnell gefahren war und mein Leben riskiert hatte, und der Rest der Crew würde mir Löcher in den Bauch fragen, um zu erfahren, wie ich mich herausgeredet hatte. Darauf hatte ich erstens keine Lust, und zweitens würde es garantiert Misstrauen erregen. Unsere Jennifer ist doch nicht in der Lage, einen Polizisten zu bezirzen, damit er ihr eine Strafe erlässt. Und falls doch, warum hat sie es dann bislang nicht geschafft, einen Mann dahingehend zu bezirzen, dass er ihr einen Heiratsantrag macht?
»Wir haben schon mal bestellt; wir wussten ja nicht, wann du auftauchen würdest«, ätzte Julia, die Nervensäge.
Ich biss mir auf die Unterlippe und enthielt mich eines Kommentars. Ich musste meine Kräfte für die unvermeidliche Inquisition schonen, damit ich mich auch an all meine Schwindeleien und Ausreden erinnerte. Die kleinste Unstimmigkeit konnte eine wahre Lawine von Fragen auslösen, und dann musste ich noch mehr schwindeln, um meine ursprünglichen Schwindeleien zu untermauern.
Mir war ohnehin unklar, warum Julia darauf bestand, so viel Zeit mit Mom zu verbringen. Sie entstammte der ersten Ehe meines Vaters, und ihre Mutter lebte irgendwo weit, weit weg in Connecticut oder so. Hannah sah sie vielleicht einmal im Jahr. Warum zum Geier feierte Julia den Geburtstag ihrer Tochter eigentlich nicht mit Dad und dessen neuer Freundin? Warum hing sie wie eine Klette an meiner Mutter? Als ich noch klein war, hat sie Mom immer gehasst... und mich erst recht. Nach ihrer Hochzeit bekamen wir sie kaum je zu Gesicht, aber kürzlich ist sie aus unerfindlichen Gründen in die Nachbarschaft meiner Mutter gezogen. Dort wohnt sie nun, keine drei Straßen entfernt, und tut plötzlich, als wären sie die besten Freundinnen.
Hannah stellte mich sogleich ihren Freundinnen Olivia und Rachel vor. Ich begrüßte die beiden freundlich und wartete dann auf den Beginn der Inquisition, der auch nicht lange auf sich warten ließ.
»Na, Jen, was gibt es Neues an der romantischen Front?«
Wie auf ein Stichwort verstummten und erstarrten sämtliche am Tisch sitzende Personen. Aller Augen ruhten auf mir, sogar die von Olivia und Rachel, dabei hatten mich die beiden eben erst kennengelernt.
»Bluffen Sie immer möglichst glaubhaft. Sehen Sie sich die Karten an, die bereits auf dem Tisch liegen, und basteln Sie anhand dieser Information eine glaubwürdige Story.«
»Also, ich bin neulich mit einem Typ aus dem Fitnessstudio ausgegangen. Er hieß Clayton...«
Prompt strahlte mich reihum einer nach dem anderen an, wie die Glühbirnen einer Lichterkette, die versetzt zu blinken beginnen. Julia, ihr Göttergatte, meine Mom, Hannah, ihre beiden Teenybopper-Freundinnen. Alles wartete. War er das endlich? Konnte er es sein? Clayton... klingt sympathisch... Wird er womöglich mein neuer Onkel/Schwager/ Schwiegersohn? Wird er Jen vor der drohenden Hölle der ewigen Einsamkeit retten? Immerhin ist sie fast dreißig!
»... und er hat eine Freundin. Ende der Geschichte.«
Große Enttäuschung allenthalben. Ich hätte beinahe gelacht. Schon komisch, wie berechenbar sie waren. Wie sie bei der bloßen Erwähnung eines Männernamens anfingen, zu sabbern.
»So ein Mistkerl!«, echauffierte sich Hannah.
Ich tätschelte ihr die Hand und dankte ihr für diese tröstliche Ansage.
»Tja«, sagte meine Mutter. »Nächstes Mal hast du mehr Glück.«
»Genau.« Ich nickte und fügte vorsichtshalber hinzu: »Er wartet irgendwo da draußen auf mich.« Damit sollte die Angelegenheit abgehakt sein. Sie ist optimistisch. Mehr kann man wohl nicht verlangen. Nächstes Thema, bitte!
»Und wie läuft’s beruflich?«, erkundigte sich Julias Mann.
Ich zuckte die Achseln. »Och, nicht schlecht. Alles beim Alten.«
»Hält dich die Bank noch immer so auf Trab?«, fragte Mom.
Ich nickte und nippte an meinem Eiswasser. »Mehr denn je. Ich bin gerade erst aus Denver zurückgekommen, und morgen geht es auf nach Vegas.«
»Wow, Jen, dein Leben ist echt cool. Ich bin echt suuuperneidisch!«, sagte Hannah.
Ich setzte ein bescheidenes Lächeln auf und stopfte mir ein Stück Brot in den Mund, um mir nicht schon wieder auf die Unterlippe zu beißen. Vielleicht schaffte ich es ja zur Abwechslung, dass die heutige Familienzusammenkunft nicht so endete wie die meisten anderen... mit dem Geschmack meines eigenen Blutes im Mund.
 
Nach einer Weile begannen Hannah und ihre Freundinnen herumzuzappeln. Sie stocherten schon seit etwa zehn Minuten unmotiviert in ihren Spaghetti herum, während Julia meiner Mom einen Vortrag über ihr aktuelles Wohnzimmerrenovierungsprojekt hielt. Höchste Zeit für ein bisschen Girl Talk.
»Los, kommt mit«, flüsterte ich Hannah und ihren Freundinnen zu.
Die drei sprangen aufgeregt von ihren Stühlen auf.
Kaum hatten wir die Toilette betreten, fischte ich eine kleine Schachtel aus meiner Handtasche und reichte sie Hannah. »Sag deiner Mutter aber nicht, dass du das von mir hast.« Ich blinzelte verschwörerisch.
Ungeduldig riss sie das Geschenkpapier auf. »Ja!«, rief sie triumphierend und schwenkte den Designer-Lipgloss von Trish McEvoy, den ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte.
»Genau den hab ich mir gewünscht!«
Sie trug gleich eine dünne Schicht der verbotenen Substanz auf und reichte die Tube dann an Olivia weiter, die es ihr nachtat.
»Nick wird ausflippen, wenn er dich damit sieht«, stellte Rachel fest und betrachtete bewundernd die Farbe.
Mir wurde flau. »Nick? Wer ist Nick?«, fragte ich, um einen unbekümmerten, neugierigen Ton bemüht. Stichwort Girl Talk.
Hannah wandte sich mir mit leuchtenden Augen zu. »Ach, ein Junge an meiner Schule. Ich mag ihn, aber er kennt gerade mal meinen Namen.«
»Von wegen mögen – sie ist total besessen von ihm!«, erläuterte Olivia und reichte den Lipgloss an Rachel weiter. »In der dritten Stunde hat er in der Klasse direkt neben Hannahs Spind Unterricht, deshalb braucht sie immer ewig, um ihre Bücher dafür zu holen.«
Auf meinen fragenden Blick hin senkte Hannah beschämt den Kopf. »Ich glaube, er ist der Richtige
»Der was?« Ich hätte mich beinahe verschluckt.
»Na, du weißt schon. Der Mensch, der für mich bestimmt ist. Mit dem ich mein Leben verbringen werde.«
»So wie Big für Carrie in Sex and the City«, erklärte Rachel, als wäre das Konzept des »Richtigen« etwas völlig Neues, das der breiten Öffentlichkeit erst erläutert werden musste.
»Ihr guckt Sex and the City?«, quiekte ich. Ich hatte unversehens einen Kloß im Hals. Hannah nickte und warf mir einen seltsamen Blick zu, als wollte sie sagen: »Was ist denn in dich gefahren? Du klingst ja wie meine Mutter!«
»Rachels Eltern haben alle Staffeln auf DVD«, informierte mich Olivia. »Wir sehen sie uns an, wenn ihre Mom in der Arbeit ist.«
Plötzlich sah ich die »kein eigener Fernseher bis zu deinem dreizehnten Geburtstag«-Vorschrift meiner Eltern mit ganz neuen Augen.
»Oh«, sagte ich leise, während vor meinem geistigen Auge jede einzelne Sexszene ablief, die in der Serie vorgekommen war. Bei dem Gedanken, dass meine kleine Nichte auch nur eine davon gesehen hatte, drehte sich mir der Magen um.
Ich war hin und her gerissen, einerseits die coole Tante, die ihr illegalen Lipgloss schenkt, andererseits die desillusionierte, verbitterte Treuetesterin, die ihre Nichte am liebsten in ein Nonnenkloster schicken würde, wie Hamlet seine Ophelia. Oder ihr zumindest einschärfen möchte, keinem männlichen Wesen außer dem lieben Gott über den Weg zu trauen. Und selbst dem nur bedingt.
»Jedenfalls ist Nick mein Mr. Big«, fuhr Hannah fort. »Er ist groß und total süß und...«
»Und sehr wahrscheinlich ein Mistkerl«, unterbrach ich sie. »Genau wie jeder andere Mann auf dem Planeten Erde. Glaub’ mir, Hannah. Erst versprechen sie dir das Blaue vom Himmel, und einen Tag später heißt es dann: ›Ach, tut mir leid. Ich bin eben nicht für die Monogamie geschaffen.‹«
Der Lipgloss rollte aus Rachels Hand und landete mit einem leisen »Klonk« auf dem harten Fliesenboden. Schweigen. Die drei starrten mich ungläubig an, Augen und Mund weit aufgerissen. Dann erntete Hannah vorwurfsvolle Blicke von Olivia und Rachel. Hast du nicht behauptet, sie wäre cool?
Hannah musterte mich flehentlich: Ich dachte, du wärst cool.
Olivia beugte sich zu Rachel und flüsterte: »Was ist denn Monogamie?«, worauf diese bloß den Kopf schüttelte, als wollte sie sagen: »Ich weiß es nicht.« Vielleicht aber auch: »Nicht jetzt, die Frau ist verrückt!«
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr, räusperte mich und grinste breit, ehe ich in lautes Hohngelächter ausbrach. Als könnte ich gar nicht fassen, dass die drei tatsächlich auf meine bescheidene Vorstellung hereingefallen waren.
»Ich mach’ doch nur Spaß, Mädels! Kommt schon, guckt nicht so betreten aus der Wäsche.« Damit bückte ich mich und hob den Lipgloss auf, um mir selbst eine besonders dicke Schicht aufzutragen. Wenn sich mit dem klebrigen Zeug doch bloß meine Worte übermalen ließen wie mit Tipp Ex!
Die drei begannen zögerlich zu grinsen, wirkten aber skeptisch. Sie schienen nur auf meinen nächsten Ausbruch zu warten. Hannah musterte mich verstört. Ich klopfte ihr auf die Schulter und erteilte ihr den besten Beziehungstipp, den ich auf Lager hatte: »Zeig ihm deine Gefühle nur nicht zu deutlich. Bleib ganz cool. Männer sind in dieser Hinsicht seltsam – wenn sie merken, dass man sie mag, ist es mit ihrem Interesse vorbei. Tu einfach, als könntest du ihn nicht ausstehen, dann ist er im Nu verrückt nach dir.«
»Im Ernst?« Rachel sah mich an, als hätte ich soeben das elfte Gebot verkündet. Ein neues Gesetz, das in ihrer Welt bislang nicht existiert hatte. Kam in Zukunft bestimmt gleich nach »Du sollst den Serientitel American Idol nicht achtlos aussprechen«.
Ich konnte Hannah nicht davon abhalten, mit Jungs auszugehen. Ich konnte nicht verhindern, dass sie sich verliebte. Aber ich konnte dafür sorgen, dass sie nicht unvorbereitet in den Kampf der Geschlechter zog.
»Im Ernst.« Ich schnappte mir ein paar Papiertücher aus dem Spender. »So, und jetzt wischt euch den Lipgloss ab. Damit dürft ihr euch bei Hannahs Mutter nicht sehen lassen.«
Während die drei im Gänsemarsch die Toilette verließen, fragte ich mich, wie ich meine Nichte künftig auf die Welt da draußen vorbereiten sollte. Meine spontane Vorstellung vorhin war ja nicht besonders gut angekommen. Heute waren es rosa Lipgloss und harmlose Schwärmereien für Mitschüler, und morgen? Und übermorgen? Was kam dann? Hannah war so darauf versessen, erwachsen zu werden. Genau wie ich es gewesen war.
Blieb nur zu hoffen, dass ihre Kindheit nicht auch so abrupt zu Ende ging wie die meine.
Als wir uns dem Tisch näherten, winkte mich meine Mutter zu sich. »Jenny, ich muss mit dir reden.« Wie in Trance ging ich um den Tisch herum und setzte mich neben sie. Jetzt geht’s los. Das Familiendrama, Folge vierhundertdreizehn.
Sie legte mir sanft die Hand auf den Oberschenkel. »Weißt du schon das Neueste von deinem Vater?«
Warum konnte ich nicht einfach die Augen zukneifen und mich in Luft auflösen? Eine Diskussion mit meiner Mutter über meinen Vater war nun wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Aber ich wusste, ich konnte die Augen zukneifen, so lange ich wollte. Wenn ich sie aufmachte, würde meine Mutter immer noch neben mir sitzen, mit einem Fragezeichen im Gesicht.
»Ja, hab ich. Er hat mir auf den Anrufbeantworter gesprochen.« Ich zog ein wenig den Kopf ein in Erwartung des Ausbruches, der Tränenflut, der Aggression, der Schuld, über die nie gesprochen werden würde.
Doch es kam nichts dergleichen.
Stattdessen drückte mir Mom einfach die Hand und fragte: »Und, wie geht es dir damit? Alles okay?«
Höchst ungewöhnlich. Ich musterte sie erstaunt. Ich hatte mir angewöhnt, zu den Treffen mit meiner Mutter eine zusätzliche Packung Taschentücher mitzubringen, weil jedes unweigerlich mit einer Diskussion über meinen Dad endete – sie bekam dann einen Weinkrampf, und ich versuchte, sie zu trösten.
Ich blinzelte ungläubig. »Ja, alles bestens. Ich denke einfach nicht daran.«
Sie runzelte die Stirn. »Das ist nicht unbedingt die gesündeste Art und Weise, damit umzugehen, Jenny.«
»Mom, es geht mir gut. Ehrlich. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.«
Sie seufzte und ließ meine Hand los. »Natürlich mache ich mir deinetwegen Sorgen, Schätzchen. Ganz im Ernst. Allmählich beunruhigt es mich, dass du immer noch allein bist.«
Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln. »Was? Warum?«
»Na, du wirst schließlich nicht jünger. Hat die Tatsache, dass du noch Single bist, vielleicht damit zu tun, dass...«
»Jetzt fängst du auch noch damit an!«, ächzte ich.
»Was soll das heißen, ich auch noch?«
»Vergiss es«, winkte ich rasch ab. »Hör zu, Mom, darüber will ich jetzt wirklich nicht reden. Ich bin nur deswegen allein, weil ich beruflich sehr eingespannt bin und einfach keine Zeit für eine Beziehung habe. Die Liebe kommt später dran.«
Das hörte Mom nicht zum ersten Mal, denn sie konnte es nicht lassen, mich immer wieder auf mein Privatleben anzusprechen. Dass sie allerdings vom Privatleben meines Vaters auf mein nicht existierendes Privatleben zu sprechen gekommen war, stieß mir doch etwas sauer auf.
Sie wirkte enttäuscht. »Nun, wie du weißt, können sich Frauen im Gegensatz zu den Männern nicht den Luxus leisten, die Liebe auf Dauer hintanzustellen. Die biologische Uhr tickt unablässig. Je länger du wartest, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann die Batterie leer ist.«
Ich hob abwehrend die Hand. »Mom, ich weigere mich, jedes Mal dieselbe Unterhaltung mit dir zu führen. Wenn mir der Richtige über den Weg läuft, dann wird es passieren. Ich werde mich ganz sicher nicht mit irgendeinem Kerl einlassen, nur weil meine biologische Uhr tickt.«
Es gab so vieles, das ich ihr gern erzählt hätte. Sophie und Eric, Andrew Thompsons Stewardessen-Manie, Raymond Jacobs Ehering, Rani und der wahre Grund, weshalb mein Date mit Clayton ein Desaster gewesen war.
Aber das war ausgeschlossen.
Ich konnte Mom nicht mein Herz ausschütten. Sie durfte nichts über das Doppelleben erfahren, das ich seit über zwei Jahren führte. Niemand durfte etwas davon wissen.
Meine Familie ahnte nichts von Ashlyns Existenz. Sie wusste nicht, wofür Ashlyn stand, wusste nichts von den Zielen, die sie sich auf die Fahne geschrieben hatte. Dabei war es ironischerweise ebendiese Familie, der Ashlyn überhaupt ihre Existenz verdankte.
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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