30
Nackte Tatsachen
Jamie küsste mich, sobald wir das Hotelzimmer
betreten hatten. Es war geradezu eine Erleichterung, nachdem wir
während der Taxifahrt beide in Gedanken versunken geschwiegen
hatten. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich mich im Hotel umgehend
bis auf die sexy Unterwäsche ausziehen würde, um diesen verfluchten
Test so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Bestimmt hatte
er sich ein ähnliches Szenario ausgemalt, in dem es ebenfalls um
sexy Unterwäsche ging, und vielleicht sogar um das, was sich
darunter verbarg. Welche Ironie.
Ich bin sicher, er schloss aus meinem Schweigen,
dass ich wegen seiner Ankündigung von vorhin sauer war. Von wegen.
Eine unter Umständen verfrühte Abreise war mit Abstand das
Letzte auf der Liste von Dingen, deretwegen
ich sauer war.
Sein Kuss war leidenschaftlich und zielstrebig, und
er ließ beruhigenderweise nicht den geringsten Zweifel daran
aufkommen, welches Ziel Jamie verfolgte, als er sich an mich
presste und wir auf das Bett fielen.
Siehst du, sagte ich
mir, er ist eben doch ein Ehebrecher. Und
ich hatte mich gefragt, was ich wohl empfinden würde, falls
er sich weigern sollte, mit mir zu schlafen! Die Beule in seiner
Hose machte ziemlich deutlich, dass er weit davon entfernt war,
sich zu weigern.
Er schob ungeduldig den Saum meines Pullis hoch,
unterbrach den Kuss gerade lange genug, um ihn mir über den Kopf zu
ziehen, dann stürzten sich seine Lippen wieder auf meinen Mund, als
hätten wir uns ein Jahr oder noch länger nicht mehr geküsst.
Ich begann, sein Hemd vom Kragen her aufzuknöpfen,
er fing unten an und arbeitete sich nach oben, bis sich unsere
Hände in der Mitte trafen. Als ich ihm das Hemd von den Schultern
streifte, verdrehte er den Oberkörper, um es mir einfacher zu
machen.
Jede Bewegung, jedes Entblößen, jede Berührung
geschah mit einer nicht zu überbietenden Ungeduld. Wir hatten
diesen Augenblick beide so lange herbeigesehnt … wenn auch aus
unterschiedlichen Gründen. Und nun, da er endlich gekommen war,
wollte keiner von uns noch länger unnötig warten. Unsere Kleidung
stellte jetzt lediglich ein Hindernis dar.
Als ich schließlich in BH und Slip dalag, hielt er
inne, wich ein wenig zurück und betrachtete mich bewundernd von
Kopf bis Fuß. Ich spürte seine Blicke wie Liebkosungen auf meinem
Körper. Sie fühlten sich fast genauso herrlich an wie eben noch
seine Hände.
Er lag dicht neben mir, den Kopf aufgestützt, ein
Bein zwischen meinen Schenkeln, und fuhr sacht mit den
Fingerspitzen über meine Brüste. Dann senkte er den Kopf und küsste
die zarten Rundungen, die durch den Push-up-BH perfekt zur Geltung
kamen. Ich legte den Kopf in den Nacken und stöhnte lustvoll
auf.
Beängstigend war nur, dass es ein echtes Stöhnen
war, kein gespieltes.
Wo zum Henker steckte Ashlyn?
Ich war hier ganz auf mich gestellt, und ich schlug
mich nicht gerade heldenhaft.
Alles fühlte sich einfach unglaublich an. Es war
ein absolut unbeschreiblicher Moment.
Jamie rollte sich vorsichtig über mich und küsste
mich erneut. Sein Kuss wurde leidenschaftlicher, seine Erregung
wuchs. Er schmiegte sich an mich, und so wiegten wir uns bei jedem
weiteren Kuss gemächlich vor und zurück.
Mir war, als könnte ich alles mit ansehen, obwohl
ich die Augen geschlossen hielt und auch nicht das geringste
Bedürfnis verspürte, sie je wieder zu öffnen. Jamies Körper auf
meinem, mehr brauchte ich für den Rest meines Lebens nicht zu
fühlen.
Dann wurde ich urplötzlich von Panik erfasst.
Was soll das eigentlich
werden?, fragte ich mich.
Wir standen kurz davor, miteinander zu schlafen,
und ich machte keine Anstalten, etwas dagegen zu unternehmen. Ich
wünschte mir nichts sehnlicher, als dass es geschehen möge. Aber es
durfte nicht geschehen. Sex war absolut
tabu. Meine diesbezüglichen Regeln sind und waren seit jeher sehr
simpel: Ich weise lediglich die »Absicht fremdzugehen« nach. Es
kommt nicht zum Sex. So war es schon immer, und dabei musste es auch bleiben. Alles andere wäre schlicht
und einfach Prostitution gewesen. Ganz recht, Prostitution. Ich musste mir dringend eine sehr
wichtige und ernüchternde Tatsache vor Augen halten: Ich wurde
dafür bezahlt, dass ich hier lag.
Und natürlich, dass ich, falls es doch zum
Äußersten käme, wissentlich mit dem Mann einer anderen schlafen
würde.
Selig die Unwissenden. Wieder wünschte ich mir, ich
könnte eine Pille einnehmen, um zu vergessen, um die Ereignisse der
vergangenen Woche einfach auszulöschen, um die Zeit zurückzudrehen
zu dem unbekümmerten Tag, an dem
ich von der Existenz einer Mrs. Richards
nicht das Geringste geahnt hatte.
Wie schön könnte dann dieser Augenblick sein!
Jamie hielt inne und fuhr mir mit dem Handrücken
über das Gesicht. »Hey«, sagte er zärtlich.
Ich öffnete die Augen und lächelte ihn an. Ein
ehrliches, echtes, authentisches Lächeln. »Ja?«
Er streichelte weiter mein Gesicht, strich mir eine
Haarsträhne hinters Ohr. »Ich kann selbst nicht glauben, was ich
gleich sagen werde, aber … vielleicht sollten wir lieber
aufhören.«
Ich riss die Augen auf und starrte ihn verblüfft
an. »Warum? Was ist los?«
»Nichts«, antwortete er hastig. »Ich …« Er
verstummte und rollte sich auf den Rücken. »Ich bin bloß nicht
sicher, ob wir dafür schon bereit sind.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Eine
Zurückweisung war auf jeden Fall eine ungewohnte Erfahrung für
mich, dabei bin ich im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen sehr
froh über Zurückweisungen. Aber diese Zurückweisung stürzte meine
Gefühle ins Chaos. Warum wollte er nicht weitermachen? Lag es an
mir? Oder war meine Unterwäsche nicht sexy genug? Pushte der
Push-up-BH nicht genügend? Was zum Teufel war los?
»Es hat sich aber definitiv so angefühlt, als wärst du bereit«, scherzte ich, um
mir nicht anmerken zu lassen, dass ich gekränkt war.
Er lachte. »Kein Wunder. Du bist unwahrscheinlich
sexy.«
»Aber du willst nicht mit mir schlafen«, erinnerte
ich ihn unverblümt.
Er ergriff meine Hand. »Doch, glaub mir, das will
ich. Bitte nimm es mir nicht übel. Ich bin nur nicht sicher, ob wir
es … jetzt schon tun sollten.«
Ich nickte verunsichert. »Okay.«
Er rollte sich auf den Rücken und starrte an die
Decke. »Wie schwul ist das denn.«
Ich lachte leise. »Gar nicht. Einer meiner besten
Freunde ist schwul, und ihr seid so verschieden wie Tag und
Nacht.«
Jetzt lachte er. »Danke. Werde ich im Hinterkopf
behalten.«
Ich musterte ihn, während er an die Decke starrte.
Er wirkte … aufgewühlt.
»Ist alles in Ordnung?«
Er drehte sich zu mir und seufzte. »Ja, alles
bestens. Tut mir leid, Süße. Ich bin bloß ein bisschen …
gestresst.«
Ich nahm seine Hand und küsste sie. »Das verstehe
ich.«
Dann setzte ich mich auf und glitt vom Bett. »Tja,
dann mache ich mich mal bettfertig.« Ich durchquerte die geräumige
Suite, ging ins Bad und schloss die Tür hinter mir. Dort stand ich
eine Minute in der Dunkelheit, aus Angst davor, das Licht
anzuknipsen. Aus Angst vor dem, was es enthüllen würde. Und was
diese Offenbarung bedeuten würde.
Langsam streckte ich die Hand aus, betätigte den
Lichtschalter und betrachtete mich eingehend im Spiegel. Meine
Miene war unmissverständlich.
Ich strahlte übers ganze Gesicht.
Jede andere Frau wäre in dieser Situation
garantiert verwirrt, verletzt, gekränkt gewesen, doch für mich war
Jamies Zurückweisung das schönste Geschenk, das er mir hatte machen
können. Denn ich kannte seine Gründe, und es waren triftige
Gründe.
Dann fiel mir wieder ein, was er genau gesagt
hatte: »Ich bin nicht sicher, dass wir es … jetzt schon tun sollten.«
Was meinte er mit »jetzt schon«?
Hieß das, er wollte bis morgen warten? Oder bis
übermorgen? Wann hatte das Warten ein Ende? Wann sollten wir
es seiner Ansicht nach tun? Würde sich dieser Auftrag noch eine
Woche hinziehen? Oder einen Monat? Ein Jahr? Bis er endlich bereit
war, seine Frau zu betrügen?
Gerade hatte ich mich noch über seine Zurückweisung
gefreut, doch jetzt kamen mir Zweifel. Was, wenn sich dadurch bloß
dieser verdammte Auftrag auf unbestimmte Zeit verlängerte?
Bedeutete es womöglich nur, dass meine Arbeit hier noch nicht
beendet war?
»Hey, Jen«, drang Jamies Stimme durch die
Tür.
»Ja?«, erwiderte ich, unfähig, mich vom Anblick
meines verwirrten Spiegelbilds loszureißen.
»Ich gehe mal kurz runter zum Empfang. Ich glaube,
ich habe meine Kreditkarte dort liegen lassen. Soll ich dir
irgendetwas mitbringen?«
»Nein, danke. Ich habe alles, was ich
brauche.«
Ich drehte den Hahn auf und wartete ab, bis das
Wasser heiß war. Dann machte ich mir das Gesicht nass, entnahm dem
Seifenspender einen Klecks Flüssigseife und verteilte ihn auf der
Haut.
»Ich finde meinen Schlüssel nicht«, rief Jamie
durch die Tür. »Kann ich mir deinen borgen?«
»Klar«, antwortete ich mit geschlossenen Augen, das
Gesicht voller Seifenschaum. »Ist in meiner Handtasche.«
»Okay, danke!«
Ich spülte mir den Schaum vom Gesicht, trocknete
mich mit einem flauschig weichen Hotel-Ritz-Handtuch ab, kramte in
der Kosmetiktasche nach der Zahnbürste und putzte mir rasch die
Zähne. Ausnahmsweise die verkürzte Version. Dann knipste ich mit
einem tiefen Seufzer das Licht aus und öffnete die Tür.
Beim Verlassen des Badezimmers fiel mein Blick
sogleich auf das weiß lackierte Rokokobett mit den goldenen
Verzierungen. Die Laken waren zerwühlt. Der Gedanke an unsere
französische Beinahe-Affäre und seine
unerklärliche Zurückweisung stürzte mich erneut in Verwirrung. Wenn
ich das Rätsel doch nur lösen könnte! Aber ich hatte keine Ahnung,
wie ich das anstellen sollte.
Dann sah ich Jamie reglos im Zimmer stehen, mit
seinem Telefon in der Hand. Er schien angestrengt zu lauschen. Der
merkwürdige Ausdruck in seinen Augen konnte am ehesten mit
bitterster Enttäuschung beschrieben werden. Welche Nachricht auch
immer da gerade durch die Leitung kam, es war keine gute. Ganz im
Gegenteil.
Erst jetzt fiel mir auf, was er in der anderen Hand hielt.
Meine schwarze Karte. Die ich wohlweislich ins
sichere Seitenfach meiner Handtasche gesteckt hatte und die er nur
zu Gesicht bekommen sollte, sofern – und vor allem nachdem – er den Test nicht bestanden hatte.
Selbst aus gut sechs Metern Entfernung konnte ich
deutlich das verschnörkelte rote A auf
schwarzem Grund erkennen. Es glühte richtiggehend in der nur vom
Mondschein erhellten Suite. Wie ein Scheinwerfer.
Es brannte mir förmlich ein Loch in die Iris.
Denselben Effekt musste der scharlachrote Buchstabe gehabt haben,
den sich Hester Prynne aus dem gleichnamigen Buch von Nathaniel
Hawthorne auf die Kleider hatte nähen müssen.
Ich blieb wie angewurzelt stehen. Unsere Blicke
kreuzten sich, und wir starrten uns minutenlang an. In seinen Augen
spiegelten sich Traurigkeit und Verletztheit ob des erlebten
Verrates. Es brach mir schier das Herz.
Ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu
lassen, ließ er das Telefon sinken und klappte es zu. Das Geräusch
hallte durch den Raum wie ein Schuss.
So standen wir uns eine Ewigkeit gegenüber und
maßen uns mit Blicken. Stumme Fragen und Anschuldigungen flogen
zwischen uns hin und her wie unsichtbare Schallwellen.
Jamie machte als Erster den Mund auf.
»Du hast mich reingelegt?«, fragte er leise, ohne
einen Hauch von Wut in der Stimme. Dafür klang er verletzt.
Verletzt, verwirrt und zutiefst gekränkt. »Es war eine
Falle?«
Ich schloss die Augen und suchte krampfhaft nach
den passenden Worten, bis mir klar wurde, dass es keine gab. Für
Situationen wie diese gibt es kein Protokoll, keine vorgefertigten
Reden. »Jamie, ich …«
»Von Anfang an!«, rief er, jetzt doch aufgebracht.
»Von Anfang an, verdammt noch mal!?«
»Nein!«, schrie ich verzweifelt. »Nicht von Anfang
an. Erst vor ein paar Tagen …«
»Das machst du also
beruflich, ja? Du versuchst, Männer in die Falle zu locken?«
Ich schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf.
»Bei dir war es anders! Am Anfang hatte es nichts mit einem
Treuetest zu tun. Ich wollte dir sogar davon erzählen. Ich hatte
mich gerade dazu durchgerungen, da …«
»Der Kerl damals im Sushi-Restaurant, der wollte
mich vor dir warnen. Und ich Idiot hab dich auch noch verteidigt!«
Er ließ Handy und Karte fallen. Das Telefon schlug mit einem
dumpfen Plumps auf dem Boden auf, die Karte segelte anmutig
hinterher und landete, sehr passend, mit dem A nach oben auf dem Teppich. »Du hast mich
angelogen!«
»Ich?«, schrie ich aufgebracht. »Du bist hier der Lügner! Muss ich dich etwa daran
erinnern, dass du verheiratet bist, du Mistkerl? Es sieht ganz
danach aus, denn du scheinst es völlig vergessen zu haben. Du hast
es nämlich bis heute mit keinem Wort
erwähnt!«
»Ja, und meine Frau hat dich engagiert! Damit du
mir vorgaukelst, dass du dich genauso Hals über Kopf in mich
verliebst wie ich in dich.«
»Das hab ich dir nicht vorgegaukelt, Jamie!«,
flehte ich.
Doch er wollte nicht zuhören. Er glaubte nur, was
er glauben wollte. Ich tat im Grunde ja dasselbe.
»Fliegst du mit jedem dieser Typen nach Paris?«,
ätzte er. »Oder war ich der einzige Trottel, der dich eingeladen
hat, mitzukommen? In deiner Branche kommt man bestimmt ganz schön
rum! Nicht von schlechten Eltern, diese ›Zusatzleistungen‹.
Wahrscheinlich hast du von jedem anderen auch eine Flugzeugtüte
bekommen.«
Mir strömten die Tränen übers Gesicht, aber das war
mir egal. Ich wischte sie nicht einmal weg, machte bloß einen Satz
auf ihn zu, als hätte ich vor, ihn mit einer meiner
Selbstverteidigungstechniken zu Boden zu reißen. Doch ich hatte es
auf meine Tasche abgesehen. Hastig schwang ich sie mir über die
Schulter, dann bückte ich mich, um die schwarze Karte vom Boden
aufzuheben.
Ich streckte sie ihm hin. »Du hast da was
verloren.«
Jamie riss abwehrend die Arme in die Höhe. »Dieses
Ding fasse ich nicht an.«
»Okay!«, brüllte ich und knallte die Karte auf den
Nachttisch. »Dann lege ich sie da hin, wo ich sie immer hinlege.«
Damit stürmte ich zur Tür. »Weil du nämlich keinen Deut besser bist als all die anderen
Schweine, die ihre Frauen betrügen.«
Ich riss die Tür auf und trat in den Korridor
hinaus. Dort blickte ich unwillkürlich noch ein letztes Mal zurück,
obwohl ich wusste, dass es keine gute Idee war. Aber ich wollte
sein Gesicht sehen.
Er stand mit gesenktem Kopf da und starrte auf den
Boden. Die Schlacht war vorüber. Übrig blieb ein Trümmerfeld. Er
schien die Nachwirkungen körperlich spüren zu können. Sie
umzingelten ihn. Er wich langsam zurück, bis er mit den Kniekehlen
an einen der antiken Ludwig-XV-Lehnsessel stieß und darauf
niedersank.
»Ich habe niemanden
betrogen«, sagte er leise, nur für den Fall, dass ihm jemand
zuhörte.
Doch das tat ich nicht.
Stattdessen knallte ich die Tür hinter mir
zu.
Erst als ich in der Lobby aus dem Aufzug trat, fiel
mir auf, dass ich nicht mehr am Leib hatte als meine Unterwäsche.
Und eine Dior-Handtasche, die zwar modisch der letzte Schrei war,
aber nicht von meinem spärlich verhüllten Körper ablenken konnte,
wie mir die neugierigen Blicke einiger Gäste und die höflich
abgewendeten Blicke einiger Angestellter bewiesen. Ich sah an mir
herunter, beschloss jedoch, dass die fehlende Überbekleidung im
Augenblick mein geringstes Problem war. Deshalb verzichtete ich
auch darauf, mir in Panik die Hände vor diverse Körperteile zu
halten, wie das in Filmen oft der Fall ist, wenn sich eine leicht
bekleidete Frau plötzlich mit der Öffentlichkeit konfrontiert
sieht. Stattdessen schritt ich hoch erhobenen Hauptes zielstrebig
zum Empfang. Wenigstens trug ich den zum Höschen passenden
BH.
»Ich brauche ein anderes Zimmer«, verkündete ich
entschlossen.
Der Mann hinter der Theke verzog keine Miene. Als
Angestellter des Ritz in Paris erlebt man vermutlich so einiges. Da
waren verheulte junge Frauen in Reizwäsche, die ein anderes Zimmer
verlangten, höchstwahrscheinlich an der Tagesordnung.
»Tut mir leid, Mademoiselle, aber wir sind heute
komplett ausgebucht.«
Ich stöhnte auf. Das hatte
ich so nicht geplant. Und genau deshalb
reserviere ich normalerweise. Dass ich es diesmal nicht getan
hatte, lag bloß an meinem unverbesserlichen, blinden, idiotischen
Optimismus. Ich hatte einfach gehofft, Jamie würde den Test
bestehen, sodass ich nicht mitten in der
Nacht in ein anderes Zimmer umziehen müsste. Mit diesem Szenario
hatte ich nicht gerechnet.
»Sie müssen etwas für mich
haben. Eine Suite, einen Kleiderschrank – ich nehme, was immer Sie
mir geben können. Es ist auch nur für eine Nacht; morgen früh reise
ich ab.«
Der Hotelangestellte sah auf die Uhr und warf mir
einen mitfühlenden Blick zu. »Nun, wir warten noch auf die Ankunft
eines Gastes, der ein Zimmer reserviert hat …«
»Das nehme ich!«, stieß ich sogleich hervor.
Er lächelte höflich, als wollte er sagen: »Wenn Sie
mich bitte ausreden lassen würden …«
»Verzeihung.«
»… aber vor dreiundzwanzig Uhr kann ich das Zimmer
leider nicht an einen anderen Gast vergeben.«
Ich sah mich suchend um. Gab es hier denn keine
Uhren? »Wie spät ist es denn jetzt?«
»Zweiundzwanzig Uhr, Mademoiselle.«
Ich musterte ihn ungläubig. »Erwarten Sie von mir
etwa, dass ich in diesem Aufzug eine Stunde
hier herumsitze?«
Erst jetzt schien der Rezeptionist bewusst davon
Notiz zu nehmen, dass meine Bekleidung nicht ganz dem
Ritz-Dresscode entsprach. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er
hatte sich aber gleich wieder unter Kontrolle und räusperte sich.
»Natürlich nicht, Mademoiselle.«
Puh. Ich kramte in meiner Handtasche nach dem
Portemonnaie, um ihm meine Kreditkarte zu geben, da sagte er doch
glatt: »Sie können natürlich gern in der Bar warten.«
Ich erstarrte und sah zu ihm hoch. Nicht die Spur
eines Lächelns. »Soll das ein Scherz sein?«
»Tut mir schrecklich leid, aber ich darf das Zimmer
nicht vor elf vergeben. Wenn Sie so freundlich wären, so lange in
der Bar zu warten, dann gebe ich Ihnen Bescheid, sobald ich es
Ihnen zur Verfügung stellen kann.«
Mit einem Grunzen schob ich mein Portemonnaie in
die Handtasche. »Also gut«, erwiderte ich so freundlich es mit
zusammengebissenen Zähnen ging, »ich bin dann in der Bar.«
Ich machte auf dem Absatz, äh, auf der nackten
Ferse kehrt und marschierte barfuss durch die Lobby.
Niemand schien von mir Notiz zu nehmen, als ich
die berühmte Hemingway Bar des Ritz Paris betrat. Unbemerkt ließ
ich mich an einem der hinteren Tische nieder und dankte Gott dafür,
dass ich mich nicht für einen Stringtanga entschieden hatte.
Ich bestellte einen Wodka auf Eis. Als die
Kellnerin sich abwandte, hielt ich sie zurück und sagte: »Wissen
Sie was? Bringen Sie mir gleich zwei. Das spart uns beiden
Zeit.«
»Zwei?«, vernahm ich eine Männerstimme mit
amerikanischem Akzent. Ich hob den Kopf in der Hoffnung, es wäre
Jamie.
Doch vor mir stand ein groß gewachsener Fremder mit
einem Drink in der Hand. Er lächelte mich an und ließ die braune
Flüssigkeit und die Eiswürfel in seinem Glas kreisen.
Rasch wandte ich den Blick ab und verdrehte die
Augen.
»Darf ich?«, fragte der Kerl und setzte sich, ohne
meine Antwort abzuwarten.
»Das ist jetzt kein guter Zeitpunkt«, warnte ich
ihn.
»Eine Landsmännin«, sagte er, ohne auf meine
Bemerkung einzugehen, und stellte sein Glas auf dem Tisch ab.
»Ganz recht«, erwiderte ich frostig.
»Läuft wohl gerade nicht besonders, wie?«, fragte
er mit so viel falschem Mitgefühl, dass ich beinahe ein lautes,
sarkastisches Lachen hervorgestoßen hätte.
»Hören Sie, mir steht wirklich nicht der Sinn nach
Gesellschaft, wenn Sie mich also …«
»Ich könnte dafür sorgen, dass sich Ihre Laune
hebt«, unterbrach er mich.
Ich starrte ihn skeptisch an. »Und wie, wenn ich
fragen darf?«
Er blickte nach rechts und links, dann beugte er
sich zu mir. »Ich kann gern … einspringen.« Sein Atem roch nach
Whiskey.
Ich wich zurück, um nicht noch einmal in den Genuss
seiner Fahne zu kommen. »Was zum Teufel wollen Sie damit
sagen?«
Der Kerl schenkte mir ein geduldiges Lächeln. »Ich
will sagen, ich wäre bereit, das Doppelte zu bezahlen. Oder sogar
das Dreifache.«
Ich sah an mir herunter. Jetzt war mir alles klar.
Obwohl es nicht zum ersten Mal vorkam, dass ich für eine Nutte
gehalten wurde, verdrehte ich genervt die Augen und rief
unüberhörbar: »Ich bin doch kein Callgirl!« Sämtliche Gäste wandten
sich um und starrten uns an.
Was mich in diesem Augenblick völlig kalt ließ.
Jetzt war ohnehin schon alles egal. Da konnte ich auch in schwarzen
Spitzendessous in einer der nobelsten Hotelbars von ganz Paris
sitzen und lauthals kundtun, dass man mich gerade für eine
Prostituierte gehalten hatte – nicht ganz ohne Grund. Wenn es doch
nur schon elf Uhr gewesen wäre, damit ich in mein weiches weißes
Hotelbett steigen und mich in den Schlaf weinen konnte.
War das denn zu viel verlangt?
Der Mann starrte mich entsetzt an, dann sprang er
ohne ein weiteres Wort auf und stürzte hinaus.
Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme
vor der Brust. Was für ein toller Abend.
»Ich dachte, damit wäre Ihnen vielleicht etwas
wohler, Mademoiselle.« Wie aus dem Nichts war der Angestellte
vom Empfang vor mir aufgetaucht. An seinem Zeigefinger baumelte
ein weißer Bademantel.
Ich lächelte und bedankte mich freundlich. Er nahm
es mit schief gelegtem Kopf zur Kenntnis. »Gern geschehen.«
In den Bademantel gehüllt, fühlte ich mich gleich
viel wohler. Ich drapierte die Arme rechts und links über die
Rückenlehne und legte den Kopf in den Nacken.
Da kam auch schon die Bedienung mit meinen beiden
Drinks, nahm den Fünfzigeuroschein entgegen, den ich ihr reichte,
und zog postwendend wieder ab. Ich kippte den ersten Drink wie
einen Schnaps auf ex, dann lehnte ich mich zurück, starrte auf das
andere, noch volle Glas in meinen Händen und wartete darauf, dass
der Alkohol seine heilende Wirkung entfaltete.
Als der Angestellte vom Empfang um elf erneut die
Bar betrat, hielt ich mich noch immer an meinem unberührten zweiten
Drink fest und stierte wie in Trance auf die spiegelglatte
Oberfläche der klaren Flüssigkeit.
»Mademoiselle?« Ich zuckte zusammen, sodass ich
etwas Wodka auf meine Hand und den Hotelbademantel
verschüttete.
»Ja?«, sagte ich gespannt und leckte mir den Wodka
von den Fingern.
»Das Zimmer, das Sie haben wollten, steht Ihnen nun
zur Verfügung.«
»Gott sei Dank!«, stieß ich hervor und sprang auf.
Ich leerte auch mein zweites Glas in einem Zug, schnappte mir meine
Tasche und marschierte aus der Bar, an dem Angestellten vorbei, der
meinen mangelnden Respekt vor französischem Spitzenwodka
offensichtlich unerhört fand.
Kaum war ich in meinem neuen Zimmer, plünderte
ich die Minibar. Ich hatte den Hotelpagen auf Jamies Zimmer
geschickt,
um meine Sachen zu holen, und bis endlich das ersehnte Klopfen an
der Tür ertönte, hatte ich bereits drei Miniflaschen
Grey-Goose-Wodka geleert. In meinen Augen zurzeit eines der besten
französischen Exportgüter.
Ich öffnete dem Pagen die Tür und sah zu, wie er
mein Gepäck vor dem Schrank abstellte.
»Haben Sie irgendwelche Nachrichten für mich?«,
fragte ich hoffnungsvoll.
Er wirkte verwirrt. »Naschrischten, Madame?«,
wiederholte er mit starkem französischem Akzent.
»Von dem Herrn im anderen Zimmer. Hat er mir
irgendetwas ausrichten lassen?«
Er schüttelte den Kopf. »Non, Madame, das Simmer
war leer.«
»Leer?«, fragte ich ungläubig und machte einen
Schritt auf ihn zu. »Sie meinen, es war niemand dort?«
Er fühlte sich sichtlich unwohl in Gegenwart dieser
verzweifelten, angesäuselten Amerikanerin, die ihm hier so auf den
Pelz rückte.
»Niemand. Und … nischts«, sagte er vorsichtig und
schüttelte den Kopf.
»Wie, nichts?« Meine Stimme war rau vor
Angst.
»Äh, leer?«, wiederholte er erneut und fügte dann
sicherheitshalber auf Französisch »vide«
hinzu, als wäre er nicht sicher, ob er das
richtige englische Wort verwendet hatte.
Vide. Leer. Ich kannte
beide Worte, in beiden Sprachen. Sie bedeuteten dasselbe: Jamie war
weg. Verschwunden. Weiß der Himmel, wohin. Und er hatte alles
mitgenommen bis auf meine Sachen.
Prompt stiegen mir wieder die Tränen in die Augen.
Ich trat einen Schritt zurück und murmelte »Merci beaucoup«, worauf sich der einschüchterte
Page erleichtert zum Gehen wandte.
»Je vous en prie«,
erwiderte er mit einer angedeuteten Verbeugung, während er
rücklings hinausging und die Tür hinter sich zuzog.
Ich fegte die leeren Fläschchen achtlos zur Seite,
ließ mich mit dem Gesicht voran auf das Bett plumpsen und begann
hemmungslos zu weinen. Nach einer Weile schlug ich die Tagesdecke
zurück. Komm zu uns, Jen, schienen die
schneeweißen Laken darunter zu locken. Herrlich warm und flauschig
weich, verhießen sie mir die Geborgenheit, die ich in Hotelbetten
immer empfinde.
Also schlüpfte ich unter die Decke, drückte eines
der Kissen an mich und schloss die Augen. Ich versuchte, zu
meditieren, dachte an weit entfernte malerische Orte, grüne Wiesen
und blauen Himmel.
Doch alles, was ich spürte, war die kalte,
erbarmungslose Dunkelheit.