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Die Entstehung der Arten
(Teil 1)
Als ich in dieser Nacht meine Wohnung betrat, war
der Unterschied zu dem düsteren Hotelzimmer, das ich kurz zuvor
verlassen hatte, geradezu überwältigend. Es kam mir vor, als wären
es zwei verschiedene Welten, die nebeneinander existierten: Dort
das Reich der Dunkelheit, des Misstrauens und der Lügen, hier das
Reich des Lichts, geräumig, funkelnd, blendend weiß. Wie in einem
Werbespot für Allzweckreiniger.
Hier konnte ich ich selbst sein.
Musste keine andere Identität annehmen.
Allein in der vergangenen Woche war Ashlyn
Anwältin, Uni-Absolventin, Mitglied einer Studentenvereinigung,
Research Manager und Flugbegleiterin gewesen. Da war es schön, zur
Abwechslung wieder einmal Jennifer Hunter zu sein.
Es gab nur ein Problem.
Nachdem ich mich abgeschminkt, meine verfremdende
Maske aus Wimperntusche und Grundierung abgewischt hatte, starrte
ich lange mein Gesicht im Spiegel an und konnte mich des Eindrucks
nicht erwehren, dass es mir von Tag zu Tag unbekannter
vorkam.
Es ließ sich allmählich nicht mehr leugnen.
Ich schnaubte und knipste das Licht aus, sodass die
Fremde im Spiegel von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Meine weiße Bettwäsche fühlte sich flaumig weich an
auf meiner Haut, wie Blumenblüten. Ich warf dem Kissen auf der
anderen Bettseite einen sehnsüchtigen Blick zu. Außer Marta hatte
es in den ganzen zwei Jahren, die ich hier wohnte, niemand berührt.
Ich zog den ramponierten lila Plüschelefanten darunter hervor, der
mir seit meinem zwölften Lebensjahr im Bett Gesellschaft
leistet.
Und ich erinnerte mich an das allererste Mal, als
wäre es erst gestern gewesen.
Snuffles der Elefant war nie mein
Lieblingsplüschtier gewesen. Er hatte seit dem Tag meiner Geburt
auf der Fensterbank in meinem Zimmer gesessen, aber ich hatte ihn
nie sonderlich ins Herz geschlossen.
Als ich zwei Jahre alt war, taufte ich ihn Snuffle,
nach Mr. Snuffleupagus aus der Sesamstraße,
dessen Name ich damals allerdings noch nicht aussprechen konnte.
Nach der Sendung deutete ich oft auf meinen lila Elefanten und
krähte »Snuffle«, und daraus wurde später Snuffles.
Meine Lieblingsplüschtiere waren damals Leo der
Bär, Floppsy der Hase und Frank der Fisch. Einer von ihnen durfte
stets an meiner Seite liegen, wenn ich einschlief. Ich liebte die
Abwechslung, doch Snuffles schaffte es trotzdem nie in die engere
Auswahl.
Wenn mich Mom abends ins Bett steckte, fragte sie
mich manchmal nach dem Grund, worauf ich meist die Achseln zuckte
und sagte: »Ich weiß auch nicht warum. Die anderen sind mir einfach
lieber.«
Hin und wieder ging sie dann zur Fensterbank und
drückte den vernachlässigten Elefanten an sich, schnupperte an
seinem weichen Fell. »Aber er fühlt sich einsam.«
Dann verdrehte ich die Augen und sagte: »Oh, Mom.
Er wird es schon verkraften.«
Doch eines Abends wurde schlagartig alles anders.
Nichts war mehr wie zuvor. Und es sollte auch nie wieder so
werden.
Mom war nach Chicago zu ihrer Mutter gefahren, die
wegen einer Operation ins Krankenhaus musste.
»Ihr Kniegelenk ist schon alt und abgenutzt,
deshalb bekommt sie ein neues«, hatte sie mir auf dem Weg zum
Flughafen erklärt.
»Ein neues?«, hatte ich
gefragt und dabei vergeblich versucht, meine »es interessiert mich
überhaupt nicht, was meine Eltern sagen«-Haltung
aufrechtzuerhalten.
»Ja. Die Ärzte setzen ihr eines aus Metall
ein.«
»Das können die?«, platzte ich erstaunt heraus.
Dann besann ich mich auf mein cooles Gehabe. »Ich meine... das ist
irgendwie irre.«
»Zum Glück für Grandma können sie es, ja«, sagte
Mom und griff nach hinten, um mir mein gesundes Knie zu
tätscheln.
»Und warum darf ich nicht mitkommen?« Ich
verschränkte aufsässig die Arme vor der Brust. Ich spielte zwar
gern den coolen Beinahe-Teenager, dem es schnurz war, ob und für
wie lange seine Mom wegfuhr, aber insgeheim widerstrebte es mir
doch, von ihr getrennt zu sein.
»Na, weil du Daddy Gesellschaft leisten
musst.«
Ich verdrehte die Augen und schnaubte. Wenn sie
doch endlich mit mir reden würden, als wäre ich erwachsen und nicht
erst zwölf. Trotzdem gab mir die Bemerkung meiner Mutter das
Gefühl, gebraucht zu werden, und das gefiel mir. Also fand ich mich
ohne ein weiteres Wort damit ab und beschloss, zu Hause zu bleiben
und meinen Pflichten als Einzelkind nachzukommen.
Wie sich allerdings herausstellen sollte, war mein
Dad gar nicht auf meine Gesellschaft angewiesen, denn er musste an
diesem Abend zu einem Geschäftsessen, während ich mit der
Babysitterin, einer zwanzigjährigen Studentin, zu Hause festsaß.
Elizabeth war Betreuerin in dem Sommerlager gewesen, in dem ich mit
zehn meine Ferien verbracht hatte. »Ein sehr
verantwortungsbewusstes und vertrauenswürdiges Mädchen«, wie mir
Mom nach einer ausführlichen Unterhaltung mit dem Campleiter
erklärt hatte.
Ich war nicht begeistert. »Warum brauche ich denn
einen Babysitter, Dad?«
»Das haben wir doch schon durchgekaut, Jenny«,
erwiderte er. »Sobald du dreizehn bist, lassen wir dich allein zu
Hause, aber im Moment bist du noch zwölf.«
»In neun Monaten werde ich dreizehn!«, protestierte
ich. »Neun Monate! Das ist so gut wie gar nichts.«
Doch er ließ sich nicht umstimmen. Ich hätte meine
Mutter angerufen und sie um Hilfe gebeten, aber ich wusste, sie war
in dieser Frage auf seiner Seite. Dreizehn, das war seit jeher das
magische Alter gewesen, auf das ich mich freute. Mit dreizehn, so
hatten mir meine Eltern versprochen, würde ich ein eigenes Telefon
und einen eigenen Fernseher bekommen, und ich brauchte keinen
Babysitter mehr.
Eigentlich war Elizabeth ganz okay. Insgeheim
bewunderte ich sie sogar für ihren Kleidungsstil und ihr
attraktives Äußeres. Eines Tages, wenn ich groß war, würde ich
aussehen wie sie und mich anziehen wie sie. Andererseits
repräsentierte sie genau die Ketten, die mich in meiner Kindheit
gefangen hielten, während all meine Freundinnen bereits erwachsen
werden durften.
Und zu allem Überfluss schickte mich Elizabeth
stets um Punkt zehn ins Bett. Nicht ein einziges Mal ließ sie mich
länger aufbleiben. Man möchte meinen, in Anbetracht der
Tatsache, dass sie selbst diesem kritischen Alter erst vor gar
nicht allzu langer Zeit entwachsen war, würde sie Gnade walten
lassen und verstehen, wie aufregend es war, wenn man ein bisschen
länger aufbleiben durfte als sonst. Selbst fünf Minuten wären schon
fantastisch gewesen, hätten mir das Gefühl gegeben, ich wäre fünf
Jahre älter.
Doch nein, sie stand unerbittlich an der Tür und
sah zu, wie ich ins Bett stieg, dann knipste sie das Licht aus und
eilte nach unten. Meist konnte sie es sichtlich kaum erwarten, vor
den Fernseher zurückzukehren oder das Telefongespräch mit einer
ihrer unzähligen Freundinnen fortzusetzen.
Wenn sie weg war, grummelte ich üblicherweise noch
ein paar Minuten im Bett vor mich hin, ehe ich einschlummerte,
eingelullt von Elizabeths Geplapper, das, untermalt von den Stimmen
irgendwelcher Werbesendungen, aus dem Wohnzimmer drang.
An dem Tag, als meine Mutter nach Chicago flog,
lief zunächst alles wie immer, wenn Elizabeth kam, um auf mich
aufzupassen. Sie stand an der Tür und wartete, bis ich ins Bett
gestiegen war und mich zugedeckt hatte.
»Nur noch fünf Minuten«, bettelte ich zum zehnten
Mal.
»Gute Nacht, Jenny«, sagte sie abwesend, schaltete
das Licht aus und schloss die Tür.
Ich starrte mit verschränkten Armen in der
Dunkelheit an die Decke und vermisste Mom ganz fürchterlich. Ich
wusste, sie würde erst in drei Tagen zurückkommen, und schon der
Gedanke daran machte mich traurig.
Noch ahnte ich nicht, dass meine heile Welt kurz
davor war, in sich zusammenzustürzen.
Ich schnaubte frustriert, drehte mich unwillig auf
die Seite, schob die Hände unter das Kopfkissen und schloss die
Augen.
Ich hatte etwa zwei Stunden geschlafen, denn als
ich von
gedämpften Stimmen und unterdrücktem Gekicher geweckt wurde,
zeigte der Wecker auf meinem Nachttisch zwölf Uhr.
Immer lauter kamen mir die Geräusche draußen vor.
Ich hob den Kopf und lauschte angestrengt, dann stöhnte ich
missbilligend und verdrehte die Augen. Elizabeth hielt wohl wieder
eine ihrer endlosen Telefonkonferenzen ab.
Normalerweise nickte ich bald wieder ein, aber
heute Abend war etwas anders. Ärgerlicher als sonst. Und es wollte
gar kein Ende nehmen. Also glitt ich aus dem Bett, öffnete leise
meine Tür und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, wild
entschlossen, dem störenden Treiben ein Ende zu setzen. Doch als
ich mich dem Wohnzimmer näherte, vernahm ich etwas Ungewöhnliches:
eine Männerstimme. Ich blieb stehen und lauschte. Eindeutig.
Ha! Von wegen »verantwortungsbewusst und
vertrauenswürdig«. Elizabeth hatte Herrenbesuch, im Wohnzimmer
meiner Eltern! Schelmisch grinsend schlich ich den Korridor
entlang, um sie auf frischer Tat zu ertappen.
Das würde meine Eltern lehren, mich in der Obhut
einer liebestollen College-Studentin allein zu lassen! Vielleicht
würden sie dann endlich von ihrer »wenn du dreizehn bist«-Regel
abweichen und künftig keinen Babysitter mehr kommen lassen.
Verstohlen spähte ich um die Ecke zum Wohnzimmer,
bereit, den beiden einen solchen Schrecken einzujagen, dass der
ungebetene Gast schleunigst das Weite suchen würde.
Doch was ich sah, ließ mich entsetzt zurückfahren.
Ein nie gekanntes Grauen erfasste mich, eine eisige Kälte, die
meinen ganzen Körper taub werden ließ.
Ich machte abrupt auf dem Absatz kehrt und hastete
wie von Sinnen die Treppe hinauf, panisch darauf bedacht, dass
meine bloßen Füße auf dem Holz kein Geräusch verursachten.
Nach allem, was ich gerade gesehen hatte, wollte
ich auf keinen Fall erwischt werden.
Die Treppe erschien mir endlos lang, als hätte sich
die Anzahl der Stufen binnen einer einzigen Minute verzehnfacht.
Endlich war ich oben angelangt. Ich schlich in mein dunkles Zimmer
und schloss lautlos die Tür hinter mir. Mein Herz pochte so heftig,
dass es das Flüstern und Stöhnen draußen übertönte.
Tränen der Angst stiegen mir in die Augen, als ich
zu Boden sank, verzweifelt versuchte, aus dem eben Gesehenen schlau
zu werden. Versuchte abzuschätzen, was es bedeutete, jetzt und für
die Zukunft.
Wieder und wieder sah ich dieselbe Szene vor meinem
inneren Auge ablaufen, wie eine Endlosschleife in einem Film:
Elizabeth auf dem Sofa, mit dem Kopf auf einem der
Kissen. Ihr modisches Top lag achtlos auf dem Couchtisch
zusammengeknüllt, ihr BH war schwarzrot, wie die Wäsche im Katalog
von Victoria’s Secret, den ich aus dem Mülleimer gefischt hatte,
nachdem Mom ihn aus dem Briefkasten geholt und gleich weggeworfen
hatte. Und die Hand, die so gierig ihren nackten Bauch liebkoste,
ihre schlanke Taille umschlang... gehörte meinem Vater.
Er hatte sie geküsst, wie ich ihn meine Mutter noch
nie hatte küssen sehen. Als wollte er sie verschlingen.
Wenn sich meine Eltern küssten, dann liebevoll und
zärtlich. Eine sanfte Berührung der Lippen, die eine Sekunde
dauerte, manchmal auch zwei oder drei, wenn sie sich vor einer von
Dads Geschäftsreisen verabschiedeten.
Doch das, was mein Vater jetzt dort unten machte,
hatte weder sanft noch zärtlich gewirkt. Sein Mund war offen
gewesen, und der von Elizabeth ebenfalls. Wie bei zwei
Achtklässlern, die im Schulkorridor herumknutschten. Nur weitaus
geübter.
Auf einen Schlag empfand ich ein völlig neues
Gefühl für meine Mutter: Mitleid. Sie war stets allwissend gewesen.
Wenn jemand gewusst hatte, wovor ich beschützt werden musste, dann
sie.
Doch jetzt war sie diejenige, die beschützt werden
musste. Und ich war die Einzige, die dazu in der Lage war.
In dieser Nacht wurde ich erwachsen.
Ein zufälliger Blick hatte genügt, um einen Aspekt
aus dem Leben meiner Eltern zu enthüllen, von dessen Existenz ich
bislang nichts geahnt hatte. Und dieser eine Blick in die
Komplexität einer Beziehung zwischen Erwachsenen hatte mich, das
wusste ich, dem Erwachsenendasein einen riesigen Schritt näher
gebracht. Und ich hatte in meiner Naivität immer angenommen,
erwachsen zu werden hieße, ein eigenes Telefon zu bekommen und
länger aufbleiben zu dürfen.
Als Mom drei Tage später wieder da war, brachte
sie mich abends wie üblich ins Bett. »Träum was Schönes«, sagte sie
an der Tür, die Hand schon auf dem Lichtschalter.
Doch dann erspähte sie Snuffles, der unter meiner
Bettdecke hervorlugte, und sie kam noch einmal zurück und setzte
sich zu mir. »Sieh an«, stellte sie fest und berührte sanft seinen
Rüssel. »Wie kommt’s, dass du deine Meinung geändert hast? Und
warum gerade jetzt?«
Ich holte tief Luft und drückte ihn an mich. »Ich
wollte nur sichergehen, dass er sich nicht einsam fühlt.«