21
Ein neuer Stern am
Himmel
Für meinen allerneuesten Auftrag war ich nur
dürftig vorbereitet.
Weil mir Sarah Miller mit ihrer Forderung, den Test
drei Tage nach unserer ersten Besprechung durchzuführen, keine
Möglichkeit gegeben hatte, mich mit der
üblichen Gründlichkeit vorzubereiten. Solche Spontanaktionen mag
ich gar nicht. Da ich denkbar wenig über Daniel Miller wusste,
entschied ich mich für ich eine neutrale, schlichte Garderobe (es
gibt keinen fataleren Fehler, als overdressed zu sein), passend zur
Location, einer eleganten Bar in Westwood. Wenn ich da in einem
Designerkleid aufkreuzte, das die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste,
egal ob Männlein oder Weiblein, auf sich zieht, sähe das aus, als
wollte ich mir einen Millionär angeln. Was ganz und gar nicht in
meinem Sinne war. Männer, die ihre Frauen betrügen, lassen sich
nicht mit Goldgräberinnen ein. Sie trauen ihnen nicht über den Weg.
Zugegeben, Raymond Jacobs, dieser ekelhafte, triebgesteuerte
Neandertaler, würde sich vermutlich auf alles stürzen, das einen
Busen hatte und auf zwei Beinen lief.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel.
Schwarze Hose, ärmelloser brauner Rollkragenpulli, rote
Manolo-Pantoletten.
Perfekt. Ausreichend sexy, um aufzufallen, und zugleich stilvoll
genug, um zu signalisieren: Ich bin eine ganz normale Frau und
nicht auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer. Ich bin
überhaupt nicht auf der Suche, aber für alles offen.
Auf dem Weg in mein Arbeitszimmer legte ich meine
Diamantohrstecker an, dann nahm ich die Mappe mit der Aufschrift
Daniel Miller vom Schreibtisch. Ich hatte
aus den wenigen Informationen, die mir seine Frau anvertraut hatte,
wie immer eine Mini-Biographie zusammengeschustert. Leider war
meine aus zeitlichen Gründen eher bescheiden ausgefallene Recherche
nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen. Google hatte zu »Daniel
Miller« 261 000 Treffer und über viertausend Bilder geliefert, von
denen kein einziges auch nur annähernd dem Foto ähnelte, das mir
Sarah Miller mitgegeben hatte. Wie es aussah, würde ich mich
diesmal weitgehend auf mein Superheldinnen-Improvisationstalent
verlassen müssen. Ich blätterte noch einmal flüchtig die Mappe
durch, um mir einige letzte Details einzuprägen, dann holte ich den
Schlüssel für die unterste Schublade aus seinem Versteck und
sperrte sie auf. Ich nahm eines meiner schwarzen Kärtchen heraus,
strich mit der Fingerkuppe über das leicht erhabene rote A auf der Vorderseite, dann drehte ich es um und
betrachtete die gebührenfreie Telefonnummer auf der Rückseite. Die
Nummer, die Daniel Miller noch heute Nacht wählen würde, sollte er
beschließen, beim Test durchzufallen. Die
Nummer, die alle durchgefallenen Kandidaten wählen.
Und doch hoffe ich jedes Mal, wenn ich eine meiner
schwarzen Karten hervorhole, dass sie nicht zum Einsatz
kommt.
Wann immer ich eine davon in meine Handtasche
stecke, ehe ich mich auf den Weg mache, stelle ich mir vor, wie ich
das Lokal verlasse, in dem mich mein Testobjekt gerade abgewiesen
hat, und sie triumphierend in einen Abfalleimer werfe.
Leider landen jedoch die meisten meiner Karten
nicht in einem Abfalleimer …, sondern in den Händen eines
durchgefallenen Kandidaten.
Ich schob die Karte in meine rote Louis Vuitton und
hetzte ins Wohnzimmer, wo ich hastig Schlüsselbund, Portemonnaie
und meine Telefone zusammensuchte. Dann konnte es losgehen.
Daniel Miller saß allein an einem der hinteren
Tische der Bar und starrte Löcher in die Luft. Er wirkte besorgt
und nachdenklich. Einsam. Das halb leere Glas dagegen, das er
umklammert hielt, hatte reichlich Gesellschaft.
Für jeden anderen musste es aussehen, als hätte er
kurz zuvor seine Gesprächspartner mit einer rüden Bemerkung so
brüskiert, dass sie stante pede das Weite gesucht hatten. Für mich
sah es genau so aus, wie Mrs. Miller es beschrieben hatte:
Danach bleibt er gern noch auf einen Drink
sitzen. Die Geschäftspartner, die sie erwähnt hatte, mussten
bereits gegangen sein, und seiner Miene nach zu urteilen war das
Meeting nicht gerade nach seinen Vorstellungen verlaufen. Ich
dachte an ihre Bitte, das Thema Entlassung nicht zu erwähnen. Ich
würde mich hüten.
Meine schwarze Karte brannte mir förmlich ein Loch
in die Handtasche, als ich selbstbewusst auf seinen Tisch zuging.
Ich musste ihn nur dazu bringen, mich mit nach oben zu nehmen. Laut
seiner Gattin kam es, wenn er ein bisschen zu tief ins Glas
geschaut hatte, schon mal vor, dass er sich lieber ein Zimmer nahm,
statt die lange, gefährliche Fahrt in den Canyon anzutreten.
Ein Mann, der gern einen über den Durst trank und
regelmäßig im Hotel übernachtete – in der Stadt, in der er lebte -,
das würde jeder Ehefrau zu denken geben. Kein Wunder, dass sie
mich angerufen hatte.
Eine Bar zu betreten, in der ein Testobjekt sitzt,
ist in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit dem Auftritt auf einer
Theaterbühne. Ich werfe mich in Positur, um die Ashlyn zu geben.
Für Uneingeweihte wie Daniel Miller ist Ashlyn natürlich keine
Protagonistin in einem Theaterstück, sie ist real. Eine junge Frau
in einer Bar.
Ich atmete tief durch, rief mir noch einmal in
Erinnerung, welche Rolle ich heute spielte, und betrat die Bühne,
sprich, ich schlenderte langsam auf Daniel Millers Tisch zu. Es
galt, die Aufmerksamkeit meines erlesenen Publikums zu
erregen.
Doch mein Publikum war geistesabwesend. Daniel
Miller schenkte mir keinerlei Beachtung, meiner sorgfältig
ausgewählten Garderobe zum Trotz.
Also hielt ich, um Zeit zu schinden, in einem
halben Meter Entfernung von seinem Tisch inne und kramte
ausführlich in meiner Handtasche, ehe ich meinen Weg fortsetzte.
Vergeblich. Daniel Miller hob nicht einmal den Kopf.
Da wusste ich, ich musste ausnahmsweise auf einen
Trick zurückgreifen, den ich nur in äußersten Notfällen anwende.
Dies war eindeutig ein Notfall. Ich konnte ja unmöglich zurück zu
meinem Wagen gehen, die Hose gegen einen Minirock austauschen und
ein zweites Mal an Mr. Miller vorbeistolzieren in der Hoffnung,
dass er reagieren würde, wenn ich etwas mehr Bein zeigte.
Nein. Ich würde stolpern müssen.
Also stolperte ich.
Und zwar – Überraschung! – geradewegs in die Arme
von Mr. Miller. Und er fing mich auf.
»Oh!«, rief ich und klammerte mich an die
Rückenlehne der Sitzbank. »Bitte entschuldigen Sie vielmals!«
»Alles in Ordnung?«, fragte er und stützte mich,
während ich mich aufrichtete.
»Ja, ja«, sagte ich verlegen. »Vielen Dank.« Ich
zeigte auf meine Schuhe. »Die sind noch nicht eingelaufen.«
Daniel lachte höflich und nickte verständnisvoll.
»Kein Problem.«
Ich tat, als wollte ich weitergehen, setzte dann
aber einen Blick auf, als käme er mir irgendwie bekannt vor. »Sagen
Sie, habe ich Sie nicht neulich am Jachthafen gesehen?« Quelle: Abschnitt 2a der Daniel-Miller-Biographie. Sein
Boot ankert im Jachthafen von Marina del Rey.
Daniels betrübte Miene erhellte sich ein wenig, und
ein bescheidenes Lächeln umspielte seine Lippen. Wenn er es nicht
besser gewusst hätte, dann hätte er vermutet, diese hübsche junge
Lady legte es darauf an, ihn ein bisschen von seinen Problemen
abzulenken und aufzumuntern.
Was natürlich völlig ausgeschlossen war.
»Schon möglich«, erwiderte er. »Da bin ich oft.
Meine Jacht liegt dort unten.«
Ich legte die Stirn in Falten und biss mir
nachdenklich auf die makellose, mit schimmerndem Lipgloss
überzogene Unterlippe, als müsste ich eine komplizierte
Rechenaufgabe lösen. Als würde ich versuchen, mir etwas ins
Gedächtnis zu rufen, das sich meiner Erinnerung hartnäckig entzog.
Und dann fiel es mir plötzlich doch ein: »Die
fünf Winde«, sagte ich und nickte stolz.
Quelle: Abschnitt 2b der
Daniel-Miller-Biographie. Sein Boot heißt Die fünf Winde.
Das munterte ihn gleich noch mehr auf. »Genau! Sie
kennen mein Boot?«
Ich lächelte breit. »Aber natürlich! Ihre 2000
Morgan Classic sloop ist eine der schönsten Jachten da unten.
Einundvierzig Fuß Gesamtlänge, Vier-Meter-Mast, Flossenkiel,
Skeghung-Ruder. Ich wette, damit können Sie fünfunddreißig Grad
gegen den Wind segeln.«
Quelle: Seite drei einer
Broschüre über die Morgan Classic sloop electronic, erhältlich auf
fast jeder Webseite zum Thema Segeljacht.
Daniel nickte gebührend beeindruckt. »Sie kennen
sich ja ganz gut aus mit Segeljachten.«
Ich zuckte bescheiden die Achseln. »Hab ich von
meinem Dad. Sie sind mir doch gleich so bekannt vorgekommen.«
Er streckte mir die Hand hin. »Ich bin
Daniel.«
Ich schüttelte sie eifrig. »Ashlyn.«
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«
»Danke, gleichfalls.« Ich stand einen Augenblick
unschlüssig in der Gegend herum, spähte zur Bar hinüber, als würde
ich mit mir hadern: Soll ich mir einen Drink genehmigen oder hier
stehen bleiben und über Segeljachten plaudern?
Meine etwas gelangweilte Miene sollte ihm zudem
vermitteln, dass ich auf eine Einladung von ihm wartete, weil ich
zu wohlerzogen war, um mich einfach zu ihm zu setzen.
Zu meiner Verblüffung wirkte er ebenfalls
gelangweilt.
Dann sah er auf die Uhr. »Tja, ich mache mich dann
mal auf die Socken. Es ist schon spät, und ich habe noch eine lange
Fahrt vor mir.« Er erhob sich und reichte mir noch einmal die Hand.
»Auf Wiedersehen, Amy.«
»Ashlyn«, verbesserte ich ihn und schüttelte sie
verdattert.
»Ach, richtig. Verzeihung. Nun, vielleicht laufen
wir uns ja mal am Jachthafen über den Weg.« Damit holte er einen
großen Geldschein aus der Brieftasche und legte ihn auf den
Tisch.
»Ja, vielleicht«, murmelte ich und starrte ihm
sprachlos hinterher, als er auf den Durchgang zur Hotellobby
zumarschierte. Kaum war er außer Sichtweite, huschte ich ihm nach
und beobachtete ihn aus sicherer Entfernung, mit derselben
ungläubigen Neugier wie es ein Meeresforscher getan hätte, wenn er
einen Delfin bei einem Spaziergang auf dem Trockenen ertappt hätte.
Ich sah noch, wie Daniel Miller das Hotel durch den Haupteingang
verließ, dann war er weg.
Weg.
Er war einfach gegangen.
Für alle anderen in der Bar hatte es bestimmt
ausgesehen, als wäre ich eine dieser verrückten Amerikanerinnen,
die jeden Star verfolgen und anquatschen. Einige der anderen Gäste
hatten sich aufgrund meines seltsamen Verhaltens sogar neugierig
umgedreht und Daniel ebenfalls nachgesehen. Bestimmt fragten sie
sich, warum sein Gesicht ihnen nichts sagte.
Doch ich wusste, dass Daniel Miller kein Star im
herkömmlichen Sinn war. Sein Konterfei würde nie die Titelseite des
Us Weekly zieren, würde es noch nicht
einmal ins Innere der Zeitschrift schaffen. Access Hollywood würde keinen
Dreißig-Sekunden-Bericht über ihn bringen, und ganz bestimmt würde
er auch nicht von einem der großen Radiosender von L.A. zu seinem
neuesten Album oder Blockbuster interviewt werden.
Doch für mich würde Daniel Miller ab heute auf ewig
ein Star sein.
Als ich an diesem Abend nach Hause kam, rannte
ich schnurstracks zu meinem Nachttisch. Und wenn ich sage »rannte«,
dann meine ich das auch so. Ich warf meine Tasche aufs Sofa und
düste durch den Korridor ins Schlafzimmer, wie Kinder nach draußen
düsen, wenn sie den Eiswagen hören. Ich kniete mich hin, zog mit
derselben freudigen Erregung, die man sonst nur an Weihnachten
verspürt, die mit Samt ausgekleidete unterste Schublade auf und
holte eine lackierte Holzschatulle heraus.
Ich hielt sie einen Augenblick in den Händen, fuhr
mit den Fingerspitzen über die glänzende Oberfläche.
Dies war ein unvergesslicher Moment. Wie ein erster
Kuss. Wie die friedliche Stille um drei Uhr morgens oder die
saubere, noch warme Wäsche aus dem Trockner. Wie das Gefühl, das
einen überkommt, wenn man das letzte Puzzleteil gelegt hat, sein
Leibgericht auf der Tageskarte eines Restaurants findet oder wenn
das Lied, das einem schon den ganzen Tag durch den Kopf geht,
plötzlich im Radio gespielt wird. All das zusammen.
Diese Schatulle enthält das Einzige, das mir heilig
ist.
Ich nahm den Schlüssel aus der Lade und schloss die
Schatulle auf. Dies war einer der seltenen Momente, in denen ich
sie nicht nur betrachtete.
Diesmal würde ich ihrem Inhalt etwas
hinzufügen.
Ich entnahm der Schatulle einen schwarzen Füller
und ein Blatt Papier.
Meine Liste.
Exakt neun Namen standen darauf. Ich fuhr mit dem
Finger daran entlang, las ehrfürchtig einen nach dem anderen
halblaut vor, legte dann die Liste auf den Deckel, öffnete den
Füller und malte bedächtig den Namen Daniel Miller ans Ende der
Liste.
Daniel Miller war meine Nummer zehn.
Der zehnte Grund, an die Liebe zu glauben, all dem
zum Trotz, das auf der Welt geschieht.
All den Tausenden von Gründen zum Trotz, es nicht
zu tun.
Perfektes Timing. Genau das hatte ich jetzt
gebraucht.
Der Füller hatte mich fünfhundert Dollar gekostet.
Ich hatte ihn in einem dieser Nobelläden erstanden, in denen
Firmenchefs Geschenke für wichtige Kunden und Belohnungen für ihre
Angestellten kaufen. Nie im Leben hätte ich
mir träumen lassen, dass ich je einen Fuß in ein solches Geschäft
setzen, geschweige denn fünfhundert Dollar für einen
Füllfederhalter hinblättern würde. Aber ich fand, dass der stolze
Preis der Bedeutung dieser Zeremonie angemessen war.
Ich muss wohl nicht erwähnen, dass er noch ziemlich
viel Tinte enthielt.
Dieser Name würde mir nun bei meinem ewigen inneren
Kampf zwischen Gut und Böse mindestens fünf Mal täglich durch den
Kopf gehen. Ich schwelgte noch kurz in dem erhebenden Gefühl des
Augenblicks, dann hopste ich ins Wohnzimmer, aufgeregt wie ein
verliebtes Schulmädchen, entnahm meiner Handtasche die nicht benötigte schwarze Karte und betrachtete sie.
Wäre ich tatsächlich ein verliebtes
Schulmädchen, dann wäre diese Karte das Briefchen, das in der
zweiten Stunde zu mir durchgereicht worden war.
Ich ging in die Küche, öffnete den Mülleimer unter
der Spüle, warf einen letzten Blick auf die Karte, ehe ich sie
schweigend in winzige Teile zerriss und zusah, wie sie graziös in
den Eimer rieselten. Ein kleiner schwarzer Schneesturm.
Wie in Zeitlupe schneiten sie auf eine leere
Cornflakes-Schachtel und eine Bananenschale.
Genau da gehörten sie hin.
Ich schloss den Mülleimer, kehrte ins Schlafzimmer
zurück, schälte mich aus den Klamotten und schlüpfte in meinen
rosaroten Pyjama von Victoria’s Secret. Die Seide fühlte sich
herrlich an auf meiner Haut. Und ganz tief drin, unter meinen
Ängsten und Sorgen, unter all dem anderen Müll, der sich im Laufe
der Jahre in mir angesammelt hatte, fand ich die Welt um mich herum
mit einem Mal ganz wunderbar.