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Die Kunst des
Bluffens
Okay, ich geb’s zu.
Rani hatte mir ein, zwei Tipps gegeben. Etwa, dass
Clayton auf Karaoke steht. Sie hatte auch Def Leppard und Family Guy erwähnt, und alle anderen vermeintlichen
Gemeinsamkeiten. Lauter Details, von denen sie angenommen hatte,
dass Clayton sie an einem Mädchen anziehend finden würde, falls er
mit dem Gedanken spielen sollte, fremdzugehen. Einschließlich der
Tatsache, dass dieses Mädchen weiß sein müsste.
Rani wollte nicht, dass ich es wie üblich mit der
schwarzen Karte auf dem Tisch beende. Mit der kalten, harten
Wirklichkeit aus meinem Munde, während ich mir den Sweater
überziehe und meinem Testobjekt einen letzten, langen, mitleidigen
Blick zuwerfe, ehe ich gehe.
Das reichte ihr nicht. Sie wollte es sehen. Wollte
ihn auf frischer Tat ertappen. Wollte ihm ins Gesicht sehen, wenn
ihm klar wurde, was geschehen war. Er sollte wissen, dass sie
Bescheid wusste, dass sie es immer wissen würde.
Das ist nicht die typische Vorgehensweise. Aber
Rani war auch keine typische Auftraggeberin.
Wir hatten uns bei Barnes & Noble in der Third
Street
Promenade in Santa Monica kennengelernt. Auf den ersten Blick
schien es, als wollte sie dort in der Sachbuchabteilung wie ich
ihren Wissensdurst stillen. Doch wie sich herausstellen sollte,
interessierten wir uns für unterschiedliche Themen. Ich beobachtete
sie aus dem Augenwinkel, während ich in der Nische mit den
Ratgebern die zahllosen Titel überflog, die dem Leser jede noch so
tief liegende Angst zu nehmen versprachen. Sie wirkte verloren. Zog
hie und da ein Buch aus dem Regal, blätterte kurz darin, stellte es
seufzend und sichtlich entmutigt wieder zurück. Obwohl sie bloß
eine simple Jogginghose, einen Kapuzensweater und Ugg-Pelzstiefel
trug, war der ganze Raum erfüllt von ihrer exotischen
Schönheit.
Ich näherte mich ihr unauffällig, tat, als wäre ich
auf der Suche nach einem bestimmten Autor, bis ich einen Blick auf
die Werke erhaschen konnte, die sie im Arm hielt.
Seitensprung! So legen Sie ihm
das Handwerk; Woran Sie erkennen, dass Ihr
Mann Sie betrügt; Ist er Ihnen untreu?
Finden Sie es heraus!
Ich sah den Kummer in ihren Augen, als sie jeden
einzelnen Titel durchblätterte. Es war ein Kummer, den diese Bücher
nicht heilen konnten. Ich wusste das, und sie wusste es insgeheim
auch. Aber eine andere Möglichkeit wollte ihr partout nicht
einfallen.
Kein Wunder, dass sie so verloren wirkte.
Ich verspürte tiefstes Mitgefühl mit ihr. In ihrem
makellosen Gesicht zeichneten sich all die schlaflosen Nächte ab,
die sie damit zubrachte, den Menschen, den sie liebte, zu
betrachten. All die Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, die
Antworten, die sie zu erhalten hoffte, am nächsten Morgen … oder am
übernächsten, oder tags darauf. Solange sie nur endlich wieder
schlafen konnte.
»Darf ich dir einen Tipp geben?« Ich deutete auf
das Buch, das sie in der Hand hielt.
Sie hob beschämt den Kopf, als wäre sie von ihrer
Großmutter beim Pornofilmgucken erwischt worden. Dann spiegelte
ihre Miene eine gänzlich unangebrachte Dankbarkeit wider. »Keine
gute Wahl?«, fragte sie mit hoffnungsvoller Stimme. Kein Zweifel –
sie suchte jemanden, der sich auf dem Gebiet auskannte. Und das tat
der Typ an der Infotheke, der an ein Eichhörnchen erinnerte und
dessen Gürtel nicht zu den Schuhen passte, ziemlich sicher
nicht.
Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Kann ich dir
nicht sagen, ich habe es nicht gelesen.«
Rasch nahm sie ein anderes Buch aus dem Regal und
hielt es hoch. »Was ist mit dem hier?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ehrlich gesagt,
habe ich keins von denen gelesen.«
Sie musterte mich verwirrt. Vermutlich hielt sie
mich, meinem absolut normalen Aussehen zum Trotz, für eine dieser
Verrückten, die durch die Straßen von Santa Monica wandern und
wildfremden Menschen ungefragt Beziehungstipps erteilen. »Welchen
Tipp wolltest du mir dann geben?«
Rani war eine meiner »pro bono«-Klientinnen. Ich
verlangte von ihr nicht einen Cent für meine Dienste, hauptsächlich
deshalb, weil sie keinen erübrigen konnte. Sie schob Nachtschichten
bei Starbucks, um sich ihr Jurastudium zu finanzieren.
»Wir sind seit damals auf der Highschool in Iowa
zusammen«, erklärte sie mir, als wir vor einem der Cafés an der
Promenade Platz genommen hatten, um eine Limonade zu trinken. »Es
ist für uns beide die erste Beziehung.«
»Du siehst nicht aus, als wärst du im Mittleren
Westen geboren«, scherzte ich.
Sie lächelte und sah einem Passanten nach, der an
unserem Tisch vorbeiging. »Meine Familie ist aus Indien
eingewandert,
als ich vierzehn war. Mein Dad hat einen Job in der amerikanischen
Zweigstelle seiner Technologiefirma bekommen. Der perfekte Start in
›ein besseres Leben‹. Jedenfalls wurde mir das so verkauft.« Sie
schwieg einen Augenblick nachdenklich. »Ich wollte nicht aus Indien
wegziehen. Dort war ich beliebt, hatte viele Freundinnen. Alle
mochten mich. Die Kinder in Iowa waren richtig gemein. Ständig
haben sie sich über meinen Akzent und mein Aussehen lustig gemacht.
Ich war umzingelt von blonden Haaren und blauen Augen. Das war das gängige Schönheitsideal in Iowa. Nur die
blonden, blauäugigen Kinder hatten Freunde... Beim Mittagessen
ließen mich meine Mitschüler nicht am selben Tisch sitzen, also
habe ich die Pausen in der Bücherei verbracht. Eigentlich war es
verboten, dort zu essen, aber die Bibliothekarin hat ein Auge
zugedrückt.« Sie schmunzelte. »Ich hab ihr wohl leid getan.«
Ich nickte und nippte abwartend an meiner
Limonade.
»Und eines Tages kam Clayton herein. Ich kannte ihn
vom Sehen. Er war im Fußballteam und sah unheimlich gut aus. Ich
dachte, er wollte sich ein Buch holen, aber er kam geradewegs auf
mich zu und setzte sich gegenüber von mir an den Tisch. Er sagte,
er wüsste, dass ich jede Mittagspause in der Bücherei verbringe,
und wollte mal sehen, warum. Ob die Bücherei jetzt der neue
In-Treff sei oder so.«
»Wie süß«, bemerkte ich.
Sie nickte. »So war er immer. Von dem Tag an hat er
immer mit mir in der Bibliothek gegessen. Er hat nie gefragt, warum
ich nicht wie die anderen Schüler in der Cafeteria esse. Musste er
wohl auch nicht.«
Ich war ganz in die Geschichte vertieft. »Und
weiter?«
»Nichts weiter. Seither sind wir zusammen.«
»Warum dann die Bücher? Warum deine Zweifel?«
Sie seufzte, strich sich mit der Hand den
Pferdeschwanz
glatt. »Gerade weil wir seither zusammen
sind. Ich glaube, er will mehr... Er ist neugierig. Er will wissen,
was er verpasst. Ich glaube, er will ein weißes Mädchen.«
Ich hätte beinahe die Limonade wieder ausgespuckt.
»Was? Ist das dein Ernst? Du bist wunderschön! Absolut
atemberaubend! Und er hat dich ausgewählt, aus einem Meer weißer Mädchen... weil
du anders bist. Warum sollte er plötzlich seine Meinung
ändern?«
Sie zuckte die Achseln und schüttelte hilflos den
Kopf. »Keine Ahnung. Ist nur so ein Gefühl. Mir ist aufgefallen,
dass er manchmal anderen Frauen nachsieht. Ich bin einfach nicht
sicher, ob ich dazu bestimmt bin, für immer die Frau an seiner
Seite zu sein. Wie soll man das nach zehn Jahren auch wissen? Und
mal ganz ehrlich – es ist doch utopisch, dass man mit fünfzehn
seinen Seelenverwandten findet.«
Ich presste die Lippen aufeinander und wandte den
Blick ab. »Stimmt«, räumte ich ein.
»Wenn er mich betrügt, dann nicht gleich mit der
Erstbesten, die er in einer Bar aufgegabelt hat, da bin ich sicher.
Er ist nicht der Typ für einen One-Night-Stand. Wenn überhaupt,
wird er die Betreffende näher kennenlernen, mit ihr ausgehen
wollen. Um einfach mal zu sehen, was da draußen sonst noch so
herumläuft.«
Ich nickte und berührte ihre Hand. »Lass mich dir
helfen.«
Sie legte den Kopf schief. »Wie denn?«
»Ich biete einen Spezialservice an. Für Frauen wie
dich. Was du suchst, findest du nicht in irgendwelchen
Büchern.«
Rani hob neugierig eine Augenbraue. Also erzählte
ich ihr von Ashlyn und ihren Machenschaften.
Ihre Reaktion war interessant. Ich bin es nicht
gewohnt, gänzlich Uneingeweihten von meiner Arbeit zu erzählen.
Meine Auftraggeberinnen sind ja meist bis zu einem gewissen
Grad vorbereitet. Schließlich haben sie mich angerufen. So halb rechnete ich damit, dass
Rani entsetzt aufspringen und Reißaus nehmen würde, während ich mit
Limonade begossen auf der Rechnung sitzen blieb. Doch weit gefehlt.
Sie starrte mich an wie ein religiöser Fanatiker eine eben erst
entdeckte uralte Reliquie, ungläubig und voller Zweifel ob ihrer
Echtheit zunächst, und dann mit der verzückten Benommenheit eines
Menschen, dessen Glaube soeben in den Grundfesten erschüttert
wurde.
»Aber ich habe kein Geld, um...«
»Ich möchte dir bloß helfen«, versicherte ich
ihr.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Tränen der
Dankbarkeit, Tränen der Angst, Tränen der Erleichterung, weil sie
endlich die Antworten erhalten würde, nach denen sie schon so lange
suchte.
Und weil sie sich dabei nicht auf ein Buch
verlassen musste.
Ich stand vor der Tür von Ranis und Claytons
Wohnung und lauschte den gedämpften Stimmen drinnen. Die
Auseinandersetzung würde wohl noch eine ganze Weile dauern.
Rani hatte recht. Es ist wirklich ziemlich
utopisch, dass man mit fünfzehn seinen Seelenverwandten findet. Und
doch hätte ich den beiden gern die Daumen gedrückt. Wünschte mir,
dass sie sich zusammenrauften, dass sie diesen Vorfall als Chance
sahen. Als Hürde, die überwunden und aus dem Weg geräumt werden
musste, ehe sie neu durchstarten, ihren gemeinsamen Weg fortsetzen
konnten.
Aber ich habe es mir zur Regel gemacht, niemandem
die Daumen zu drücken. Keine Ausnahmen. Und so legte ich, ehe ich
ging, nur sacht die Hand an die Holztür, um mich von Prinzessin
Rani zu verabschieden.
Tags darauf fuhr ich zum dritten und letzten Mal
zu meinem Pokerunterricht. Nach der Besprechung mit Roger Ireland
vorige Woche hatte ich mir unverzüglich über das Online-Portal
Craigslist einen Lehrer gesucht, der mich für meinen Auftritt in
Las Vegas am Samstag vorbereiten sollte. Angesichts der zurzeit
herrschenden Poker-Manie ein Kinderspiel.
Bei meinem ersten Besuch hatte ich meinem Lehrer
Ethan (er selbst zieht die Bezeichnung »the Cowboy« vor) erklärt,
ich wolle einen Poker-Crashkurs absolvieren, um einen
Geschäftspartner in Vegas zu beeindrucken. Stimmte ja auch. Ethan
war es sichtlich schnurz, aus welchem Grund ich zu ihm kam, solange
mein Scheck gedeckt war und er das Geld auf seinem
Online-Poker-Account deponieren konnte.
»Während der letzten beiden Lektionen haben wir uns
auf Spielregeln und Spielverlauf konzentriert«, setzte er an,
während er geschickt einen Stapel Karten mischte. »Ich habe Ihnen
beigebracht, wie Sie auf der Basis der gesamten Einsätze Ihre
Gewinnchancen berechnen können, und natürlich auch, wie Sie
erraten, was die anderen Spieler in der Hand haben.« Wir saßen in
Ethans Spielkeller, einem regelrechten Mini-Casino mit Porträts
berühmter Spieler an den Wänden und drei professionellen
Pokertischen, die den Raum dominierten. Der Teppich war genauso
grellbunt gemustert wie die Bodebeläge in den Casinos auf dem
Strip.
Ich ergriff die vier Chips, die vor mir lagen, und
begann mit den »Fingerübungen«, die mir Ethan während der letzten
Stunde kurz demonstriert hatte. Genauso hatte ich die Spieler auf
ESPN mit ihren Chips jonglieren sehen, während sie sich ihren
nächsten Schritt überlegten. Wenn ich den Anschein erwecken wollte,
dass ich das Spiel beherrschte, war der Trick mit den Chips genauso
wichtig für meine Glaubwürdigkeit wie die profunde Kenntnis der
Regeln. Und Glaubwürdigkeit
war am Samstag absolut oberstes Gebot, ob
ich das Spiel nun beherrschte oder nicht.
»Heute verleihe ich Ihnen den letzten Schliff«,
fuhr Ethan fort.
»Perfektionieren wir den Chip-Trick?«
»Nein... das Bluffen«, stellte er gewichtig fest.
Er spannte mich gern auf die Folter.
»Ah.«
»Das ist das Schwierigste am Pokern. Aber wenn Sie
das Bluffen erst beherrschen, ist der Rest ein Kinderspiel.«
»Sie bringen mir also das Lügen bei?«, hakte ich
nach.
»Das Täuschen. Ihre
Mitspieler sollen glauben, Sie hätten etwas auf der Hand, obwohl
Sie gar nichts haben – oder umgekehrt«, erwiderte er
blasiert.
»Sag ich doch. Lügen.«
Ethan schnaubte indigniert ob meiner stark
vereinfachten Darstellung dieser faszinierenden Materie. »Ja, so
könnte man es wohl auch nennen. Aber ein Bluff ist viel mehr als
bloß eine unschuldige kleine Lüge. Lügen im Alltag ist keine große
Herausforderung, denn die Menschen haben keinen Grund, Ihnen zu
misstrauen. Beim Pokern dagegen müssen Sie Ihre Mitspieler dazu
bringen, Ihnen zu glauben, obwohl sie allen Grund haben, Ihnen zu
misstrauen. Da erfordert das Bluffen ein besonderes Talent. Es ist
eine richtige Kunst.«
Ich nickte und lächelte vor mich hin. »Ich glaube
kaum, dass das Bluffen ein Problem für mich darstellt.«
Ethan hob angesichts meines Selbstvertrauens eine
Augenbraue, dann klopfte er mit dem Kartenstapel auf den Tisch und
begann mit dem Austeilen. »Okay, Sie Großmaul, dann zeigen Sie mal,
was Sie drauf haben.«
Der Freitagabend kam, und ich war spät dran...
wie immer. Diesmal allerdings nicht zu einem Auftrag, sondern zum
Geburtstagsdinner
meiner Nichte, das in einem Restaurant in Westlake Village
stattfinden sollte. Hastig schlüpfte ich in die Jeans, die Hannah
so toll fand, zog mir ein Top von Baby Phat über, tuschte mir die
Wimpern und machte mich auf den Weg.
Ich fuhr auf die Autobahn auf und reihte mich in
den zähflüssigen Verkehr ein. Die 405 glich wieder einmal eher
einem Parkplatz als einer Straße. Hannahs Eltern und meine Mutter
leben in Thousand Oaks, etwa fünfzig Kilometer nördlich von hier.
In Südkalifornien werden Entfernungen allerdings nicht in
Kilometern oder Meilen angegeben, sondern in der geschätzten
Fahrzeit, und diese hängt von diversen Variablen ab. In erster
Linie von Tageszeit und Wochentag.
Das sind die beiden Faktoren, nach denen ich mich
stets erkundige, wenn mich jemand fragt, wie weit es von A nach B
ist. An einem Dienstag um elf Uhr vormittags beispielsweise dauert
die Fahrt von mir nach Thousand Oaks etwa eine Stunde, an einem
Freitagabend um fünf (wie heute) fast zweieinhalb Stunden. Am
Samstag um zwei Uhr früh dagegen kann ich dieselbe Strecke in
gerade mal fünfundvierzig Minuten zurücklegen (vorausgesetzt, ich
presche mit rücksichtslosen hundertfünfzig Sachen durch die
Gegend).
Ehrlich gesagt, können die meisten Leute in L.A.
mit Meilen- oder Kilometerangaben nicht viel anfangen. Kommt man
ihnen mit »ungefähr acht Kilometer östlich von hier«, dann mustern
sie einen unweigerlich, als käme man vom Mars und fragen: »Okay,
wie lange brauche ich, wenn ich um halb fünf losfahre?«
Es wird ja gemeinhin angenommen, es gäbe auf der
Welt zwei Maßsysteme: einerseits das metrische, das praktisch
überall außer in den USA verwendet wird, und andererseits das
super-nervige, absolut unlogische amerikanische,
das nicht einmal wir Amerikaner so richtig
durchschauen. Tatsächlich allerdings existiert neben diesen beiden
noch ein drittes, nämlich unser südkalifornisches System, auch
»Raum-Zeit-Inkontinuum« genannt.
Und meine RZI-Berechnungen sollten sich auch
diesmal wieder als korrekt entpuppen: Nach etwa zwei Stunden
verließ ich den Freeway und düste über eine Allee in Richtung
Restaurant. Ein Blick auf die Uhr an meinem Armaturenbrett
bestätigte meine Befürchtungen: Ich kam hochoffiziell zu spät. Ich
stieg aufs Gas und bereitete mich seelisch schon mal auf die
Strafpredigt meiner Halbschwester Julia vor. Und just in dem
Augenblick, als ich die Geschwindigkeit drosseln und abbiegen
wollte, sah ich im Rückspiegel auch noch ein Blaulicht aufblitzen.
Na, toll. Das hatte mir gerade noch gefehlt, dass ich mich jetzt
mit einem Vorstadtpolizisten herumärgern konnte, der nichts
Besseres zu tun hatte, als Strafzettel zu verteilen, nur weil mal
jemand drei Stundenkilometer zu schnell gefahren war. Hüstel. Oder
dreißig.
Ich fuhr an den Straßenrand und überlegte
fieberhaft, wie ich aus dieser Zwickmühle am besten wieder
herauskam. Ein Hechtsprung in die Büsche schied vermutlich aus,
wenn ich nicht wollte, dass in den Sechs-Uhr-Nachrichten mein Foto
über den Bildschirm flimmerte. Nein, die psychologische Schiene war
da viel effektiver.
Ich warf einen Blick in den Außenspiegel. Gott sei
Dank, ein männlicher Beamter. Das machte die Sache bedeutend
einfacher. Ich kurbelte das Fenster hinunter, knipste das
Innenlicht an und setzte mich aufrecht hin.
»Guten Abend, Ma’am«, sagte der Polizist und trat
an mein offenes Fenster.
»Miss«, korrigierte ich ihn. Sehr höflich, um zu
signalisieren, dass ich es nicht aus Verärgerung tat, sondern damit
er die Möglichkeit hatte, die richtige Anrede zu verwenden.
»Miss«, wiederholte er mit
unverändert feindseliger Miene. Was hatte der »Cowboy« noch gleich
gesagt? »Beim Bluffen geht es zu gleichen
Teilen darum, etwas vorzuspiegeln, das nicht stimmt, und darum, den
Gegenspieler zu durchschauen.«
Mein derzeitiger Gegenspieler war verheiratet; sein
Ehering glänzte im Schein der Innenleuchte. Ich reichte ihm
Führerschein und Fahrzeugpapiere. Jetzt musste ich nur noch
herausfinden, welche Art von Ehemann ich vor mir hatte – einen, der
seinen Treueschwur ernst nahm, oder eher einen von der Sorte, mit
der ich für gewöhnlich zu tun hatte? Die Tatsache, dass er den Ring
im Dienst trug, wies auf Ersteres hin, aber das genügte
nicht.
Und dann stach mir ein kleiner weißer Fleck auf der
Brusttasche seiner Uniform ins Auge. Er sah aus, als hätte jemand
hastig mit einem feuchten Tuch darübergewischt, aber nicht genügend
Zeit gehabt, ausführlich daran herumzurubbeln.
»Sobald Sie Ihren Gegenspieler
durchschaut haben, können Sie sich eine Strategie
überlegen.«
Officer Kendall, wie mein Gegner seinem
Namensschild zufolge hieß, war glücklich verheiratet – im Moment
jedenfalls. Ich durfte also auf keinen Fall die Verführerin-Karte
ausspielen. Damit würde ich bei ihm auf Granit beißen.
Die meisten Paare, die kürzlich Nachwuchs bekommen
haben (zumindest war er in diesem Fall noch so frisch, dass er auf
Papis Uniform Bäuerchen machte, ehe dieser zur Arbeit aufbrach),
befinden sich in einem Zustand wiederauflebender ehelicher
Glückseligkeit. Sie haben ein neues Leben erschaffen. Officer
Kendall trug seinen Ehering voller Stolz, und er wäre bestimmt
wenig empfänglich für die Reize einer sexy Biene in einem
überteuerten Geländewagen, die dieses Glück gefährden konnte.
Ich musste mir also etwas anderes einfallen
lassen.
Er befestigte meinen Führerschein auf seinem
Klemmbrett
und leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. »Miss Hunter,
ich habe Sie angehalten, weil Sie...«
Ich blinzelte ins Licht. »Ich weiß, ich war zu
schnell. Tut mir schrecklich leid«, sagte ich aufrichtig
zerknirscht. Ohne einen Hauch von Spott.
»Sie haben ganz schön auf die Tube gedrückt«,
stellte er fest und klappte seinen Block mit den Strafzetteln
auf.
Ich legte unauffällig den Kopf schief, um die
Aufschrift auf dem Kugelschreiber zu lesen, den er eben
zückte.
Volltreffer.
Meine Rettung hieß Lex Harrison.
»Sie kommen mir so bekannt vor, Officer. Sind wir
uns schon mal begegnet?«, flötete ich.
»Nein.« Er begann übellaunig, meine Daten auf den
Strafzettel zu übertragen.
Ich tat, als würde ich mir das Hirn zermartern,
während ich aus dem Augenwinkel verfolgte, wie sein Stift über das
Papier glitt. »Jetzt weiß ich’s wieder! Sie sind doch auf der Suche
nach einem neuen Job, nicht? Meine Kollegin ist mit Ihrem Fall
betraut.«
Seine Miene erhellte sich. »Sie kennen Mona
Pietrik?«
»Na, und ob. Ich wusste doch, dass ich Sie neulich
bei Lex Harrison gesehen hab.« Ich kicherte mädchenhaft. »Haben Sie
nicht erst kürzlich Nachwuchs bekommen?«
Er fing an zu strahlen wie ein Weihnachtsbaum. Na,
also. Jetzt hatte ich meine Fahrkarte in die Freiheit. Besser
gesagt, ins Restaurant. Die Puzzleteile passten perfekt zusammen:
Baby, neuer Lebenswandel, und demnächst ein neuer, sicherer Job,
von dem er abends rechtzeitig zum Dinner nach Hause kam – ohne
Schusswunde im Kopf.
»Ja, ganz recht.«
Ich lächelte ihn an, als wären wir alte Bekannte.
»Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Polizist sind.«
Er seufzte. »Hoffentlich nicht mehr lange. Mein
Traumjob ist das hier beileibe nicht.«
»Ich weiß, was Sie meinen – bevor ich bei Lex
Harrison als Berufsberaterin angefangen habe, musste ich in einem
Sportstudio Handtücher aufsammeln. Grauenhaft. Da kommt man abends
nach Hause und stinkt nach dem Schweiß anderer Leute.«
Er lachte herzhaft. »Klingt wirklich grauenhaft.«
»Sie sagen es.« Ich schwieg einen Moment. »Tja, Mona macht ihre
Sache ganz hervorragend. Ich bin sicher, sie findet den perfekten
neuen Job für Sie.«
»Danke.« Er riss den halb ausgestellten Strafzettel
aus dem Block und zerknüllte ihn. »Bestellen Sie ihr doch Grüße von
mir.«
»Aber gern.«
Er reichte mir meinen Führerschein und die Papiere
und klappte mit einem freundlichen Augenzwinkern seinen Block zu.
»Einen schönen Abend noch... und achten Sie in Zukunft ein bisschen
auf Ihre Geschwindigkeit.«
Zehn Minuten später hielt ich auf dem Parkplatz
eines kitschigen Italieners. Als ich das Restaurant betrat, stürmte
sogleich eine schlaksige Gestalt auf mich zu, brüllte meinen Namen
und barg den Kopf in meiner Halsbeuge. Ich umarmte meine Nichte und
strich ihr über die blonden Locken.
»Hallo, Kleines! Alles Gute zum Geburtstag!«
»Danke!« Hannah drückte mich an sich und hopste
dann zum Tisch zurück. Ich folgte ihr. Außer mir waren bereits alle
anwesend. Hannah nahm ihren Ehrenplatz an der Stirnseite ein, Mom
saß gegenüber von ihr. Ich blieb einen Augenblick stehen und gab
vor, die zahlreichen Fotos an den Wänden zu betrachten, als würde
ich mich fragen, ob man die darauf abgebildeten Menschen kennen
sollte.
Tatsächlich versuchte ich bloß, mich für die
Begegnung mit meiner Mutter zu rüsten. Ich befand mich in einer
etwas verzwickten Lage... nicht zum ersten Mal. Ich war nämlich
nicht sicher, ob sie schon von der Verlobung meines Vaters gehört
hatte. Von mir würde sie es jedenfalls nicht erfahren. Falls sie es
allerdings schon wusste, dann wollte ich nicht, dass sie mir in
epischer Breite davon erzählte. Was mein Vater trieb, interessierte
mich nicht im Mindesten; dass er wieder heiraten wollte, war
bereits mehr Information als mir lieb war. Leider gehört meine
Mutter nicht zu den Menschen, die mit ihren Gefühlen hinter dem
Berg halten. Seit der unschönen Scheidung vor zweieinhalb Jahren
war ich unfreiwillig Zeugin zahlreicher Gefühlsausbrüche
gewesen.
Auf derlei konnte ich heute Abend wirklich
verzichten. Mein Leben war schon kompliziert genug, und ich hatte
alle Hände voll damit zu tun, meine eigenen Gefühle im Zaum zu
halten.
Wie ich es in den vergangenen sechzehn Jahren getan
hatte.
Um sie zu beschützen.
Ich deutete auf das gerahmte Schwarz-Weiß-Foto
einer fülligen Lady, die sich zwei Wassermelonen vor die Brüste
hielt, und lächelte. »Ist ja ulkig«, sagte ich und begab mich dann
zu meiner Mutter, um sie auf die Wange zu küssen. »Hi, Mom.«
Sie umarmte mich ungelenk im Sitzen. »Hi, Jenny.
Hast du meine letzte E-Mail bekommen? Die mit dem
Botanik-IQ-Test?«
»Ja, hab ich. Tut mir leid, ich war so im Stress,
dass ich noch nicht dazu gekommen bin, den Test zu machen.« Meine
Mutter hat sich in einen fünfzehnjährigen Web-Junkie verwandelt,
seit sie ein paar Monate zuvor das Internet für sich entdeckt
hatte. Sie verbringt den Großteil ihrer Zeit mit
Online-Persönlichkeitstests, lädt Musik und Fernsehsendungen
herunter, verschickt Fotos und treibt sich bis in die frühen
Morgenstunden in irgendwelchen Chatrooms herum. Vor ein paar Wochen
sagte sie sogar irgendetwas von wegen Instant Messages. Ich kann
und will mir gar nicht vorstellen, dass meine Mutter mit
wildfremden Menschen im ganzen Land ihr Lieblings-Lasagnerezept
austauscht.
Ich wollte mich gerade neben sie setzen, als ich
Hannah von der gegenüberliegenden Seite protestieren hörte.
»Nein! Ich habe dir hier drüben einen Platz
reserviert!«
Puh. Ich wandte mich zu Mom um und zuckte
entschuldigend die Schultern, als wollte ich sagen: »Was soll ich
machen? Sie ist erst zwölf.« Sie lächelte mich an und nickte
zustimmend.
Also ließ ich mich erleichtert zwischen Hannah und
einer ihrer Freundinnen nieder. Dann schämte ich mich. Ich sollte
gern neben meiner Mutter sitzen. Ich sollte
gern jedem einzelnen Detail ihres
Martyriums lauschen. Schließlich ist sie meine Mutter und hat viel
durchgemacht. Zu viel. Trotzdem war ich Hannah gemeinerweise
dankbar für die Sitzordnung. Es geht doch nichts über ein bisschen
Geplauder über Make-up, nervige Lehrer und Mitschülerinnen, die
sich den BH zweifellos mit Socken ausstopfen, weil ihre Brüste
total ungleich aussehen, und eckig obendrein.
Ich bat Hannah um Verzeihung für die Verspätung,
wobei ich bewusst verschwieg, dass ich beinahe einen Strafzettel
wegen Raserei bekommen hätte. Mom würde mich bloß tadeln, weil ich
zu schnell gefahren war und mein Leben riskiert hatte, und der Rest
der Crew würde mir Löcher in den Bauch fragen, um zu erfahren, wie
ich mich herausgeredet hatte. Darauf hatte ich erstens keine Lust,
und zweitens würde es garantiert Misstrauen erregen. Unsere
Jennifer ist doch nicht in der Lage, einen Polizisten zu bezirzen,
damit er ihr eine Strafe erlässt. Und falls doch, warum hat sie es
dann bislang
nicht geschafft, einen Mann dahingehend zu bezirzen, dass er ihr
einen Heiratsantrag macht?
»Wir haben schon mal bestellt; wir wussten ja
nicht, wann du auftauchen würdest«, ätzte Julia, die
Nervensäge.
Ich biss mir auf die Unterlippe und enthielt mich
eines Kommentars. Ich musste meine Kräfte für die unvermeidliche
Inquisition schonen, damit ich mich auch an all meine Schwindeleien
und Ausreden erinnerte. Die kleinste Unstimmigkeit konnte eine
wahre Lawine von Fragen auslösen, und dann musste ich noch mehr
schwindeln, um meine ursprünglichen Schwindeleien zu
untermauern.
Mir war ohnehin unklar, warum Julia darauf bestand,
so viel Zeit mit Mom zu verbringen. Sie entstammte der ersten Ehe meines Vaters, und ihre Mutter lebte
irgendwo weit, weit weg in Connecticut oder so. Hannah sah sie
vielleicht einmal im Jahr. Warum zum Geier feierte Julia den
Geburtstag ihrer Tochter eigentlich nicht mit Dad und dessen neuer
Freundin? Warum hing sie wie eine Klette an meiner Mutter? Als ich
noch klein war, hat sie Mom immer gehasst... und mich erst recht.
Nach ihrer Hochzeit bekamen wir sie kaum je zu Gesicht, aber
kürzlich ist sie aus unerfindlichen Gründen in die Nachbarschaft
meiner Mutter gezogen. Dort wohnt sie nun, keine drei Straßen
entfernt, und tut plötzlich, als wären sie die besten
Freundinnen.
Hannah stellte mich sogleich ihren Freundinnen
Olivia und Rachel vor. Ich begrüßte die beiden freundlich und
wartete dann auf den Beginn der Inquisition, der auch nicht lange
auf sich warten ließ.
»Na, Jen, was gibt es Neues an der romantischen
Front?«
Wie auf ein Stichwort verstummten und erstarrten
sämtliche am Tisch sitzende Personen. Aller Augen ruhten auf mir,
sogar die von Olivia und Rachel, dabei hatten mich die beiden eben
erst kennengelernt.
»Bluffen Sie immer möglichst
glaubhaft. Sehen Sie sich die Karten an, die bereits auf dem Tisch
liegen, und basteln Sie anhand dieser Information eine glaubwürdige
Story.«
»Also, ich bin neulich mit einem Typ aus dem
Fitnessstudio ausgegangen. Er hieß Clayton...«
Prompt strahlte mich reihum einer nach dem anderen
an, wie die Glühbirnen einer Lichterkette, die versetzt zu blinken
beginnen. Julia, ihr Göttergatte, meine Mom, Hannah, ihre beiden
Teenybopper-Freundinnen. Alles wartete. War er das endlich? Konnte
er es sein? Clayton... klingt sympathisch... Wird er womöglich mein
neuer Onkel/Schwager/ Schwiegersohn? Wird er Jen vor der drohenden
Hölle der ewigen Einsamkeit retten? Immerhin ist sie fast
dreißig!
»... und er hat eine Freundin. Ende der
Geschichte.«
Große Enttäuschung allenthalben. Ich hätte beinahe
gelacht. Schon komisch, wie berechenbar sie waren. Wie sie bei der
bloßen Erwähnung eines Männernamens anfingen, zu sabbern.
»So ein Mistkerl!«, echauffierte sich Hannah.
Ich tätschelte ihr die Hand und dankte ihr für
diese tröstliche Ansage.
»Tja«, sagte meine Mutter. »Nächstes Mal hast du
mehr Glück.«
»Genau.« Ich nickte und fügte vorsichtshalber
hinzu: »Er wartet irgendwo da draußen auf mich.« Damit sollte die
Angelegenheit abgehakt sein. Sie ist
optimistisch. Mehr kann man wohl nicht verlangen. Nächstes Thema,
bitte!
»Und wie läuft’s beruflich?«, erkundigte sich
Julias Mann.
Ich zuckte die Achseln. »Och, nicht schlecht. Alles
beim Alten.«
»Hält dich die Bank noch immer so auf Trab?«,
fragte Mom.
Ich nickte und nippte an meinem Eiswasser. »Mehr
denn
je. Ich bin gerade erst aus Denver zurückgekommen, und morgen geht
es auf nach Vegas.«
»Wow, Jen, dein Leben ist echt cool. Ich bin echt
suuuperneidisch!«, sagte Hannah.
Ich setzte ein bescheidenes Lächeln auf und stopfte
mir ein Stück Brot in den Mund, um mir nicht schon wieder auf die
Unterlippe zu beißen. Vielleicht schaffte ich es ja zur
Abwechslung, dass die heutige
Familienzusammenkunft nicht so endete wie die meisten anderen...
mit dem Geschmack meines eigenen Blutes im Mund.
Nach einer Weile begannen Hannah und ihre
Freundinnen herumzuzappeln. Sie stocherten schon seit etwa zehn
Minuten unmotiviert in ihren Spaghetti herum, während Julia meiner
Mom einen Vortrag über ihr aktuelles Wohnzimmerrenovierungsprojekt
hielt. Höchste Zeit für ein bisschen Girl Talk.
»Los, kommt mit«, flüsterte ich Hannah und ihren
Freundinnen zu.
Die drei sprangen aufgeregt von ihren Stühlen
auf.
Kaum hatten wir die Toilette betreten, fischte ich
eine kleine Schachtel aus meiner Handtasche und reichte sie Hannah.
»Sag deiner Mutter aber nicht, dass du das von mir hast.« Ich
blinzelte verschwörerisch.
Ungeduldig riss sie das Geschenkpapier auf. »Ja!«,
rief sie triumphierend und schwenkte den Designer-Lipgloss von
Trish McEvoy, den ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte.
»Genau den hab ich mir gewünscht!«
Sie trug gleich eine dünne Schicht der verbotenen
Substanz auf und reichte die Tube dann an Olivia weiter, die es ihr
nachtat.
»Nick wird ausflippen, wenn er dich damit sieht«,
stellte Rachel fest und betrachtete bewundernd die Farbe.
Mir wurde flau. »Nick? Wer ist Nick?«, fragte ich,
um einen unbekümmerten, neugierigen Ton bemüht. Stichwort Girl
Talk.
Hannah wandte sich mir mit leuchtenden Augen zu.
»Ach, ein Junge an meiner Schule. Ich mag ihn, aber er kennt gerade
mal meinen Namen.«
»Von wegen mögen – sie ist total besessen von
ihm!«, erläuterte Olivia und reichte den Lipgloss an Rachel weiter.
»In der dritten Stunde hat er in der Klasse direkt neben Hannahs
Spind Unterricht, deshalb braucht sie immer ewig, um ihre Bücher dafür zu holen.«
Auf meinen fragenden Blick hin senkte Hannah
beschämt den Kopf. »Ich glaube, er ist der Richtige.«
»Der was?« Ich hätte mich
beinahe verschluckt.
»Na, du weißt schon. Der Mensch, der für mich
bestimmt ist. Mit dem ich mein Leben verbringen werde.«
»So wie Big für Carrie in Sex
and the City«, erklärte Rachel, als wäre das Konzept des
»Richtigen« etwas völlig Neues, das der breiten Öffentlichkeit erst
erläutert werden musste.
»Ihr guckt Sex and the
City?«, quiekte ich. Ich hatte unversehens einen Kloß im Hals.
Hannah nickte und warf mir einen seltsamen Blick zu, als wollte sie
sagen: »Was ist denn in dich gefahren? Du klingst ja wie meine
Mutter!«
»Rachels Eltern haben alle Staffeln auf DVD«,
informierte mich Olivia. »Wir sehen sie uns an, wenn ihre Mom in
der Arbeit ist.«
Plötzlich sah ich die »kein eigener Fernseher bis
zu deinem dreizehnten Geburtstag«-Vorschrift meiner Eltern mit ganz
neuen Augen.
»Oh«, sagte ich leise, während vor meinem geistigen
Auge jede einzelne Sexszene ablief, die in der Serie vorgekommen
war. Bei dem Gedanken, dass meine kleine Nichte auch nur eine davon
gesehen hatte, drehte sich mir der Magen um.
Ich war hin und her gerissen, einerseits die coole
Tante, die ihr illegalen Lipgloss schenkt, andererseits die
desillusionierte, verbitterte Treuetesterin, die ihre Nichte am
liebsten in ein Nonnenkloster schicken würde, wie Hamlet seine
Ophelia. Oder ihr zumindest einschärfen möchte, keinem männlichen
Wesen außer dem lieben Gott über den Weg zu trauen. Und selbst
dem nur bedingt.
»Jedenfalls ist Nick mein Mr. Big«, fuhr Hannah
fort. »Er ist groß und total süß und...«
»Und sehr wahrscheinlich ein Mistkerl«, unterbrach
ich sie. »Genau wie jeder andere Mann auf dem Planeten Erde. Glaub’
mir, Hannah. Erst versprechen sie dir das Blaue vom Himmel, und
einen Tag später heißt es dann: ›Ach, tut mir leid. Ich bin eben
nicht für die Monogamie geschaffen.‹«
Der Lipgloss rollte aus Rachels Hand und landete
mit einem leisen »Klonk« auf dem harten Fliesenboden. Schweigen.
Die drei starrten mich ungläubig an, Augen und Mund weit
aufgerissen. Dann erntete Hannah vorwurfsvolle Blicke von Olivia
und Rachel. Hast du nicht behauptet, sie wäre
cool?
Hannah musterte mich flehentlich: Ich dachte, du wärst cool.
Olivia beugte sich zu Rachel und flüsterte: »Was
ist denn Monogamie?«, worauf diese bloß den Kopf schüttelte, als
wollte sie sagen: »Ich weiß es nicht.« Vielleicht aber auch: »Nicht
jetzt, die Frau ist verrückt!«
Ich strich mir eine Haarsträhne hinters Ohr,
räusperte mich und grinste breit, ehe ich in lautes Hohngelächter
ausbrach. Als könnte ich gar nicht fassen, dass die drei
tatsächlich auf meine bescheidene Vorstellung hereingefallen
waren.
»Ich mach’ doch nur Spaß, Mädels! Kommt schon,
guckt nicht so betreten aus der Wäsche.« Damit bückte ich mich und
hob den Lipgloss auf, um mir selbst eine besonders dicke
Schicht aufzutragen. Wenn sich mit dem klebrigen Zeug doch bloß
meine Worte übermalen ließen wie mit Tipp Ex!
Die drei begannen zögerlich zu grinsen, wirkten
aber skeptisch. Sie schienen nur auf meinen nächsten Ausbruch zu
warten. Hannah musterte mich verstört. Ich klopfte ihr auf die
Schulter und erteilte ihr den besten Beziehungstipp, den ich auf
Lager hatte: »Zeig ihm deine Gefühle nur nicht zu deutlich. Bleib
ganz cool. Männer sind in dieser Hinsicht seltsam – wenn sie
merken, dass man sie mag, ist es mit ihrem Interesse vorbei. Tu
einfach, als könntest du ihn nicht ausstehen, dann ist er im Nu verrückt nach
dir.«
»Im Ernst?« Rachel sah mich an, als hätte ich
soeben das elfte Gebot verkündet. Ein neues Gesetz, das in ihrer
Welt bislang nicht existiert hatte. Kam in Zukunft bestimmt gleich
nach »Du sollst den Serientitel American
Idol nicht achtlos aussprechen«.
Ich konnte Hannah nicht davon abhalten, mit Jungs
auszugehen. Ich konnte nicht verhindern, dass sie sich verliebte.
Aber ich konnte dafür sorgen, dass sie nicht unvorbereitet in den
Kampf der Geschlechter zog.
»Im Ernst.« Ich schnappte mir ein paar Papiertücher
aus dem Spender. »So, und jetzt wischt euch den Lipgloss ab. Damit
dürft ihr euch bei Hannahs Mutter nicht sehen lassen.«
Während die drei im Gänsemarsch die Toilette
verließen, fragte ich mich, wie ich meine Nichte künftig auf die
Welt da draußen vorbereiten sollte. Meine spontane Vorstellung
vorhin war ja nicht besonders gut angekommen. Heute waren es rosa
Lipgloss und harmlose Schwärmereien für Mitschüler, und morgen? Und
übermorgen? Was kam dann? Hannah war so darauf versessen, erwachsen
zu werden. Genau wie ich es gewesen war.
Blieb nur zu hoffen, dass ihre Kindheit nicht auch
so abrupt zu Ende ging wie die meine.
Als wir uns dem Tisch näherten, winkte mich meine
Mutter zu sich. »Jenny, ich muss mit dir reden.« Wie in Trance ging
ich um den Tisch herum und setzte mich neben sie. Jetzt geht’s los.
Das Familiendrama, Folge vierhundertdreizehn.
Sie legte mir sanft die Hand auf den Oberschenkel.
»Weißt du schon das Neueste von deinem Vater?«
Warum konnte ich nicht einfach die Augen zukneifen
und mich in Luft auflösen? Eine Diskussion mit meiner Mutter über
meinen Vater war nun wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn
stand. Aber ich wusste, ich konnte die Augen zukneifen, so lange
ich wollte. Wenn ich sie aufmachte, würde meine Mutter immer noch
neben mir sitzen, mit einem Fragezeichen im Gesicht.
»Ja, hab ich. Er hat mir auf den Anrufbeantworter
gesprochen.« Ich zog ein wenig den Kopf ein in Erwartung des
Ausbruches, der Tränenflut, der Aggression, der Schuld, über die
nie gesprochen werden würde.
Doch es kam nichts dergleichen.
Stattdessen drückte mir Mom einfach die Hand und
fragte: »Und, wie geht es dir damit? Alles okay?«
Höchst ungewöhnlich. Ich musterte sie erstaunt. Ich
hatte mir angewöhnt, zu den Treffen mit meiner Mutter eine
zusätzliche Packung Taschentücher mitzubringen, weil jedes
unweigerlich mit einer Diskussion über meinen Dad endete – sie
bekam dann einen Weinkrampf, und ich versuchte, sie zu
trösten.
Ich blinzelte ungläubig. »Ja, alles bestens. Ich
denke einfach nicht daran.«
Sie runzelte die Stirn. »Das ist nicht unbedingt
die gesündeste Art und Weise, damit umzugehen, Jenny.«
»Mom, es geht mir gut. Ehrlich. Mach dir
meinetwegen keine Sorgen.«
Sie seufzte und ließ meine Hand los. »Natürlich
mache
ich mir deinetwegen Sorgen, Schätzchen. Ganz im Ernst. Allmählich
beunruhigt es mich, dass du immer noch allein bist.«
Jetzt war es an mir, die Stirn zu runzeln. »Was?
Warum?«
»Na, du wirst schließlich nicht jünger. Hat die
Tatsache, dass du noch Single bist, vielleicht damit zu tun,
dass...«
»Jetzt fängst du auch noch damit an!«, ächzte
ich.
»Was soll das heißen, ich auch noch?«
»Vergiss es«, winkte ich rasch ab. »Hör zu, Mom,
darüber will ich jetzt wirklich nicht reden. Ich bin nur deswegen
allein, weil ich beruflich sehr eingespannt bin und einfach keine
Zeit für eine Beziehung habe. Die Liebe kommt später dran.«
Das hörte Mom nicht zum ersten Mal, denn sie konnte
es nicht lassen, mich immer wieder auf mein Privatleben
anzusprechen. Dass sie allerdings vom Privatleben meines Vaters auf
mein nicht existierendes Privatleben zu sprechen gekommen war,
stieß mir doch etwas sauer auf.
Sie wirkte enttäuscht. »Nun, wie du weißt, können
sich Frauen im Gegensatz zu den Männern nicht den Luxus leisten,
die Liebe auf Dauer hintanzustellen. Die biologische Uhr tickt
unablässig. Je länger du wartest, desto höher ist die
Wahrscheinlichkeit, dass irgendwann die Batterie leer ist.«
Ich hob abwehrend die Hand. »Mom, ich weigere mich,
jedes Mal dieselbe Unterhaltung mit dir zu führen. Wenn mir der
Richtige über den Weg läuft, dann wird es passieren. Ich werde mich
ganz sicher nicht mit irgendeinem Kerl einlassen, nur weil meine
biologische Uhr tickt.«
Es gab so vieles, das ich ihr gern erzählt hätte.
Sophie und Eric, Andrew Thompsons Stewardessen-Manie, Raymond
Jacobs Ehering, Rani und der wahre Grund, weshalb mein Date mit
Clayton ein Desaster gewesen war.
Aber das war ausgeschlossen.
Ich konnte Mom nicht mein Herz ausschütten. Sie
durfte nichts über das Doppelleben erfahren, das ich seit über zwei
Jahren führte. Niemand durfte etwas davon wissen.
Meine Familie ahnte nichts von Ashlyns Existenz.
Sie wusste nicht, wofür Ashlyn stand, wusste nichts von den Zielen,
die sie sich auf die Fahne geschrieben hatte. Dabei war es
ironischerweise ebendiese Familie, der Ashlyn überhaupt ihre
Existenz verdankte.