12

Ron dachte an Donna, während sich die Schlinge um seinen Hals zuzog. Er war allein gewesen, als man ihn gefangen hatte, und hoffte nun, Sal würde heil davonkommen.

Er fürchtete sich, war aber zugleich wütend darüber, dass er gelyncht werden sollte. Als schwarzer Amerikaner hatte man bisweilen noch immer vage Angst davor gehabt, zwar deutlich weniger als vor 50 Jahren, aber der Rassenhass war nicht ausgestorben. Er hatte in einer wohlwollenden Gemeinde gelebt, doch Ressentiments waren auch dort hin und wieder aufgekommen. Intoleranz hatte ihr hässliches Haupt erhoben, nicht ihm gegenüber, doch harte Kritik an Mexikanern, Asiaten, Christen und fast jeder anderen Gruppierung waren allgegenwärtig gewesen.

Nie hätte Ron damit gerechnet, so zu sterben. Das Atmen fiel ihm schwer, während der Strick straffer wurde. Er stand auf Zehenspitzen und rang nach Luft. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er dachte daran, wie schmerzlich er Donna vermissen würde und empfand tiefe Trauer.

Seine Frau hatte mit ihm gearbeitet – als Zahnpflegerin. Sie waren einander begegnet, als Ron die Praxis eines pensionierten Arztes übernommen hatte, wo Donna bereits angestellt gewesen war.

Sie arbeitete bei Ron weiter, woraufhin sich die beiden ein Jahr lang verbissen bemühten, ein professionelles Verhalten an den Tag zu legen, was bis zu einer betrieblichen Weihnachtsfeier gutging. Dort waren beide beschwipst gewesen und machten einen langen Spaziergang, wobei Donna seine Hand nahm. Er hatte sich ihr zugewandt und gesagt: »Ich muss Sie feuern.«

»Was?«

»Na ja, es würde sich für mich als Ihr Boss nicht schicken, Sie zum Essen auszuführen.«

»Ach so«, hatte sie mit einem Lächeln erwidert. »Dann gehe ich mit Ihnen aus, doch Sie müssen gleich nach unserer ersten Verabredung einen neuen Vertrag für mich aufsetzen.«

Seitdem waren die beiden ein Paar.

Ron keuchte, um nach Luft zu schnappen. Lichtpunkte schwammen in seinem Gesichtskreis, seine Augen schmerzten.

Er befand sich in einem Heimwerkermarkt, einer geräumigen Halle, die dunkel wie eine Höhle war. Die Entführung fiel ihm wieder ein. Er hatte Schritte gehört und geglaubt, es wäre Sal. Dann war er hinterrücks von zwei Männern gepackt und gefesselt worden. Sie hatten einen Strick über eine Deckenstange geworfen und ihm die Schlinge um den Hals gelegt. Zuerst waren sie außer Sicht geblieben, doch als sie sich dann zeigten, verlor er jegliche Hoffnung, diese Marter zu überleben. Bei diesen Männern handelte es sich um gesetzlose Biker, Mitglieder der Satan’s Angels, einer berüchtigten Bande von gewalttätigen Rassisten.

Die Schlinge lockerte sich ein wenig, sodass Ron ruckartig einatmen konnte. Er weinte; spürte, wie die heißen Tränen an seinen Wangen hinunterliefen. Dass diese Wichser die Genugtuung bekamen, ihn heulen zu sehen, machte ihn wütend.

»Sieht so aus, als hätten wir einen Buschmann erwischt, einen verdammten Nig–«

»Hey! Hey! Jetzt mal langsam, Bruder. Das Wort darfst du nicht benutzen. Das ist rassistisch.«

Sie lachten.

»Also, Jeeter, willst du mir weismachen, dass ich nicht Nig–«

Diesmal würgte ein Schlag auf den Mund des Sprechers das Wort ab.

Jeeter lachte hysterisch. Er war groß und trug trotz der Dunkelheit in der Halle eine verspiegelte Fliegersonnenbrille. Dass er die Haare kurz trug und sich glattrasiert hatte, war ungewöhnlich für einen Biker.

»Banjo, du Arsch, warum hörst du nicht auf mich, Mann?« Er zwinkerte Ron zu. »Ich steh hinter dir, schwarzer Bruder.« Jeeter lallte und torkelte beim Gehen.

Banjo war ein sehr großer Kerl. Nachdem er Blut auf den Boden gespuckt hatte, zog er sich einen wackelnden Zahn aus dem Mund. Er warf seinem Begleiter zwar einen finsteren Blick zu, schwieg aber. Jeeter war sein Anführer und Freund, und auch wenn dessen Hirn vor lauter Drogen und Alkohol zerrüttet war, bedeutete das nicht, das Banjo ihm weniger treu ergeben war. Im Grunde genommen war er selbst derjenige, dem die Gang gehörte. Jeeter fungierte bloß als Aushängeschild, doch Banjo lag es fern, seinen Kumpel vom Thron zu stoßen. Er nannte Jeeter gern seinen Boss.

Beide trugen identische Lederwesten mit dem gleichen großen Rückenaufnäher. Sie bezeichneten sie oft als Kutten, obwohl es eigentlich Jacken mit abgeschnittenen Ärmeln waren. Der Schriftzug ›Satan’s Angels‹ war auf eine breite, halbrunde Flicke – auch Patch genannt – gestickt und prangte über einem Totenschädel, darunter wiederum der Name Kalifornien auf einem zweiten langgezogenen Patch. Diese drei separaten Aufnäher wiesen darauf hin, dass die Männer zu einer Bande verbrecherischer Motorradfahrer gehörten, wobei Kalifornien ihr Einzugsgebiet markierte. Banjo hatte längeres Haar und einen ebensolchen Bart. Er trug einen deutschen Stahlhelm aus dem Zweiten Weltkrieg mit Nazisymbolik an den Seiten. Ihm zufolge habe er seinem Großvater gehört, doch niemand glaubte das, obwohl man ihm dies natürlich nie ins Gesicht gesagt hätte.

»Komm schon, lass gut sein, Mann.« Jeeter begann, am Strick zu ziehen, sodass sich Ron wieder auf seine Zehenspitzen stellen musste. »Wir müssen ihn festmachen und Fats holen, der sollte sich darum kümmern.«

»Stimmt, wir brauchen seinen fetten Arsch, um diesen Nig– … Bastard hochzuziehen.«

Fats gehörte ebenfalls zur Gang und verdiente nicht weniger Loyalität als Jeeter, obwohl er ein fetter Volltrottel war, also eher so etwas wie ein Schoßhund und weniger ein Freund.

Die beiden Biker knoteten den Strick an einer dicken Trägerstange aus Metall fest und gingen fort. Ron fing an, sich zu winden, als kurz darauf jemand seine Handgelenke packte.

»Halt still«, flüsterte Sal. »Ich will dich nicht schneiden.«

Es schnappte laut, als die Kabelbinder entzweigingen, Ron streifte sich die Schlinge über den Kopf und warf sie zu Boden. Dann fuhr er sich mit einem Ärmel durchs Gesicht. Er war davon überzeugt gewesen, sterben zu müssen und jetzt umso froher, am Leben zu bleiben. Doch sein Zorn überraschte ihn. Er wollte diese Scheißkerle umbringen.

»Schnell, wir müssen verschwinden«, sagte Sal.

Als sie den hinteren Teil der großen Halle erreichten, war noch alles ruhig. Zum Glück hatten sie das breite Rolltor bereits geschlossen, und ihr vollbeladener Van stand davor.

Ron zupfte Sal am Ärmel. »Wir können nicht fahren. Der einzige Weg führt an der Vorderseite vorbei. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind und mit wie vielen wir es zu tun haben. Die beiden wollten einen anderen Typen holen. Fats haben sie ihn genannt. Vielleicht sind noch mehr da.«

»Aber Hierbleiben steht außer Frage.«

»Verstecken wir uns, bis sie abhauen«, schlug Ron vor.

Darüber dachte Sal einen Moment nach. »Lass uns über den Zaun klettern und auf der anderen Straßenseite ein Versteck finden, um sie zu beobachten. Sobald sie verschwinden, kehren wir zurück und holen den Van.«

»Gute Idee.«

***

Die beiden brauchten fast eine Stunde, um sich in weitem Bogen um den Markt durch die Straßen zu schlagen, weil sie weder auf Zombies noch Biker stoßen wollten. Zur Beobachtung zogen sie sich aufs Dach eines Restaurants zurück. Zwischen ihnen und der Gang lagen eine vierspurige Fahrbahn mit breiter Leitplanke in der Mitte und ein Parkplatz. Sie konnten die Männer genau sehen. Das Trio harrte vor dem Eingang des Heimwerkermarkts bei seinen Motorrädern aus.

Ron fragte sich, ob sie schon bemerkt hatten, dass er geflohen war. Hatten sie die Halle bereits durchsucht und aufgegeben? Ihm fiel auf, dass mehrere Türen weit offenstanden. Welche Pläne oder Absichten sie verfolgten, darüber konnte er nur rätseln. Sie saßen auf Klappstühlen auf dem Parkplatz und tranken Bier. Direkt bei ihnen auf dem Gelände brannte ein großes Feuer. Ihre Maschinen standen gleich neben dem Eingang in einer Reihe. Es sah so aus, als wollten sie es sich eine Weile hier bequem machen. Die ganze Zeit über blieben Jeeter und Banjo sitzen und tranken, während ein dritter Mann – es konnte sich nur um Fats handeln, zumal er tatsächlich dick war – ab und an aufsprang, um sich ein paar Untote vorzuknöpfen. Er schlug ihnen die Schädel ein, schleifte ihre Leiber weg und legte frisches Holz aufs Feuer.

Nach mehreren Stunden flüsterte Ron: »Jetzt wird es dunkel, und ich denke nicht, dass diese Typen noch irgendwo hinfahren. Vielleicht sollten wir uns den Van schnappen und es darauf ankommen lassen.«

»Nein, sie würden uns jagen und einholen. Wir könnten sie mit dem Van nie abhängen, selbst wenn er leer wäre.«

Ron schwieg einen Moment, ehe er fortfuhr: »Hey, und was würden sie tun, wenn sie ihre Öfen nicht mehr hätten? Sie sitzen so weit davon entfernt, dass ich glaube, wir könnten sie unbrauchbar machen.«

Sal überlegte.

»Ich hab’s. Wir gehen außen herum zurück. Ich schleiche in die Halle und kümmere mich um die Motorräder, während du im Van wartest. Wenn ich hinten rauskomme, startest du den Motor, und wir verziehen uns.«

»Was wirst du mit ihren Feuerstühlen anstellen?« Sal flüsterte, weil er befürchtete, gehört zu werden, obwohl das unmöglich war.

»Vertrau mir, es wird dir gefallen, und mir umso mehr.«

Sie machten sich auf den Weg durchs Dunkel, langsamer diesmal und noch achtsamer. Eine Stunde später standen sie wieder hinter dem Markt. Sal setzte sich hinters Steuer des Vans, während Ron sachte die Nebentür öffnete und eintrat. Nach dem, was zuvor geschehen war, ließ Sal ihn nur ungern alleine zurückkehren. Er wusste, falls Ron noch einmal eine Schlinge um den Hals gelegt bekäme, würde er nicht davonkommen. Der Kerl bestand jedoch mit vor Rachsucht funkelnden Augen darauf. Er lächelte und ließ keine Angst durchblicken, wie er sie in dieser Situation eigentlich hätte empfinden sollen. Sal einigte sich widerwillig mit ihm darauf, zehn Minuten abzuwarten, bevor er ihn suchen würde.

Nach den längsten zehn Minuten seines Lebens stieg Sal wieder aus. Er erstarrte, als er sich vorstellte, die große, finstere Halle betreten zu müssen, während die Biker dort umgingen, fürchtete sich aber umso mehr vor dem, was drinnen womöglich von der Decke baumelte. Weil es im Markt so still war, harrte er noch weitere qualvolle 90 Sekunden aus. Als er in den Schatten des hinteren Eingangs trat, tauchte Ron auf und hielt sich einen Zeigefinger vor die Lippen. Nachdem sie die Tür leise geschlossen hatten, gingen sie zum Wagen.

Ron konnte kaum glauben, dass es ihnen gelungen war. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so gefürchtet, doch die brennende Haut an seinem Hals, sowie seine aufgeschürfte, wunde Kehle erinnerten ihn ununterbrochen daran, dass diese Schweine verdienten, was nun auf sie wartete. »Das wird eine Riesenschau«, kicherte er bei sich.

Sal hatte keine Ahnung, was nun geschehen würde, und war mehr als nur ein wenig nervös.