12
Michelangelo & Co.
Als ich die Hotelzimmertür hinter mir schloss, wusste ich, es würde nicht lange dauern, bis Parker Colman die schwarze Karte fand, die ich ihm auf der Kommode hinterlassen hatte. Eine kleine Erinnerung an die vorangegangenen Ereignisse. Ein Souvenir, wenn man so will.
Die Sache mit der Karte regle ich je nach Laune. Manchmal überreiche ich sie persönlich, nachdem ich das Testobjekt über die Prozedur aufgeklärt habe. Zack, bumm! Gelegentlich deponiere ich sie auch wortlos auf dem Fernseher oder auf dem Nachttisch, ehe ich gehe. Oder ich schiebe sie unter der Tür durch, um dann auf rätselhafte Weise spurlos in der Nacht zu entschwinden, damit es meinem Testobjekt so vorkommt, als wäre ich lediglich eine Ausgeburt seiner Fantasie gewesen.
008
In diesem Fall hatte ich beschlossen, Parker die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, zumal sich keine günstige Gelegenheit ergeben hatte, mich hinauszuschleichen. Ich hatte seine Hand festgehalten, als er sie unter mein Kleid gleiten ließ, hatte ihm geradewegs in die Augen gesehen und ihm verkündet, dass er mir auf den Leim gegangen war und beim Treuetest mit der Note Ungenügend abgeschnitten hatte.
Dann hatte ich meine Tasche genommen und die Fliege gemacht. In seiner Überraschung hatte er wahrscheinlich gar nicht registriert, dass ich ihm ein kleines Andenken hinterließ. Tja. Das war garantiert die schlechteste Karte, die er in letzter Zeit bekommen hatte.
Ich ließ mich von den bunten Mustern auf dem Teppichboden hypnotisieren, während ich den langen Korridor entlang zum Fahrstuhl marschierte. Dort drückte ich den Knopf, um den Lift zu holen, und atmete tief durch.
Wie gut, dass ich das hinter mir habe, dachte ich und sah auf die Uhr. Viertel nach zwei. Vergleichsweise früh für Las Vegas.
Die Aufzugtüren öffneten sich. Ich trat ein, ließ den Blick über die geradezu erschreckend lange Reihe von Knöpfen gleiten und drückte die 23. Während sich die Türen langsam schlossen, lehnte ich mich an die Rückwand des Fahrstuhls und dachte an die Suite, die in der dreiundzwanzigsten Etage meiner harrte, an die weißen Baumwolllaken, die weichen Kissen, die...
Da erschien jäh eine Hand im Spalt zwischen den fast schon geschlossenen Metalltüren und entging mit knapper Not einer Amputation. Ich fuhr zusammen. Mist, und ich hatte mich schon auf eine ruhige Fahrt gefreut. Auf ein Rudel besoffener Mittzwanziger, die herumtorkeln und wie hyperaktive Schulkinder sämtliche Knöpfe drücken würden – oder, schlimmer noch, eine weitere Junggesellenparty-Truppe, konnte ich jetzt wirklich verzichten.
009
Doch als die Türen auseinanderglitten, stand auf der anderen Seite nur eine einzige Person, und die wirkte stocknüchtern.
Und ziemlich sauer.
Parker Colman.
Schluck. Ich überlegte fieberhaft. Wo war ich sicherer, in einer fünf Quadratmeter großen Fahrstuhlkabine mit einem rot leuchtenden Notruf-Knopf, oder in einem langen Hotelkorridor mit reihenweise Türen, an die ich hämmern konnte? Wohl eher Letzteres.
»Wir müssen uns unterhalten«, stellte Parker fest, die Hände zwischen die Aufzugtüren gestemmt.
Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren. Ich sah ihm direkt in die Augen, wandte denselben »Ich habe keine Angst vor dir«-Blick an wie vor ein paar Stunden am Pokertisch. Tatsächlich aber war mir längst nicht mehr so heroisch zumute.
Ich sagte nichts. Schweigen ist bekanntlich Gold.
»Ich liebe Lauren. Wir heiraten in drei Wochen, und das lasse ich mir nicht von dir und deinem scheiß Treuedingsbums – wie auch immer du es nennst – ruinieren.«
»Daran hättest du vielleicht denken sollen, bevor du versucht hast, mir in den Schritt zu fassen«, konterte ich und bereute es sofort. Im Umgang mit einem wutentbrannten Ehemann oder, in diesem Fall, Verlobten, ist es das Klügste, den Mund zu halten und keinesfalls etwas zu sagen, das ihn noch mehr in Rage bringen könnte.
»Das ist mein Junggesellenabschied!«, bellte er, als könnte mich das dazu bewegen, die Angelegenheit einfach zu vergessen.
»Ich fürchte, dafür hat mein Klient wenig Verständnis«, erwiderte ich kühl.
Parker schnaubte. »Lauren würde mir das nie und nimmer antun. Sie würde nie jemanden engagieren, der mir eine Falle stellt. Da steckt doch ihr Vater dahinter. Er hat dich engagiert, nicht wahr?«
Ich antwortete nicht.
»Roger Ireland ist ein verbohrter alter Knacker, dem kein Mann je gut genug sein wird für sein kostbares Töchterlein.«
Ich verzog keine Miene. Musterte ihn unbeeindruckt, erbarmungslos. »Wenn du jetzt bitte so freundlich wärst, die Lifttüren freizugeben, damit ich losfahren kann...«
Ich hoffte inständig, dass er nicht zu mir in den Lift trat, sonst würde er unweigerlich den Knopf mit der Nummer dreiundzwanzig aufleuchten sehen. Er durfte auf keinen Fall herausfinden, dass ich im selben Hotel wie er nächtigte, geschweige denn in welchem Stockwerk.
Parkers anfangs noch gezügelte Verärgerung steigerte sich unversehens zu einem ausgewachsenen Wutanfall. »Glaubst du etwa allen Ernstes, ich werde dich so ohne Weiteres aus dem Hotel spazieren lassen, damit du hingehen und meiner Verlobten und ihrem vertrottelten alten Herrn brühwarm erzählen kannst, dass ich dich ›beinahe‹ gebumst hätte?«, stieß er gute drei Dezibel lauter hervor. Seine spöttische Betonung des Wortes »beinahe« ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, was er von der ganzen Angelegenheit hielt.
Glücklicherweise hatte er bei seiner kleinen Ansprache heftig mit den Armen zu rudern begonnen und dabei die Fahrstuhltüren losgelassen.
Ich trat einen Schritt zur Seite und drückte entschlossen auf den Knopf mit der Aufschrift Türen schließen. »Tja, Parker, du hast leider gar keine andere Wahl.«
Wie auf ein Stichwort glitten die Türen zu. Ich wähnte mich bereits in Sicherheit, doch in letzter Sekunde schob er erneut die Hand dazwischen und zwängte sie wieder auseinander. Er wirkte aufgebrachter denn je, als er mit bedrohlicher Miene zu mir in den Aufzug trat. Mir klopfte das Herz bis zum Hals. Es war beileibe nicht das erste Mal, dass ich es mit einem wütenden Mann zu tun bekam. Das ist sozusagen Berufsrisiko. Ich habe noch keinen Kandidaten, der gerade bei meinem Test durchgefallen ist, sagen hören: »Oh, na ja, mein Fehler. Vielen Dank, dass Sie mich darauf hingewiesen haben, was in meiner Ehe schiefläuft.« Der Großteil reagiert alles andere als begeistert, das heißt, ich bin auf so ziemlich alles gefasst.
Aber der gute Parker war eindeutig dabei, den Bogen zu überspannen. Und ich verspürte nicht die geringste Lust, auf so engem Raum mit ihm allein zu sein. Er hatte die ganze Nacht getrunken; er wusste, seine Verlobte würde aller Wahrscheinlichkeit nach demnächst die Hochzeit abblasen; und außerdem hatte ich ihm bereits ziemlich übel mitgespielt. Alles in allem keine gute Kombination.
Schon packte er mich aggressiv am linken Oberarm. Es fühlte sich an, als würde mir eine unerfahrene Krankenschwester den Blutdruck messen und dabei die Armbinde zu fest aufpumpen.
»Ich fürchte, du hast mich nicht richtig verstanden«, knurrte er drohend.
Jetzt hieß es ruckzuck reagieren. Den Überraschungseffekt ausnutzen.
Rasch fasste ich mit der Rechten nach der Hand, mit der er mich festhielt und bog den Daumen kräftig nach hinten. Sofort lockerte Parker seinen Griff und ging ein wenig in die Knie. Ich schüttelte seine Hand ab, riss den Ellbogen nach oben und verpasste Parker damit einen Schlag gegen die Nase, der sich gewaschen hatte. Damit hatte er nicht gerechnet. Er strauchelte, fasste sich lauthals fluchend an die blutende Nase und taumelte vornübergebeugt auf mich zu. Ich wusste, mit meinen knapp fünfzig Kilo konnte ich es nie und nimmer mit einem Kerl aufnehmen, der doppelt so schwer und gut einen Kopf größer war als ich.
Also machte ich kurzen Prozess, indem ich ihm blitzschnell das Knie zwischen die Oberschenkel rammte, sodass er sich vor Schmerz krümmte und durch die Wucht des Stoßes rücklings aus dem Lift torkelte, um mit verzerrtem Gesicht an der gegenüberliegenden Wand zu Boden zu sinken. Ich sah noch, wie sich Zorn und Schmach in seiner Miene widerspiegelten, als ihm dämmerte, was gerade geschehen war, dann schlossen sich die Aufzugtüren zum dritten Mal.
Und diesmal schaffte er es nicht mehr, sie aufzuhalten.
 
Tags darauf riss mich der Weckruf vom Empfang aus dem Schlaf. Ich trug noch den hoteleigenen Frotteebademantel, in den ich nach der ausführlichen Dusche in der Nacht geschlüpft war. Zwanzig Minuten lang hatte ich mir sämtliche Hautzellen abgeschrubbt, die mit Parker Coleman in Berührung gekommen waren. Das gehört zum Standardprogramm nach jedem Test. Zu dumm, dass man mit dem Waschlappen gegen die unerfreulichen Erinnerungen nur wenig ausrichten kann.
Ich begab mich zur Rezeption, checkte aus und bezahlte meine Rechnung – bar. Man muss zwar in den meisten Hotels eine Kreditkarte vorweisen können, um ein Zimmer zu mieten, aber es wirkt meistens Wunder, wenn man eine Kaution in Höhe von hundert Dollar (ebenfalls in bar) hinterlegt. Nur so kann ich unter falschem Namen einchecken. Kreditkarten können einem überdies eine Menge Ärger einbrocken, etwa, wenn es Typen wie Parker Colman gelingt, einen verständnisvollen Hotelangestellten aufzutreiben. Dann wäre meine Tarnung im Nu futsch.
Kaum hatte ich die Maschine nach L.A. bestiegen und meinen Fensterplatz in der ersten Klasse eingenommen, holte ich meinen Kopfhörer aus der Tasche, setzte ihn auf und schloss die Augen. Die Aufträge in Las Vegas haben unter anderem den Vorteil, dass ich in einer Dreiviertelstunde wieder zu Hause bin. Ich hasse es, für einen Test nach New York fliegen zu müssen. Es gibt nichts Schlimmeres als sechs unbequeme Flugstunden nach einer langen Nacht mit einem korrupten Geschäftsmann (und mit korrupt meine ich nicht, dass der Betreffende Steuern hinterzieht).
Ich fliege nie ohne Kopfhörer, doch es kommt auf meine Stimmung an, ob ich tatsächlich Musik höre oder nicht. Ich hasse Flugzeug-Smalltalk. Reine Zeitverschwendung. Wenn ich fliege, will ich mich entspannen, meinen Gedanken nachhängen oder meine Lieblings-Klatschzeitungen lesen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass einen manche Leute selbst dann ansprechen, wenn man ganz offensichtlich in ein Buch vertieft ist. Aber sobald sie kapiert haben, dass man sie nicht hören kann, lassen sie einen in Ruhe. Deshalb habe ich mir einen dieser extragroßen, schalldichten Kopfhörer zugelegt, der auf Quasselstrippen schon optisch abschreckend wirkt. Eigentlich sollte man die Dinger unter der Bezeichnung Smalltalk-Abtörner verkaufen.
Nicht, dass ich eine ausgeprägte Einzelgängerin wäre. Ich habe bloß schon genügend Freunde. Ich suche keine neuen. Und für einen Außenstehenden ist mein Leben ohnehin ein riesiger Schwindel. Wozu noch weitere Opfer in meine Lügengespinste verstricken?
Früher habe ich mich gern mit meinen Mitreisenden unterhalten. Damals war Jennifer Hunter noch Jennifer Hunter und konnte in jede x-beliebige Rolle schlüpfen. Ich dachte mir gern Geschichten aus über mich, mein Reiseziel, meinen Beruf, meinen neuen Schwarm. Jetzt, da mein Leben von vorn bis hinten erfunden ist, macht das Geschichtenerzählen nur mehr halb so viel Spaß.
Ich musste zur Musik von Joss Stone eingedöst sein, denn als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, hatten wir bereits abgehoben. Dabei war ich gar nicht ermahnt worden, »sämtliche tragbaren elektronischen Geräte auszuschalten«, wie ich etwas überrascht feststellte. Vielleicht hatten die Flugbegleiterinnen ja geahnt, dass ich eine anstrengende Nacht hinter mir hatte und deshalb ein Auge zugedrückt.
Ich registrierte, dass auf dem Platz neben mir jemand saß, doch ich ignorierte den Betreffenden und starrte aus dem Fenster. Immer kleiner wurden die riesigen Hotels am berühmten Strip von Las Vegas, deren Bauwerke den Wahrzeichen von Paris, New York, dem alte Ägypten oder gar mittelalterlichen Königreiche nachempfunden waren.
Mich hat Las Vegas seit jeher amüsiert. Die Archäologen, die in Jahrmillionen auf die Überreste dieser Stadt stoßen, werden ganz schön dämlich aus der Wäsche gucken, wenn sie hier ihre Ausgrabungen anstellen. Da buddeln sie munter vor sich hin auf der Suche nach etwas, das ihnen endlich Aufschluss geben könnte über die längst ausgestorbene, geheimnisumwitterte Spezies »Mensch«, die sich mit einer selbst verursachten Katastrophe eigenhändig ausradiert hat, und siehe da... Was ist das? Eine ihrer Siedlungen offenbar. Hey, Moment mal... Haben wir nicht genau so eine Stahlkonstruktion erst kürzlich in einem Land namens »Frankreich« ausgegraben? Und die Statue da drüben weist doch eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der auf, die unsere Kollegen neulich an der Ostküste entdeckt haben, in einer Stadt, die bei den Menschen »New York« hieß.
Die Forscher werden vor einem unlösbaren Rätsel stehen und sich garantiert nie erklären können, was unsere mysteriöse Spezies bewogen hat, an unterschiedlichen Orten des Planeten zwei haargenau gleiche Monumente zu errichten. Ein Weltwunder in der Tat...
Ich schreckte aus meinen Tagträumen auf, als mir die Stewardess auf die Schulter tippte, um meine Getränkebestellung aufzunehmen.
Ich nahm meinen Kopfhörer kurz ab, um eine Diätcola zu bestellen, und gerade, als ich ihn wieder aufsetzen wollte …
»Na, haben Sie gewonnen?«
Ich wandte mich zu meinem Sitznachbarn um. Hm. Attraktiver Typ Mitte dreißig mit sanften Augen, die offenbar schon eine Menge gesehen hatten; manches erfreulich, anderes weniger.
»Wie, bitte?«
»Haben Sie gewonnen?«, wiederholte er. »Oder vielleicht sollte ich erst fragen: Haben Sie gespielt?«
Ich ließ meinen Kopfhörer in den Schoß sinken und unterdrückte ein Stöhnen. Das war’s dann. Schluss mit der seligen Ruhe. Da nimmt man seine Smalltalk-Abtörner nur eine Sekunde lang ab und zack, sitzt man in der Falle.
Ich lächelte höflich. »Ja, ich habe ein bisschen gepokert.«
»Und... Haben Sie gewonnen?«
Meine Erstanalyse ergab: gut situiert und Single, einer Ehe oder Familie aber durchaus nicht abgeneigt, geschäftlich in Vegas und erfrischenderweise anscheinend keiner von den Fremdgehern.
Es ist immer eine angenehme Überraschung, wenn ich mal über eines der seltenen treuen Exemplare stolpere. Dann komme ich mir vor wie ein Biologe, der beim Wandern über eine vom Aussterben bedrohte Tierart stolpert. Ich habe das Gefühl, sofort die Kamera zücken zu müssen, um die Sichtung für die Nachwelt zu dokumentieren, als Beweis für die Ungläubigen.
»Ja, das Glück war mir ein-, zweimal hold.« Ich lächelte.
Die Stewardess brachte unsere Getränke. Mein attraktiver, mutmaßlich nicht fremdgehender Sitznachbar hatte einen Tomatensaft bestellt. Ein anständiges Getränk. Ich bin immer misstrauisch, wenn Flugpassagiere schon am frühen Morgen harte Sachen konsumieren.
»Das freut mich für Sie. Eine Frau, die Poker spielt, das ist ja eine richtige Rarität...«
Tja, wie es aussah, hatten hier gleich zwei bedrohte Arten zusammengefunden. Wenn das kein Zufall war.
»Also, ich bin sehr für jede Art des Geldverdienens, bei der man dem Finanzamt nichts abgeben muss.«
Er lachte. »Und was machen Sie, wenn Sie nicht gerade anderen Leuten beim Pokern ihr hart verdientes Geld abluchsen?«
Schon musste ich lügen. »Ich bin im Investment Banking. Und Sie?«
»Ich arbeite für die Steuerfahndung«, sagte er und senkte beschämt das Haupt.
Ach du Sch... Ich war sprachlos. Nahm verlegen einen Schluck von meiner Diätcola. »Äh... ich hab Sie natürlich nur auf den Arm ge...«
»Tja, ich muss Sie leider festnehmen. Wie mir scheint, schulden Sie dem Finanzminister einen ganzen Batzen Geld, nachdem Sie offenbar jahrelang Ihre Glücksspiel-Einkünfte nicht gemeldet haben.« Er grinste.
Ich lachte erleichtert auf. »Puh. Der war gut.«
»Hmm, eine Pokerspielerin, die einen so offensichtlichen Bluff nicht durchschaut... Ich bin nicht sonderlich überzeugt von Ihren Fähigkeiten.«
»Also... sooo offensichtlich fand ich Ihren Bluff ehrlich gesagt nicht«, stotterte ich.
»Ich bitte Sie. Ich hatte in der achten Klasse im Theaterspielen eine Vier! Ich würde auf der Bühne nicht einmal einen Schimpansen überzeugen.«
»Ich bin nicht ganz sicher, aber müsste man das dann als Tierquälerei einstufen?« Ich tat, als würde ich angestrengt überlegen.
»Das ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her, damals hat man das noch nicht so eng gesehen.«
»Aha, das heißt, Sie sind jetzt ungefähr...«
»Sieh an, ein menschlicher Taschenrechner sind Sie also auch.«
»Während Sie allem Anschein nach ein ziemlich schlechter Schüler waren«, konterte ich.
Er schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck Tomatensaft. »Ich sprach von einem einzigen Fach, nicht von meinen Leistungen im Allgemeinen.«
Als er das Glas abstellte, linste ich instinktiv auf seine linke Hand. Kein Ring. Wie ich vermutet hatte. Single. Auf meine Erstanalyse war eben Verlass.
»Was machen Sie denn nun wirklich beruflich, wenn Sie sich nicht gerade als Undercover-Steuerfahnder ausgeben?«
Hätte ich raten müssen, dann hätte ich auf Marketing oder Werbung getippt. Für einen Buchhalter war er zu clever, für einen Geschäftsmann nicht verbindlich genug. Ich war keineswegs überrascht, als er sagte: »Ich arbeite als Marketingberater. Zu unseren Klienten zählen unter anderem die Harrah’s Casinos«.
Schon wieder richtig. Jetzt wird es allmählich langweilig.
Wir hatten etwa zwanzig Minuten geplaudert, und ich fragte mich bereits, was ich eigentlich gegen Flugzeug-Smalltalk einzuwenden hatte, als es in den Lautsprechern knackste. »Sehr geehrte Damen und Herren, guten Morgen. Wie ich soeben erfahre, toben im Großraum Los Angeles zurzeit heftige Gewitter, die eine sichere Landung unmöglich machen«, verkündete der Kapitän. »Wir müssen deshalb leider in Palms Springs zwischenlanden und abwarten, bis das Schlimmste vorüber ist. Ich danke für Ihr Verständnis.«
Mein Nachbar und ich sahen uns an und stöhnten gleichzeitig auf.
»Von wegen, in Los Angeles regnet es nie«, murrte ich.
»Tut es auch nicht«, sagte er. »Aber ich habe vorhin ein paar Leute angerufen.«
»Sind Sie etwa eine Art Wettergott?«
»Ich bin Jamie Richards.« Er streckte mir die Hand hin.
Ich schüttelte sie. »Jennifer.«
»Bloß Jennifer? So wie Cher oder Madonna?«
»Ich ziehe es vor, mit Michelangelo verglichen zu werden, wenn ich bitten darf.«
Jamie lachte. Es war schön, zur Abwechslung mal jemandem ein ungekünsteltes Lachen zu entlocken. Jemandem, auf den zu Hause keine Frau wartete. Jemandem, der ohne Hintergedanken lachte.
Und es war auch schön, mitzulachen... ganz ohne Hintergedanken.
»Okay, akzeptiert. Ich hätte da nur noch eine Anregung: Wenn Sie Ihr Leben tatsächlich nachnamenlos bestreiten wollen, sollten Sie sich zumindest einen etwas aufregenderen Vornamen suchen.«
»Da haben Sie recht. Dann also Jennifer... H.«, sagte ich affektiert.
Er setzte eine beeindruckte Miene auf. »Wow. Vorname und erster Buchstabe des Nachnamens. Wir machen Fortschritte. Fühlen Sie sich gut, oder sollen wir lieber einen Gang zurückschalten, vielleicht eine Pause einlegen und später weiterplaudern?«
Ich sah aus dem Fenster. Wir näherten uns dem Flughafen von Palms Springs. »Nun, wie es aussieht, sitzen wir hier noch eine ganze Weile fest.«
»Verraten Sie mir dann stündlich einen weiteren Buchstaben?«
Ich grinste. »Wenn Jennifer H. meine ganze Highschool-Zeit über völlig ausreichend war, dann sollte Ihnen das für die kommenden paar Stunden doch wohl auch genügen. Jedenfalls bis wir in L.A. sind.«
»Na gut, Jennifer H.«
»Hey, Sie können sich glücklich schätzen. Das ist ein ganzer Buchstabe mehr als die meisten wildfremden Mitreisenden erfahren. Mehr als die meisten wildfremden Menschen eigentlich.«
»Oh, das tue ich.«
Ich musterte ihn fragend.
»Mich glücklich schätzen.«
Ich errötete und wandte den Kopf zum Fenster. So eine Landung ist doch immer wieder äußerst spannend.
 
Aus dem ursprünglich fünfundvierzigminütigen Flug war, als wir endlich in L.A. ankamen, eine zermürbende vierstündige Odyssee geworden. Kaum war ich aus der Maschine gestiegen, klingelte mein privates Handy.
»Sophie regt sich fürchterlich auf. Du solltest sie anrufen«, röhrte mir Zoë atemlos ins Ohr.
»Was treibst du denn? Klingt ja, als würdest du einen Marathon laufen.«
»Ich bin auf der San Vicente und versuche, links abzubiegen, obwohl es keine Abbiegerspur gibt. Die Leute in Santa Monica haben sich ihre Führerscheine offenbar allesamt am Automaten gekauft.«
Mit meinem Rollkoffer im Schlepptau verließ ich das Ankunftsterminal und begab mich zum Parkplatz. »Wenn sich Sophie so aufregt, warum ruft sie mich dann nicht an?«
»Benutz doch mal dein Spatzenhirn, du beschränkte, egoistische Kuh!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Hä?«
Aus dem Telefon ertönte ohrenbetäubendes Gehupe. Ach so. Ich setzte meinen Weg fort.
»Entschuldige. Diese Zicke braucht offenbar ein Telefonbuch auf dem Sitz, damit sie überhaupt übers Lenkrad hinaussieht. Na, das Übliche. Hör mal, es ist jetzt schon eine Woche her. Findest du nicht, dass du ein bisschen überreagierst?«
Ich reichte dem Mann vom Valet-Service mein Ticket. »Ich kann jetzt nicht darüber reden. Ich bin am Flughafen und total erledigt, und mein Auto wird gleich vorgefahren. Ich rufe dich morgen zurück, ja?«
»Ist gut.« Zoë schnappte nach Luft.
»Alles okay bei dir?«
»Nein, nichts ist okay. Ich sagte doch schon, ich versuche, an einer Kreuzung ohne Linksabbiegespur links abzubiegen. Ruf mich morgen an!«
Ich legte auf und nahm meinen Bluetooth-Kopfhörer ab.
»Sie haben sich ja ganz schön flott vom Acker gemacht.«
Prompt ließ ich vor Schreck das Headset fallen. Ich bückte mich danach, um es aufzuheben, wandte den Kopf und erblickte hinter mir Jamie Richards mit einem Parkticket in der Hand. Ich erhob mich eine Spur zu rasch und musste mich am Geländer festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Äh, ja.« Ich lachte etwas gezwungen. »Ich hab für heute die Nase voll von Flugzeugen.«
Sein amüsiertes Grinsen verunsicherte mich. Dabei bin ich daran gewöhnt, von Männern angegrinst zu werden. Allerdings nicht in Verbindung mit dem Attribut »amüsiert«. Schon gar nicht, nachdem ich auf dem Bürgersteig vor dem Flughafen beinahe zu Boden gegangen wäre. Ich lehnte mich betont lässig an das Geländer. Mit gekreuzten Beinen. So. Schon viel besser.
Obwohl mir natürlich völlig schnurz war, was der Kerl dachte.
»Sie haben sich gar nicht von mir verabschiedet. Ich komme mir so benutzt vor.«
Ich lachte. »Ach, ja? Weil Sie vier Stunden den Entertainer spielen ›mussten‹?«
»Ganz recht. Für Sie war das wohl bloß ein unverbindlicher Zeitvertreib, wie?«
»Schuldig im Sinne der Anklage. Wie ich sehe, sind Sie auch Valet-Fan?« Ich deutete auf sein Ticket.
Er nickte. »Dieser Service ist jeden Cent wert. Außerdem übernimmt meine Firma die Kosten.«
»Meine auch.« Stimmte ja auch. Die Reisekosten lasse ich mir immer erstatten.
»Ich bin froh, dass wir uns noch einmal über den Weg laufen, weil ich Sie nämlich etwas fragen wollte, aber Sie waren so schnell weg, ohne einen Pantoffel oder andere zweckdienliche Hinweise zu hinterlassen.«
»Ich hab nie kapiert, wie es sein kann, dass ein Schuh bloß einem einzigen Mädchen im ganzen Königreich passt. Ist doch reichlich unrealistisch.«
»Aschenbrödel hatte eben besonders zierliche Füße«, erklärte er und warf einen Blick auf die meinen. »Ihre sehen allerdings ziemlich durchschnittlich aus. Da hätte mir ein Schuh wohl kaum geholfen.«
Ich lachte. Dann herrschte verlegenes Schweigen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Dabei ist Flirten quasi mein täglich Brot. Aber in der Gegenwart von Jamie Richards kam ich mir richtiggehend schüchtern vor. Das Selbstvertrauen, das mich als Ashlyn so erfolgreich machte, war wie weggewischt. Ich war bloß noch ich, und ich war in solchen Dingen noch nie besonders talentiert gewesen. Und die Tatsache, dass mir Jamie mit jeder Minute noch attraktiver vorkam, machte die Sache nicht unbedingt einfacher.
»Also, was ich Sie fragen wollte: Würden Sie morgen Abend mit mir essen gehen?«
Ich war baff. Männer wie Jamie Richards laden Mädchen wie Jennifer Hunter nicht zum Dinner ein. Er wirkte so weltgewandt, so reif... das exakte Gegenteil von allem, was ich war. Ashlyn wurde ständig von Typen wie ihm umschwärmt... okay, von seinen verheirateten, untreuen Artgenossen. Doch ich, Jen? Niemals. Nicht ohne Auftraggeber, die mich hinterher entlohnen.
Ich trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, unfähig, zu reagieren. Als wären die Worte in meinem Mund stecken geblieben. Als hätten sie Angst, sich herauszuwagen.
»Wow, mir war nicht klar, dass meine Frage so schwierig zu beantworten ist. Ich hätte sie wohl etwas weniger hochgestochen formulieren sollen.«
Ich kicherte nervös. »Nein, nein, das ist es nicht. Ich fürchte nur, es wäre keine besonders gute Idee.«
Er nickte verständnisvoll. »Keine gute Idee, weil Sie einen Freund haben, oder keine gute Idee, weil Sie an einer ansteckenden Krankheit leiden?«
Ich sah, dass sich der Parkwächter mit meinem Wagen näherte und biss mir auf die Unterlippe. »Nein... kein Freund.«
»Mist. Dann also doch die ansteckende Krankheit. Was ist es? Cholera? Ebola? Die Pest?«
Ich schüttelte lachend den Kopf. »Nichts von alledem. Es ist bloß alles etwas kompliziert.«
»Das freut mich zu hören. Ich liebe Komplikationen. Wenn mir etwas zu simpel ist, schlafe ich auf der Stelle ein.«
Hach, war der Kerl süß. Fast schon zu süß. Ich lächelte und hätte alles darum gegeben, die Einladung annehmen zu können. Ein Date. Ein richtiges Date. Ohne eine eifersüchtige Freundin, die schon vor der Tür wartete. Ohne eine schwarze Karte auf der Kommode. Ohne vorher seitenweise Lieblingsgesprächsthemen, Lieblingsfilme und Lieblingskaraokesongs auswendig zu lernen. Doch etwas in mir schrie: Nein! Tu’s nicht! Denn ich hatte das überwältigende Gefühl, dass ich genau wusste, wohin die Sache führen würde. Wie es enden würde. Wozu das ganze Buch lesen, wenn man schon weiß, wie es ausgeht?
»Tut mir leid«, sagte ich und machte mich auf den Weg zum Parkwächter, der bereits auf mich wartete. »Aber es war sehr schön, Sie kennenzulernen.«
Und dann erfasste mich plötzlich eine Welle der Traurigkeit. Die Art von Traurigkeit, die daher rührt, dass man das Ende des Buches bereits kennt. Dass man nie dieselbe Aufregung, dieselbe Spannung erleben wird wie normale Leser, wenn sie den neuesten Bestsellerroman mit Glücklich-bisan-ihr-Lebensende-Schluss in die Hand nehmen und es gar nicht erwarten können, ihn zu verschlingen.
Jamie holte eine Visitenkarte aus der Jackentasche. »Hier, für den Fall, dass Sie doch noch Ihre Meinung ändern oder irgendwann das Bedürfnis verspüren sollten, den zweiten Buchstaben Ihres Nachnamens zu enthüllen... Das ist meine letzte, glaube ich. Hab ich extra für Sie aufgehoben.« Er drehte sie um und studierte die Rückseite. »Sogar mit persönlicher Widmung hinten drauf... Kleiner Scherz. Ich hatte neulich nichts zum Schreiben dabei.«
Er reichte mir die Karte. Ich nahm sie und steckte sie in die Hosentasche. Dann drückte ich dem Valet-Wächter einen Zwanziger in die Hand. »Vielen Dank«, sagte ich, zu beiden Männern gewandt.
»Tja, uns bleibt immer noch Palms Springs«, sagte Jamie in einer grauenhaften Imitation von Humphrey Bogart in Casablanca.
Ich verdrehte die Augen. »Jetzt ist mir klar, warum Sie im Schauspielunterricht eine Vier bekommen haben.«
Er lachte. »Es hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Jennifer H.« Sein Lächeln verursachte mir Herzflattern.
Ich wusste nur nicht, ob es aus Zuneigung oder Angst flatterte.
Angst, dass ich womöglich einen Fehler machte.
Als ich in meinen Wagen stieg und davonfuhr, umhüllte mich meine alltägliche Welt wie eine alte, vertraute Decke. Das Lenkrad, das Radio, das Navigationssystem. Und vor allem Roger Irelands Akte, die aus meiner Tasche lugte. Morgen früh würde ich ihm schildern, was sich im Laufe meines denkwürdigen Aufenthaltes in Las Vegas ereignet hatte, dann würde er es seiner Tochter beibringen, und wieder einmal würde eine Hochzeit abgeblasen werden. Ein weiteres Happy End, das von der gnadenlosen Realität vereitelt wurde.
Vielleicht sollte ich einfach keine Bücher mehr lesen.
Treuetest - Brody, J: Treuetest - The Fidelity Files
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