6

Sal konnte seine Füße kaum noch heben und bewegte sich im Schneckentempo die Straße entlang. Sein Körper spielte nicht mehr mit, er hielt ihn mit schierer Willenskraft aufrecht. Der Himmel vor ihm glühte in unterschiedlichen Farben, und bald würde ihn die Sonne blenden, die am fernen Horizont aufstieg.

Er war die ganze Nacht gelaufen, und die Santa Cruz Mountains lagen jetzt hinter ihm. Endlich stolperte er und kippte vornüber, verlor mitten auf dem Highway das Bewusstsein. Er hatte den Ort erreicht, an dem er zu sterben hoffte.

***

»Er lebt noch.« Jordan Ling kauerte vor dem großen Mann, der mitten auf der Fahrbahn lag, ohnmächtig und mit dem Gesicht nach unten. Sie befürchtete, er würde sterben, falls sie ihn hier draußen zurückließen. Bald ging die Sonne unter, und wenn sie verschwand, wurde es kalt.

Sie drehte sich nach ihren beiden Brüdern um, die fast gleichaltrig waren und einander so ähnlich sahen, dass die Menschen sie ständig für Zwillinge hielten.

»Helft mir, ihn umzudrehen.« Jordan war klein und hätte es nie geschafft, diesen Riesen alleine zu bewegen. Ihre Brüder packten mit an, doch selbst zu dritt fiel es ihnen nicht leicht.

»Danke«, sagte sie geistesabwesend. Obwohl sie als Teenager durchging, war sie Ende 20.

Ihre Brüder wirkten gelangweilt. Sie waren fast zehn Jahre jünger als sie, und Jordan sorgte sich ständig um die beiden. Während sie in Informatik promoviert hatte, schien das College für die Jungs überhaupt nicht infrage zu kommen. Die Geschwister befanden sich auf dem Weg in die Berge, wo sie sich mit ihren Eltern treffen wollten, denen dort ein Wochenendhaus gehörte.

»Hey.« Sie klopfte dem Mann leicht auf die Wange.

Seine Lider flimmerten, doch er öffnete die Augen nicht.

»Was sollen wir mit ihm machen, Jord?«, quengelte einer der Brüder.

»Weiß nicht, aber wir können ihn nicht einfach liegenlassen.«

»Was, wenn er infiziert ist?«

»Dann würde er nicht hier herumliegen, sondern nackt über den Highway rennen und schreien.«

Sal wachte langsam auf. Die Welt verschwamm in einem Farbenmeer. Er war ausgehungert, dehydriert und extrem erschöpft, vor allem aber enttäuscht darüber, noch zu leben. So schloss er seine Augen wieder, ohne die drei Personen zu bemerken, die ihn umringten. Allerdings spürte er etwas in seinem Gesicht, als tätschelte es jemand. Kurz glaubte er, es sei Maria, aber dann versetzte die Erinnerung an ihren enthaupteten Körper seinem Herzen einen Stich.

Während das Tätscheln weiterging, öffnete er die Augen ein wenig. Ohnehin ließen sich seine verklebten Lider nur schwerlich öffnen. Sein Herz tat einen Sprung – es war wirklich Maria! Er wusste, dass sie nicht mehr lebte, doch dies war ihr Geist. Vielleicht hatte er sein Leben doch ausgehaucht. Er versuchte, zu sprechen, brachte aber nur ein paar gemurmelte Worte hervor.

»Ich liebe … vermisse dich.«

Und seine Erscheinung antwortete: »Schon gut, Sie kommen wieder auf die Beine.«

Sal versuchte, eine Hand hochzuheben, um die Stimme zu berühren.

»Ich … vermisse dich.« Er verzog sein Gesicht und fing an zu weinen, doch seine Augen blieben trocken. »… so leid …«

»Ihnen geht es bald wieder gut.« Die Stimme spendete Sal Trost, eine bloße Erinnerung daran, was er verloren hatte.

»Nicht ohne … dich. Niemals … wieder gutgehen. Lass mich sterben.«

Sie klopfte ihm weiter auf die Wange. »Nein, das kann ich nicht zulassen, bedaure.«

»Niemand … der es wert ist … niemand.« Er konnte sich nicht deutlich artikulieren, seine Gedanken waren wirr.

»Komm jetzt, Jordan, der Kerl will nicht mehr leben.«

Sie warf einen bösen Blick zurück. »Meinst du das ernst? Du könntest jemanden im Stich lassen, damit er stirbt?« Ihre Brüder bereiteten Jordan Kummer, sie kamen ihr so unmotiviert und egoistisch vor.

»Er sagte doch, dass er das will«, brummte der eine zu seiner Verteidigung.

Jordan widmete sich wieder dem großen Mann, hatte aber keinen blassen Schimmer, was sie tun sollte. »Ihr seht doch, dass er nicht richtig bei der Sache ist. Wir wissen nicht, ob er wirklich sterben möchte.«

»Und was sollen wir jetzt machen?«

Jordan schaute sich um. »Dort. Tragen wir ihn hinüber. Das ist ein wenig sicherer. Wir sollten ihm Wasser geben. Dann können wir ihn mit etwas zu essen und zu trinken alleinlassen, um ihm zu helfen.«

»Ja, das können wir tun.« Einer der Brüder seufzte, beide kamen ohne Begeisterung zu ihr.

Den schweren Mann vom Highway ins Gras zu ziehen, bereitete ihnen einige Mühe. Jordan setzte sich neben seinen Kopf und flößte ihm ein wenig Wasser ein, wozu sie den Deckel einer Flasche verwendete. Nachdem sie das mehrmals wiederholt hatte, fiel ihr auf, dass er nicht schluckte, sondern die Flüssigkeit aushustete. Er hätte selbst an dieser geringen Menge ersticken können, zumindest war ihr so etwas einmal zu Ohren gekommen. Sie musste seinen Kopf zur Seite drehen, damit er Luft bekam.

Die Jungs stellten ein paar Flaschen und zwei Suppenkonserven neben ihn. Jordan fuhr damit fort, geringe Mengen Wasser in seinen Mund zu träufeln, bis er aus eigenen Stücken etwas davon schluckte. Sie fragte sich, wer er war, woher er kam und wohin er wollte. Der Highway 17 schlängelte sich viele Meilen weit durch die Berge und entlang der Strecke lebte so gut wie niemand, also war er vielleicht aus dem gleichen Grund wie sie hergekommen – um den Zombies zu entrinnen. So jedenfalls nannten ihre Brüder sie, und das waren sie allem Anschein nach auch.

Während sie sich bemühte, den Mann zum Trinken zu bewegen, musste sie unweigerlich die schrecklichen Ereignisse der vergangenen Tage Revue passieren lassen. Sie hatte sich auf der Arbeit eingefunden – einem IT-Betrieb – und sich vor dem Wahnsinn eingesperrt, um ihren Geist beschäftigt zu halten. Dann, nachdem die grässlichen Schreie verklungen und anscheinend alle gestorben waren, hatte sie sich zu Fuß auf den Nachhauseweg gemacht. Sie war die Straße hinuntergegangen, in der sie gewohnt hatte, als die Toten sich erhoben. Entsetzt hatte Jordan beobachtet, wie sich die Leichen überall in der Umgebung regten. Nackt waren sie gewesen, dreckig und schwerverletzt. Ein Mann hatte sich wenige Yards vor ihr aufgerafft und ihr den Rücken zugekehrt. Während er davonging, hatte sie ein paar Fuß seines Enddarms aus dem Anus hängen sehen wie einen dicken, roten Schwanz.

Einige Nachbarn waren draußen gewesen und schafften Leichen von ihrem Rasen. Sie zählten zu den ersten Opfern. Die Toten ergriffen sie und begannen, sie zu beißen. Sie schaute zu, wie einem Mann ein Stück Fleisch von einem Toten aus der Wade gerissen wurde, der neben ihm auf der Erde lag.

Bei diesem Anblick hatte sich ihr Magen aufgebäumt und ihr Herz heftig geklopft. Der Gebissene stieß einen grässlichen Schrei aus. Sie wollte davonlaufen, blieb aber wie angewurzelt stehen. Dann sah sie mit an, wie eine alte Dame verzweifelt versuchte, in ihr Haus zurückzulaufen. Ein dicker, nackter Mann packte sie von hinten und zwang sie zu Boden. Er biss ihr ein Stück aus der Schulter, und sie kreischte auf. Diese Laute waren das Schlimmste. Zu hören, wie jemand gefressen wurde, kam Jordan fast schlimmer vor, als dabei zuzusehen.

Die Frau wurde am Boden festgehalten, als eine weitere Leiche, ein Teenager mit langem Haar, in seiner Hast, an das frische Fleisch zu gelangen, auf den Bauch fiel. Jordan kam sich hilflos vor, während sie das sah. Der knabenhafte Tote biss in ihren Schenkel und riss ihr die Kleider vom Leib, ehe er seine Zähne noch einmal in ihr vergrub. Die Frau brüllte. Jordan hielt sich die Ohren zu, doch es war zu laut. Die Alte schrie noch lange, weil die Leichen, die sie zerpflückten, eine gewisse Zeit benötigten, um an ihre lebenswichtigen Organe zu gelangen. Der dicke, schwarze Mann aß Fleisch, das er ihr mit den Zähnen vom Rücken riss. Er trennte jeweils einen Streifen heraus und kaute gründlich, bevor er fortfuhr. Sie schlug um sich und kreischte unter seinem Gewicht. Während sie dies tat, warfen sich weitere Tote auf sie, bissen zu und zerrten an ihrem Körper. Sie kauten langsam, während sie sie am Boden festhielten. Sie schrie noch immer, als Jordan wegrannte.

Sie schaffte es zu ihrem Haus, wo sie nicht glauben konnte, dass ihre dämlichen Brüder noch lebten und wohlauf waren, auf dem Sofa saßen und sich mit Essen vollstopften. Als sie zuletzt mit ihren Eltern gesprochen hatte, waren beide wohlbehalten in ihrem Wochenendhaus gewesen, also hatte sie mit ihren Brüdern dorthin fahren wollen, aber da war kein Durchkommen. Nun versuchte sie schon seit Tagen, sich an den wandelnden Leichen vorbei zu stehlen und schleifte die beiden Dummköpfe mit. Sie schienen nicht zu begreifen, wie groß die Gefahr ringsum war.

Die Sonne ging langsam unter. Sie mussten ihren Weg fortsetzen, um nicht im Finsteren durch den Wald gehen zu müssen. Selbst in einer mondhellen Nacht sah man wegen der hohen Bäume und ihres dichten Blätterdachs die Hand vor Augen nicht, weshalb man nur schwerlich vorankam, ohne zu stolpern oder irgendwo anzustoßen. Jordan zog eine Decke aus ihrem Rucksack und wollte sie über dem bewusstlosen Riesenkerl ausbreiten.

»Wirklich?« Ihr Bruder klang verstimmt.

»Ja! Wir lassen diesen armen Mann nicht hier mitten im Nirgendwo herumliegen, und das nachts, damit wir weiter zu einem warmen, sicheren Haus gehen können. Ihr wisst, wie kalt es hier ist, wenn es dunkel wird. Gebt euch einen Ruck.« Sie packte den großen Kerl sorgfältig ein und nahm sich vor, wenn möglich, zurückzukehren, um nach ihm zu schauen.

Ihre Brüder machten sich bereits auf den Weg. Jordan schob dem großen, traurigen Mann immer noch ihre Decke unter.

»Ich wi… Ich will sterben«, nuschelte Sal wieder.

Sie tätschelte sein Gesicht noch einmal und beugte sich über ihn, während sie die Enden der Decke unter seinen Körper stopfte. »Ich habe dich nicht aufgelesen, damit du dich umbringst, okay?«

Sal nahm kaum wahr, was in seiner Umgebung geschah. Er sah Maria – beziehungsweise ihren Geist. Sie wuselte um ihn herum, ihr Haar streifte und kitzelte sein Gesicht. Das brachte ihn ein Stück weit zur Besinnung, und er erkannte, dass sie ihn rettete. Dann klopfte sie ihm wieder auf die Wangen und redete auf ihn ein, doch erst, kurz bevor er zurück ins Dunkel abdriftete, gelang es ihm, zu verstehen, was sie sagte.

***

Sal kam mitten in der Nacht zu sich. Den Himmel über ihm umrahmten die Umrisse von Ästen. Die Sterne leuchteten hell. Er zitterte, weil die nächtliche Luft kalt war – so sehr, dass es wehtat. Er blieb einen Moment lang still liegen und rekapitulierte seinen Traum. Maria hatte ihn gerettet, ja sogar mit ihm gesprochen: Ich habe dich nicht aufgelesen, damit du dich umbringst, Sal. Genau diese Worte hatte sie gesagt, dessen war er sich sicher.

Er setzte sich aufrecht hin, eine Decke rutschte von seinem Körper. Sal entsann sich, auf der Straße zusammengebrochen und vor Erschöpfung in Ohnmacht gefallen zu sein. Wenngleich er bäuchlings liegengeblieben war, hatte er sein Bewusstsein auf dem Rücken wiedererlangt. Er befühlte die weiche Decke. Woher kam sie? War ihm Maria wirklich erschienen? Er faltete den Stoff und legte sie über seine Schultern. So war ihm viel wärmer, und er schlief weiter, bis in die Früh.

Kurz bevor die Sonne aufging, wachte er auf. Die Kälte dauerte an, und Morgentau benetzte alles. Er fühlte sich jämmerlich, und als er aufstehen wollte, waren seine Glieder zu steif, zu wund, zu schwach. Seine Füße quälten ihn. Er hatte einen Schuh verloren, während der andere locker mit abgelöster Sohle auf seinen Zehen steckte. Nachdem er ihn abgestreift hatte, legte er sich wieder hin – eingewickelt in die Decke – und wartete darauf, dass sich die Sonne zeigte.

Er war hungrig und durstig, vor allem Letzteres. Was ihn zugedeckt in einen Wald verschlagen hatte, blieb ihm schleierhaft, doch der Traum, er kam ihm wirklich vor. Endlich war die Sonne so weit aufgestiegen, dass sie die Erde wärmte und bald auch trocknen würde. Sal wälzte sich herum, damit er auf allen Vieren hochkommen und schließlich versuchen konnte, sich hinstellen, als er zwei Dosen Suppe und Wasserflaschen entdeckte.

»Maria?«, fragte er leise in der Hoffnung, sie würde antworten, obwohl er wusste, dass dies nicht geschehen würde. Er war überzeugt davon, dass sie ihn gerettet hatte, und zweifelte doch an seinem Verstand.

Nachdem er beide Konserven aufgemacht und verzehrt hatte, trank er eine halbe Flasche Wasser. Zuerst wurde ihm davon übel, weil er so lange nichts zu sich genommen hatte, doch es dauerte nicht lange, bis er sich besser fühlte und wieder losmarschierte, die Flaschen an die Brust gedrückt und die Decke über die Schultern gelegt.

Als ihn etwas am Hals kitzelte, fuhr er sich mit einer Hand über die Haut und bekam ein langes, dunkles Haar zu fassen. Nun betrachtete er die Decke genauer; daran hafteten weitere Haare – Marias Haare. Sie musste ihn gerettet haben, daran bestand nun kein Zweifel mehr, und er zog sich den Stoff fester um den Oberkörper. Er vermisste sie und war immer noch traurig, ja totunglücklich, aber sie war zu ihm gekommen und hatte sein Leben gerettet. Zu überleben und das Glück wiederfinden, das musste er für sie tun. Er würde sie in Ehren halten, ihr ungeheures Geschenk an ihn. Deshalb begann er wieder, auf dem Highway 17 voranzuschreiten, und gelangte so nach San José.