39

Die Schattengestalt bewegte sich zügig auf breiten Betongehsteigen, während sie sich ab und zu umschaute. Bald blieb sie stehen, um zu lauschen, und schlug sich nach einem Moment auf eine Wiese zu ihrer Rechten, ehe sie im Dunkeln verschwand.

Jeff hatte sich viel Zeit genommen, das Büroviertel in der Gegend zu erkunden. Er kartographierte es im Kopf, nahm Notiz von Sackgassen, lohnenden Gegenständen und weiteren Einzelheiten. Auf lange Sicht gedachte er, eine Fülle von Projekten in ihrer Bleibe umzusetzen. Als er so durch die Gegend streifte, prüfte er sein Überwachungssystem. Er hatte einige schlichte Vorkehrungen getroffen, um zu bestimmen, ob irgendetwas oder jemand durch einen bestimmten Abschnitt gekommen war. Obwohl es Belege dafür gab, deutete nichts auf etwaige Einbrüche in den Gebäuden hin. Alle Türen, die Tore von Lagerhallen und großflächige Fenster waren heil geblieben. Hier und dort verschaffte er sich Zugang durch Schächte in Dächern oder Türen, die er aufstemmen konnte, und vergaß auch nicht, den Boden nach Spuren von Eindringlingen abzusuchen. Dieser Bereich war ihm wichtig, und er wollte nicht, dass irgendjemand Dinge stahl, auf die er bereits selbst ein Auge geworfen hatte. Deshalb versteckte oder verhüllte er vieles, was er nicht sofort mitnehmen konnte. Dem Anschein nach gab es jedoch nur wenige Überlebende, und als alle Welt Orgien gefeiert hatte, waren Geschäftsviertel die letzten Orte gewesen, an denen sich jemand aufhielt.

Tiefe Furchen, die zwei Paar breiter Reifen hinterlassen hatten, fielen Jeff auf. Der Wagen war aufs Gelände und um Häuser gefahren, hatte dicht vor einem Gebäude angehalten und seinen Weg dann fortgesetzt. Die Spuren setzten sich vom Gras aus über den Asphalt der Straßen fort, was dank dicker Klumpen Erde und Gras genauso gut zu erkennen war. Sie verschwanden unter dem Tor einer Lagerhalle.

An deren Seite gab es ein Fenster, und dort hinaufzuklettern, war leicht. Niemand hatte es verschlossen. Drinnen stand ein Krankenwagen. Jeff näherte sich vorsichtig und betrachtete ihn. Das Fahrzeug sah aus, als habe es sich durch Heerscharen von Zombies gefräst. Es stank grauenhaft. Gelbbrauner Schleim, in dem sich Stofffetzen und Haare ausmachen ließen, überzog die Front. Jeff schaute hinein, dann schlich er weiter durchs Gebäude. Er fand jedoch weder Zombies noch lebende Menschen. Dass der Krankenwagen hier parkte, verwirrte ihn. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu verbergen, vielleicht, um ihn wieder holen zu kommen. Nachdem Jeff durchs Fenster zurück nach draußen geklettert war, verfolgte er die Spuren zurück, in der Hoffnung, etwas Neues zu entdecken. Dabei hörte er etwas.

In der allgegenwärtigen Stille der neuen Welt fielen Geräusche auf. Ein Husten, mochte es auch noch so verhalten, schwach und leise sein, war eindeutig ein Husten. In der Nähe befand sich ein Mensch … oder doch nicht? Jahre zuvor hatte er seinen Hund husten gehört, weshalb er glaubte, dass auch andere Tiere dies könnten. Möglicherweise ging aber auch nur seine Fantasie mit ihm durch. Doch nein – da war es wieder. Das Husten führte ihn dorthin, wo der Krankenwagen vor dem Gebäude angehalten hatte.

Er ging einmal ringsherum – es war eines seiner Gebäude, er kannte sie eigentlich alle wie seine Westentasche – und stieß auf ein Paar breite Rohre. Diese enthielten elektrische Leitungen, wie er wusste. Während er sich daran hochzog und die Halterungen an der Mauer zur Hilfe nahm, vernahm er ein leises Tuscheln, je näher er dem Dach kam. Schließlich spähte er über die Kante und entdeckte zwei Frauen unter einer Plane, die wie ein Zelt aufgespannt war. Die Brüstung ragte ungefähr vier Fuß weit übers Dach hinaus, sodass man die beiden von unten nicht hatte sehen können. Eine von ihnen war so dick, dass Jeff sich fragte, wie sie es geschafft hatte, hinaufzusteigen, doch nun ergab es Sinn, dass der Krankenwagen so dicht vorgefahren war. Die andere Frau war ausgesprochen hübsch anzusehen.

Die zwei waren von Kisten, Decken, Kissen und mehr umgeben. Es sah aus, als würden sie hier wohnen. Jeff beobachtete und belauschte sie eine Zeitlang. Er schien es mit anständigen Menschen zu tun zu haben, die er einladen konnte, mit ihm ins Parkhaus zu kommen.

Er zog sich an der Kante nach oben. »Hi.«

Jeff lächelte.

Sie stießen beide einen spitzen Schrei aus.

»Ihr braucht euch nicht zu fürchten.« Er rutschte von der Brüstung herunter und ging auf die jungen Frauen zu.

»Stopp, das reicht«, sagte die Übergewichtige.

Er blieb stehen.

»Mein Name ist Jeff. Ich gehöre zu einer Gruppe von Menschen – freundlichen Menschen –, und wir richten uns eine Bleibe ein. Vielleicht wollt ihr euch uns anschließen?«

»Lisa, und das hier ist Ana.« Die Dicke musterte den Jungspund mit dem Rucksack und dem zu großen Mantel, in dessen Taschen er seine Hände vergraben hatte. »Wir warten auf jemanden, und dieser jemand kehrt bald zurück.«

»Lasst mich raten: Eure beiden Ehemänner, Soldaten einer Navy-Spezialeinheit, putzen ihre MGs nur ein paar Minuten von hier.« Jeff bemühte erneut ein Lächeln. »Na gut, ich wollte euch bloß einladen. Wir sind in dem Parkhaus am Flughafen, auf der anderen Seite des Highways.«

Lisa entgegnete: »Wir warten wie gesagt auf jemanden. Außerdem brauche ich Hilfe, wenn ich von diesem Dach runterkommen will.«

»Kommt nicht infrage, dass ich sie alleinlasse«, stellte Ana nervös klar. Sie machte große Augen.

»Na gut, bis später.« Jeff drehte sich um und verließ das Dach genau so, wie er es bestiegen hatte.

Ana lief zur Brüstung und schaute zu, wie er vom Gebäude wegging. Dann kehrte sie zu Lisa zurück. »Ich traue ihm nicht.«

»Nun, er ist ja wieder weg.« Lisa klang abschätzig.

Ana wurde hektisch. »Was ist, wenn er zurückkommt, während wir schlafen? Was, wenn er andere mitbringt?«

»Jetzt beunruhigst du mich.« Lisa versuchte, ihrer Gefährtin in die Augen zu schauen, aber ihr Blick irrte umher, als sei sie ein aufgescheuchter Vogel. »Was willst du denn tun?«

»Ich muss ihm folgen. Ich möchte sehen, wohin er geht und ob diese Parkhausgeschichte stimmt.«

»Dann bist du auf dich gestellt und lässt mich hier allein.« Nun fürchtete sich auch Lisa.

»Was schlägst du sonst vor? Warten, bis er zurückkommt, oder nicht schlafen können, solange er auf sich warten lässt? Ich muss wirklich gehen.«

Ana nahm nichts mit. Sie kletterte hinunter und folgte Jeff. Sie beobachtete, dass er ein Gebäude betrat. Die Tür fiel hinter ihm zu. Ana starrte die Tür an, überlegend, ob sie ihm da hinein folgen sollte, als eine Hand sie am Arm packte. Als sie sich umdrehte, schnappte ein Mund voller abgebrochener Zähne nach ihrem Gesicht. Sie kreischte auf und schob den Zombie reflexartig von sich weg. Er taumelte rücklinks und warf dabei zwei weitere um. Insgesamt sah Ana vier Tote, doch das waren vier zu viel. Sie fuhr herum und rannte in die einzige Richtung, die ihr noch blieb: Zu dem Eingang, den Jeff gerade genommen hatte.

Sie erreichte die Tür und zog hastig am Griff, doch die Tür bewegte sich nicht. Ana rüttelte wider jede Vernunft weiter, als hoffte sie, doch noch hineinzukommen. Nach ein paar Versuchen gab sie es auf und drehte sich um. Alle vier Zombies rückten näher.

Ana steckte zwischen der Tür, den Untoten und je einer drei Fuß hohen Mauer zu beiden Seiten des Gebäudes in der Falle. Sie überlegte gerade, ob sie es über die Mauer schaffen könnte, als eine Hand ihr Bein schnappte und zog, sodass sie rücklings hinfiel. Die Zombies gingen in die Knie, und begannen, an ihr zu zerren.

Plötzlich kippten sie nacheinander um. Jeff hatte ihre Schädel mit einem Hammer eingeschlagen. Er streckte Ana eine Hand entgegen.

»Tut mir leid, hat eine Weile gedauert. Ich musste ums Gebäude laufen, weil ich dich beim Öffnen der Tür gegen sie gestoßen hätte.« Er hielt ihr die Hand immer noch entgegen.

Ana bekam langsam wieder Luft. Sie nahm die Hand und stand auf. Jeff drehte sich um und ging.

»Vielen Dank«, rief sie ihm nach.

»Keine Ursache.« Er entfernte sich weiter.

»Hey, warte.« Sie folgte ihm. »Lässt du mich jetzt einfach hier allein?«

Nun blieb er stehen und wandte sich ihr zu. »Willst du mit mir kommen?«

»Nein …«

»Soll ich mit dir hier warten?«

»Nein, ich bin allein. Kannst du mich zurückbringen?«

Jeff zuckte mit den Schultern und ging los, diesmal in Richtung des Gebäudes, auf dem Lisa ausharrte.

»Moment, bist du mir böse?«

»Nein.«

»Siehst aber so aus.«

Jeff blieb erneut stehen und schaute sie an. »Wenn du weitersprichst, lockst du noch mehr Tote an. Ich verstehe nicht, warum du glaubst, ich sei dir böse.« Er hatte einen strengen Blick aufgesetzt. »Was willst du? Ich habe euch schon vorgeschlagen, mit ins Parkhaus zu kommen, und dir gerade das Leben gerettet. Stellst du mir aus einem bestimmten Grund nach oder bist du nur zufällig hier?«

Jetzt wurde es ihr peinlich. »Ich wollte bloß wissen, ob du die Wahrheit gesagt hast.«

Jeff sah verwirrt aus. »Wieso sollte ich lügen?«

»Dafür gäbe es viele Gründe«, erwiderte sie.

»Ich gehe jetzt da rein.« Er fummelte an einem dicken Schlüsselbund herum. Nachdem er auf die anstrengende Tour in ein Gebäude eingedrungen war – üblicherweise übers Dach –, nahm er immer die Schlüssel an sich, wenn er darinnen welche fand. Er schloss die Tür auf. »Möchtest du sonst noch was von mir?«

»Äh, ja. Ich würde mir gern das Parkhaus ansehen, das du erwähnt hast. Was meine Freundin denkt, weiß ich nicht genau, also muss ich mich mit ihr darüber unterhalten.«

»Okay.« Er drehte sich um und wollte hineingehen.

»Noch etwas.« Ana schaute sich beklommen um. »Allein fürchte ich mich.«

»Bist du mir nicht gerade eben gefolgt?« Andere Menschen stellten Jeff oftmals vor ein Rätsel. Ständig widersprachen sie sich, sagten das eine und machten das andere. »Nicht schlimm. Komm mit rein, und nachher reden wir mit deiner Freundin.«

Als sie später wieder auf dem Dach waren, erzählte Ana, wie Jeff sie gerettet hatte. Lisa richtete viele Fragen an ihn. Nach einer langwierigen Diskussion kamen sie überein, sich das Parkhaus anzusehen. Jeff fuhr den Krankenwagen aus der Halle, während Lisa eine Nachricht für Cooper schrieb. Sie vom Gebäude herunterzuholen, stellte eine Herausforderung dar. Nach der Tortur sah sie gequält und aufgebracht aus.

***

Die Fahrt zum Parkhaus dauerte nicht lange. Jeff gab Zeichen, dass alles in Ordnung war, und bekam ein entsprechendes Signal zurück. Als er an dem Gebäude vorfuhr, sank langsam der Fahrstuhl herab. Er blieb mit dem Krankenwagen daneben stehen.

Als Lisa vom Heck herunterrutschte und den Fahrstuhl sah, wurde sie nervös. Sie hatte keinen Schimmer, worauf sie sich einließen, und diese Vorrichtung war nichts weiter als eine Holzplatte an Stahlseilen. Doch die Menschen, die sie oben antraf, überzeugten sie schnell; alle kamen ihr sehr nett vor. Sie lächelte und brach in Tränen aus.

»Hey, was ist mit dir?« Ana legte einen Arm um Lisa. »Warum bist du traurig?«

»Bin ich nicht, das sind Freudentränen. Ich habe mir gerade vor Augen gehalten, wie froh ich darüber sein kann, dass ihr zwei – Cooper und du – mich gerettet habt.«

»Ja, er ist cool, nicht wahr?« Ana strahlte, während ihr Blick hinaus zur Stadt schweifte. »Was glaubst du, macht er gerade?«

»Er stellt sich bestimmt vor, dich zu küssen«, frotzelte Lisa.

»Ach, halt die Klappe«, gab Ana schmunzelnd zurück und drückte sie. »Hast du gehört? Hier gibt es eine Dusche.«

»Ja, und ich kann es kaum erwarten, sie zu benutzen.«

Anas Geste berührte Lisa tief.

Als die Sonne unterging, tünchte sie die Wolken in helles Orange. Der Himmel hingegen war dunkelblau. Die Welt wirkte so still, so friedlich, doch die baldige Dunkelheit sollte den Bewohnern des Parkhauses Terror und Schrecken bescheren. Niemand war auf das vorbereitet, was ihnen widerfahren sollte.