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Das Clubhaus der Wild Savages war ein schmutziger, alter Betonsteinklotz in einem abseitigen Winkel von Oakland in Kalifornien. Der doppelstöckige Kasten lag durch drei unbebaute Grundstücke abgesondert von den anderen Gebäuden in der Umgebung. Das Ganze umgab ein hoher Maschendrahtzaun, über den Stacheldrahtspiralen gespannt waren. Überwachungskameras ließen keinen Zoll des Geländes unbewacht. Früher hatten Kampfhunde auf dem Hof aufgepasst, doch eigentlich war es vor allem das riesige Banner mit den Erkennungsfarben der Gang über dem Eingang gewesen, das ihr in der Vergangenheit zur Sicherheit gereicht hatte.
Jetzt sah der Bunker fast wie niedergebrannt aus. Über allen Fenstern, Türen und Luftablässen zeichneten sich schwarze Dreiecke aus Ruß ab. Ein Teil der Fassade war versengt, und die Vordertür bestand aus einer provisorischen Spanplatte. In dem imposanten Zaun fehlte ein breites Stück, das herausgerissen worden war, und auf dem Hof lag ein verbogenes Motorrad. Zur Mitte hin lag am Ende eines langen roten Streifens eine Leiche mit einer Lederweste, anderswo lagen zwei tote Hunde.
In den Nachwehen der orgiastischen Phase der Virusepidemie blieb Oakland ein Trümmerfeld, auf dessen Straßen es vor Zombies wimmelte. Die einst mächtige Motorradbande war zerschlagen, da nur noch vier Mitglieder lebten: Acid, Jack, Weed und Muscle. Jeder Angehörige der Savages hatte seinen Namen anhand eines für ihn entscheidenden Lebensereignisses, Gegenstandes oder Wesenszugs gewählt – mit Hinblick auf etwas Wichtiges, Bedeutsames für ihn. Der Hauptgrund dafür war, die Verwendung bürgerlicher Namen einzuschränken, was es Gesetzeshütern – theoretisch – erschwert hätte, sie mithilfe von Wanzen oder sichergestellten Schriftstücken zu identifizieren. Alle Clubunterlagen und Korrespondenzen enthielten nur Mitgliedsnamen ohne Bezug zu den wirklichen oder überhaupt irgendeiner Identität. Außerdem klang es cooler, Muscle genannt zu werden, weil man erfolgreicher Bodybuilder gewesen war (egal wie weit dies in der Vergangenheit lag oder wie viele Pfunde sich seitdem angehäuft hatten), statt Marvin, wie man laut Geburtsurkunde hieß.
Sie verschanzten sich schon seit vielen Tagen im Clubhaus. Ihr Hunger war groß und die Moral am Boden. Als sie irgendwo in der Ferne das laute Röhren eines Motorrads hörten, schöpften sie Hoffnung, einer ihrer Bikerbrüder käme, um sie herauszuholen. Alle Versuche, die sie bisher unternommen hatten, um dem von Toten umzingelten Haus zu entfliehen, waren gescheitert. Auf den Straßen in der Umgebung hätten sie sich nicht vor Zombies retten können. Viele der Zombies waren Wild Savages, also ihre Waffenbrüder, Kumpels und Verflossenen.
Sie hörten, wie die Maschine aufdrehte und weiterfuhr. Doch auch die Toten verzogen sich allmählich. Die Straßen leerten sich, weshalb die Biker in Betracht zogen, noch einmal den Versuch zu wagen, Reißaus zu nehmen. Plötzlich klopfte es laut an der Tür.
Als sie nachschauten, sahen sie ein Mitglied einer verfeindeten Gang, einen Satan’s Angel. Die Angels hatten sich geweigert, die Farben der Savages anzunehmen, zogen mit ihren eigenen Rückenaufnähern über die Highways von Kalifornien und machten Ansprüche auf den Bundesstaat als ihr Territorium geltend. Einige Savages hatten sie ausgelacht, anderen waren sie verhasst gewesen. Die vier Übriggebliebenen nun hegten gemischte Gefühle. Die einen sehnten sich danach, die eingetroffene Hilfe in Anspruch zu nehmen, die anderen argwöhnten, der Rivale wäre hier, um die Savages zu demütigen.
Anscheinend hatte der Angel jedoch die Toten weggelockt. Er klappte seine Weste auf, um zu zeigen, dass er keine Waffe bei sich trug. Der Anführer des Quartetts war jetzt Jack, der aufgrund seiner Vorliebe für Jack Daniel’s so hieß. Er öffnete die Tür.
»Banjo! Ein Feind vor den Toren, was ist aus dieser Welt geworden?« Jack war ein muskulöser Kerl mit zahlreichen Tätowierungen und einem braunen Schopf dichter, kurzer Haare, die zum Hochstehen neigten.
»Sie ist untergegangen?«, antwortete Banjo grinsend.
»Willst du ein pisswarmes Bier?« Das fragte Acid. Seine einfallsreiche Namenswahl beruhte auf seinem ausschweifenden LSD-Konsum.
»Nö, unten im Süden – ist eine Stunde bis dorthin – haben wir selbst kaltes. Ich wollte mal nach euch Jungs schauen, also wie viele ihr noch seid. Mir kommt es ziemlich dämlich vor, weiter verfeindet zu bleiben, wo die Welt doch in einem so jämmerlichen Zustand ist.«
Alle nickten, obwohl sie nicht überzeugt wirkten. Die Männer wechselten misstrauische Blicke.
»Seht mal, ich weiß, zwischen uns kocht seit Ewigkeiten böses Blut, aber wir alle wissen, dass dieser Quatsch eine Sache von Jeeter und Bud war. Wie ich jetzt sehe, ist Bud nicht hier, und Jeeter hat sich so heftig die Kante gegeben, dass ihn nichts mehr kratzt. Versteht mich nicht falsch, ich werde ihm nicht untreu – nach wie vor würde ich für ihn töten – aber er wird mir in dieser Angelegenheit zustimmen. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Dieser Motorradclub-Unsinn bedeutet überhaupt nichts mehr. Alles, was man auf dieser Welt jetzt noch tun kann, ist Partys feiern.«
»Werdet ihr Penner dann auch den Kalifornien-Aufnäher von euren Kutten nehmen?«, fragte Muscle.
Jack winkte ab. »Muscle, er spricht die Wahrheit. Es gibt kein Kalifornien mehr, das wir zu unserem Land ausrufen könnten, also scheiß auf die Kutten. Hör mal, Banjo, ich weiß es zu schätzen, dass du so auf uns zukommst. Hierherzukommen muss die Hölle gewesen sein, darauf wette ich. Lass uns beratschlagen, danach geben wir dir Bescheid. Bis dahin kannst du dich ausruhen und bedienen. Was du findest, gehört dir.«
Banjo sah sich um. Dass es hier nichts Nützliches gab, war augenfällig, doch die Einladung und der Umstand, dass sie ihn unbewacht im Clubhaus sitzen ließen, waren sichere Belege dafür, dass man ihn willkommen hieß und für vertrauenswürdig hielt.
Eine halbe Stunde später betraten die Vier den Raum wieder. »Wir haben ohne Gegenstimme beschlossen, unsere Sachen zu packen und mitzukommen. Übrigens sind wir übereingekommen, den Club offiziell aufzulösen, nur damit das klar ist.« Jack ließ den Blick rasch über die Gesichter der Männer schweifen. »Wir sind keine Gang mehr. Das Gleiche würde ich gerne von den Angels hören. Meiner Meinung nach sollten wir die ganzen Regeln und Gesetze verwerfen und als heiterer Haufen Biker zusammenleben, die feiern bis zum Umfallen. Davon abgesehen würde ich vorschlagen, wir alle behalten unsere Kutten aus Respekt und als Andenken.«
Muscle trat vor, ein stämmiger Glatzkopf mit dicken Armen und ansehnlichem Wanst. »Ich verzieh mich, solange ich noch kann. Danke für die Offerte, aber ich habe eine Familie da draußen, die ich finden muss.« Er packte und umarmte Banjo herzlich, ein Zeichen für Akzeptanz, Loyalität und Vertrauen unter den Bikern.
Banjo klopfte ihm auf den Rücken und trat dann zurück. »Danke, Bruder.«
Weed, der wiederum so hieß, weil er in seinem Leben vermutlich Hunderte Pfund Gras geraucht hatte, nahm Banjo gleichfalls in den Arm, bevor er sprach. Für einen Biker war er alt – Mitte 60 – und spindeldürr. Die Tätowierungen und Narben, die seinen Körper übersäten, zeugten von einem langen, harten Leben, das er teilweise hinter Gittern verbracht hatte. Er besaß einen langen, grauen Bart, ebensolches Haar und nur noch sehr wenige Zähne. »Ja, danke fürs Angebot, doch ich finde es falsch, einen Bruder hier zurückzulassen, damit er sich alleine durchschlägt. Deshalb gehe ich mit Muscle, aber vielleicht schauen wir eines Tages bei euch vorbei.«
»Das hoffe ich doch schwer, Bruder«, erwiderte Banjo.
Weed zog einen fetten Joint und einen Butangas-Anzünder aus seiner Weste. Während er den Dübel ansteckte, redete er weiter: »Ich bin schon lange dabei und habe eine Menge Scheiße erlebt. Für mich war es schon immer dumm, dass sich Minderheiten gegenseitig die Köpfe einschlagen. Danke dafür, dass du den ersten Schritt gemacht hast, Bruder Banjo.« Er nahm einen kräftigen Zug, um die Glut an der Spitze der Zigarette anzufachen, und hielt sie dann Banjo vor.
Der nahm sie entgegen, als Jack eine Hand leicht anhob, um ihn aufzuhalten. »Banano.« Damit wies er ihn darauf hin, dass der Joint mit Kokain versetzt war.
Weed atmete möglichst wenig Qualm aus, während er fortfuhr: »Sorry, Mann, hab’ ich vergessen.« Er hielt weiter den Atem an, um den Kick auszukosten. Banjo zog trotzdem an dem Joint.
»Kein Problem, das kann ich gebrauchen, danke.« Er inhalierte lange, sodass die Spitze rot aufglühte und sichtbar um einen Viertelzoll abbrannte. Weed lächelte und beglückwünschte ihn mit einem hochgehaltenen Daumen.
Nach einem langen Augenblick hauchte Banjo die Luft aus. Während er sprach, strömte ihm der Qualm aus dem Mund und den Nasenlöchern. »Ich bin froh, dass ihr Jungs mich begleitet. Gemeinsam sind wir stark, und da draußen treiben sich noch viele Arschlöcher herum. Wartet nur, bis ihr seht, was wir am Laufen haben. Dann versteht ihr, warum ich es teilen und behüten will.«
***
Banjo hatte einen Pickup kurzgeschlossen, um zum Clubhaus der Savages zu fahren, nachdem das lärmige Motorrad Geschichte war. Muscle und Weed verließen das Gelände zuerst, um sich nach Norden zu schlagen.
»Wo ist dein Bike, Banjo?«, fragte Jack, als er mit einem schwarzen Kleidersack aus dem Clubhaus kam und diesen auf die Ladefläche des Wagens wuchtete.
»Da draußen stehen mehr Bikes herum, als wir zählen können. Lasst uns gemeinsam mit dem Truck fahren und uns die Mühlen ansehen, nachdem wir unser Fort angesteuert haben.«
Acid wollte seine Maschine nicht zurücklassen. Banjo konnte das nachvollziehen: Es war eine Indian, ein Oldtimer aus den 1950ern in Bestzustand. Sie hoben sie auf die Ladefläche des Pickups und zurrten sie fest.
»Sie sieht aus, als wäre sie nie gefahren worden.« Banjo zog den Verschluss eines Nylongurtes, um das Motorrad zu fixieren.
»Sie wurde nicht oft benutzt. Meine Onkel hat sie mir vermacht. Er fuhr selbst gar nicht damit. Er meinte, er hätte sie beim Kartenspielen gewonnen, aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass er sie geklaut hat. Sie häufiger zu fahren, hab’ ich nie übers Herz gebracht. Sie sieht wohl zu geil aus, schätze ich.«
»In unserem Fort werden wir einen Altar für sie bauen«, schlug Banjo vor. Acid strahlte, ihm gefiel die Idee. »Okay, dann mal los.« Banjo schaute sich auf dem Hof um. Einige Tote näherten sich von der Straße her. »Hoffentlich werden es nicht mehr. Die Maschinen der beiden anderen haben die Fresser angelockt, also sehen wir zu, dass wir uns verziehen.«
»Fresser?« Acid schaute amüsiert. »Sehr kreativ.«
»Wie nennt ihr sie denn?«, wollte Banjo wissen.
»Arschlöcher, Mann, verdammte Arschlöcher.«
So kehrte Banjo mit zwei neuen Brüdern zu ihrer Festung zurück – zwei neue Todesengel für jedermann, der ihnen in die Quere kam. Ganz oben auf seiner Tagesordnung stand weiterhin, den Saftsack zu finden, der ihre Öfen demoliert hatte. Das ließ sich nicht verzeihen, auch wenn es ein Weißer gewesen war. Banjo erzählte seinen neuen Freunden die Geschichte. Er wusste, dass der Vorsatz, Rache zu üben, innerhalb weniger Sekunden aufkommen würde, wahrscheinlich noch vor dem Ende seiner Schilderungen, und so war es auch. Die beiden kochten derart wutentbrannt, dass man hätte glauben können, es seien ihre Räder gewesen, die in Mitleidenschaft gezogen worden waren.