24

»Das waren Schüsse!«

Lisa ermahnte Ana zum Schweigen und drückte ihren Arm. Das Geräusch klang im dunklen Wandschrank gedämpft, aber unmissverständlich. »Eine Flinte, glaube ich. Wir müssen still bleiben. Gut möglich, dass wir lange hier drin stecken werden.«

»Gut«, flüsterte Ana.

Nicht ganz einen Tag nach Coopers Aufbruch hatten die beiden jungen Frauen in Lisas Haus gesessen und sich über ihr Leben vor dem Ausbruch von Euphoria-Z unterhalten. Dann hatten sie erste Schreie gehört. Lisa war hinausgelaufen und schnell wiedergekommen. Sie waren angegriffen worden.

»Du weißt, die werden uns hier entdecken, wenn sie suchen«, flüsterte Ana. »Wir müssen dringend raus.«

Im Schrank war es fast völlig dunkel. Lisa schwieg kurz. »Ich weiß. Du solltest von hier verschwinden.«

»Nicht ohne dich. Komm.« Ana stand auf, öffnete die Tür und schlich ins Zimmer. »Können wir die Siedlung irgendwie heimlich verlassen?«

Lisa raffte sich vom Boden auf. »Ja, auf diese Weise bin ich auch in einem Wagen steckengeblieben und fast gestorben. Ich gebe dir Deckung, geh jetzt.«

Ana ignorierte sie, nahm ihre Hand und zog sie aus dem Zimmer.

Als die beiden durch eine Hintertür nach draußen gingen, hörten sie Rufe von der Straße. Männerstimmen schimpften, befahlen den Anliegern, herauszukommen oder zu sterben wie ihre Nachbarn.

Die Mauer war acht Fuß hoch, was für eine Wohnsiedlung auf einem Hügel übertrieben anmutete. Ana war bereits an einer angelehnten Leiter hinaufgeklettert und saß oben.

»Gib mir deine Hand.« Sie schaute sich beklommen um.

»Ich weiß nicht so recht. Als ich das zuletzt versucht habe, bin ich den ganzen Hang hinuntergerollt und musste mich in einem Auto verstecken.«

Ana blickte die steile Anhöhe hinunter. Sie versuchte verbissen, sich nicht vorzustellen, wie die Dicke da hinab gerollt war, musste aber unwillkürlich schmunzeln. »Jetzt komm, wir haben keine Zeit für Diskussionen.« Sie winkte ihr.

Da nahm Lisa ihre Hand und stieg vorsichtig an der Leiter hoch. Diese knarrte und klapperte, weshalb sich Ana sicher war, jeder im Umkreis von einer Meile könnte es hören. Sie hielt Lisas Hand fest, nicht ohne zu befürchten, von der Mauer gerissen zu werden. Die Ältere schaffte es bis nach oben und setzte sich auf den Stein. Ana hielt die Luft an.

Auf einmal krachte es laut, sodass sie zusammenzuckten, dann aber still sitzenblieben. Herumirrende Lichtkegel von Taschenlampen im Haus näherten sich der Hintertür, und nun stockte ihnen beiden der Atem. Sie hofften, wer auch immer dort kam, würde nicht die Leiter entdecken, die an der Mauer stand. Die Lichter irrten einen Moment umher, ehe sie abdrehten und nicht mehr zu sehen waren.

Danach polterte es im Nachbarhaus, als auch dort die Tür eingetreten wurde. Wie viele Typen waren das? Nahm man Gefangene, oder ging es nur ums Plündern? Die beiden jungen Frauen saßen im Dunkeln auf der Mauer und warteten darauf, dass sich die Fremden weit genug entfernten.

Endlich konnten sie sich rühren. Ana musste sich hinlegen und Lisas Hand halten, um wieder an die Leiter zu gelangen. Sie war zu schwer, um sie mit einer Hand zu heben, doch als Ana sie zu fassen bekam, zogen sie gemeinsam daran und hievten sie über die Mauer. Dann ließen sie sie an der anderen Seite hinunter und stellten fest, dass die Wand außen zwei Fuß tiefer fiel. Unter den gegebenen Umständen machte das einen gewaltigen Unterschied aus. Als sie die Leiter abgestellt hatten, drohte sie, vollends umzukippen. Ana kletterte hinunter, stellte sie stabil auf, und stieg wieder hinauf.

»Du musst zuerst gehen. Ich halte deine Hände und helfe dir nach unten.«

Lisa schaute ängstlich drein. Sie fing an, verneinend den Kopf zu schütteln.

»Schau, du bist schon einmal von dieser Mauer gefallen und den steilen Hang …« Ana unterdrückte einen unbeabsichtigten Lacher.

Lisa fürchtete sich zu sehr, um darauf zu reagieren. »Ich kann nicht.«

»Du musst. Ich warte, bis du heil unten angekommen bist. Willst du, dass die mich schnappen?«

In dem Moment zerschnitt das Donnern einer Flinte die Luft. Ana fuhr auf und stieß einen versehentlichen Schrei aus. Es folgten Rufe weiter unten auf der Straße aus der Richtung des Haupttors. »Wir wissen, dass ihr da seid! Kommt raus!« Der Rufer war laut und klang selbstbewusst.

Eine weitere Stimme ertönte: »Ich weiß, dass ihr hier seid. Ich will nur die mexikanische Schlampe und das Arschloch, mit dem sie sich versteckt.«

Ana riss ihre Augen weit auf. »Wir müssen jetzt abhauen. Das sind die Kerle, die mich vergewaltigen wollten und meine Zieheltern getötet …« Sie wollte Lisa über die Mauerkante stoßen. Dabei hörten sie eine dritte Stimme, die eine leise Warnung rief, ein alter Mann. Da krachte die Flinte erneut, und er verstummte.

»Wir haben noch mehr hier, die wir kaltmachen können. Ihr seid umzingelt.«

Lisa kämpfte gegen die Tränen an. »Wir müssen gehen und sie retten.«

»Und was dann: Uns vergewaltigen lassen? Denkst du, die lassen irgendjemanden von uns am Leben?«

»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Lisa mit einem Ausdruck reiner Verzweiflung im Gesicht.

»Was? Was können wir unternehmen? Ich habe gesehen, was uns diese Männer antun würden.«

»Also gut!«, dröhnte die Stimme, woraufhin von Blitzen begleitetes Getöse die Nacht erschütterte. Die beiden Flüchtigen waren nun überzeugt davon, dass niemand überlebt hatte.

»Schnell, wir müssen verschwinden!« Ana schob Lisa erneut an. Diesmal sackte sie hinunter und hielt sich fest, ehe sie abrutschte und auf der Leiter zum Stehen kam. Ana packte sie weiterhin an den Handgelenken und bemühte sich, die schwere Frau nicht fallenzulassen. Lisa kletterte mühevoll an der Leiter hinunter, und Ana folgte ihr. Dann schlitterten sie beide im Dunkeln den Hügel hinunter zum Highway.

Sie hörten einen Wagen starten, und von rechts hinter ihnen, wo sich das Haupttor befand, kam Licht auf. Ein Pickup-Truck raste die Straße hinunter auf den Highway zu. Er bog nach rechts ab und fuhr somit geradewegs in die Richtung, die auch Cooper eingeschlagen hatte.

»Die sind hinter Cooper her«, erkannte Ana. »Wir müssen ihn warnen.«

»Wie soll das gehen? Dazu müssten wir fahren, was Licht bedeutet und Lärm, womit wir die Toten anlocken würden. Außerdem könnten wir ihn nie vor diesen Typen erreichen. Wie sollen wir ihn also warnen?«

Sie gingen wortlos weiter und beobachteten, wie der Truck langsam im Dunkel verschwand. Das leise Ächzen der Zombies drang von allen Seiten zu ihnen. Ihnen blieben nur wenige Minuten.

»Am besten suchen wir uns trotzdem ein Auto«, schlug Ana vor, während sie sich panisch umschaute. Hier standen nur wenige Fahrzeuge auf dem Highway, und unter diesen war nur eine Handvoll nicht bereits von Toten besetzt. Ein weiteres Problem bestand darin, dass sie keine Zündung kurzschließen konnten. Sie suchten, bis sie auf ein Auto stießen, in dem eine um sich schlagende Tote allein steckte. Es war eine schmächtige Frau in einem Minivan. Im Innenraum sah es nicht so dreckig aus wie in anderen Wagen. Lisa winkte Ana zu sich.

»Ich brauche deine Hilfe«, wisperte sie. »Holen wir sie da raus.«

Ana starrte entsetzt drein. »Was? Sie rausholen, und dann?«

»Na ja, ich hätte da eine Idee, wie wir mit ihr fertig werden können.«

Ana atmete tief ein. »Was soll ich tun?«

Wenige Augenblicke später öffnete sie die Fahrertür, woraufhin die tote Frau eindringlicher stöhnte. Sie kippte aus dem Wagen auf Ana zu, die bereits auf die andere Seite lief. Die Frau stand auf und verfolgte sie. Weitere Tote schleppten sich aus der Dunkelheit heran.

Ana kam zügig um den Van gelaufen. Lisa saß schon auf der Beifahrerseite. Sie versuchte, die Tür zu schließen, konnte aber nicht. Ana warf sich mit voller Wucht dagegen, schaffte es jedoch auch nicht, sie zuzumachen. Sie stockte, die beiden hatten keinen Plan B ersonnen für den Fall, dass so etwas geschehen würde. Lisa passte nicht in den Wagen, doch Ana konnte sie auch nicht hierlassen.

»Mist«, murmelte sie. Gerade als die tote Frau vorne herumkam, stürzte Ana abermals los auf die gegenüberliegende Seite. Während sie am Heck vorbeilief, fielen ihr mindestens drei weitere Zombies auf, die sich näherten. Sie stieg in den Van. Lisa hielt sich am Armaturenbrett fest und hatte Tränen in den Augen. »Ich hätte dich fast umgebracht, weil ich so fett bin, so verflucht fett!«

Sie nahm die Hände zurück und fing an, rückwärts zu rutschen.

»Nein!«, schrie Ana, hielt sie an den Haaren fest und versuchte, sie wieder hereinzuziehen.

»Lass mich los!« Nun weinte Lisa.

»Nein! Ich kann nicht fahren, wenn ich dich festhalten muss, und werde dich nicht loslassen.« Die tote Frau erreichte die Fahrerseite und begann, gegen die Scheibe zu schlagen. Ana sah, wie zwei weitere aus der Dunkelheit auf Lisa zukamen. Sie drehte den Zündschlüssel, der Wagen sprang an. »Was soll ich jetzt machen?«

»Was?«, schrie Lisa. Die Antwort war so offensichtlich, dass es ihr die Sprache verschlug. »Fahr!«

Ana schrie noch lauter: »Wie bringe ich das Ding zum Fahren?«

Schlagartig erkannte Lisa Anas Problem. Die Jüngere konnte gar nicht Autofahren. Lisa streckte eine Hand aus und stellte den Schaltknüppel in Fahrstellung. Als der Van einen Satz vorwärts machte, fing sie an, das Mädchen zu unterweisen. »Dreh das Lenkrad – fester! Drück das rechte Pedal durch – nicht ganz so fest. Auf der Straße bleiben.«

Nach ein paar Augenblicken – Lisa saß immer noch nicht richtig im Wagen – fuhr Ana seitlich aus der Lücke und ein Stück die Straße entlang, bevor sie die Bremse trat. Lisa fand den Hebel an ihrem Sitz und schob ihn ganz zurück. Dann gelang es ihr, sich in die Fahrgastzelle zu zwängen und die Tür zu schließen.

»Also, während ich mir diesen brillanten Plan ausgedacht habe, ist dir nicht eingefallen, mir zu sagen, dass du gar nicht fahren kannst?«

Ana schaute sie von der Seite an. »Und du kannst nicht abschätzen, wenn ein Raum zu eng für dich ist? Wie lange bist du schon übergewichtig?«

Lisa schmunzelte. Ihr Aussehen setzte ihr zu, und Scherze darüber verletzten sie normalerweise zutiefst, doch die stammten meist von fiesen Menschen. Ana wäre ihretwegen fast umgekommen und hatte sie dennoch gerettet – sich geweigert, sie sterben zu lassen. Deshalb durfte sie über ihre Fettleibigkeit lästern so viel sie wollte.

Lisa schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich hab’ Hunger, sehen wir uns nach einer Raststätte um.«

Sie fuhren auf die Old Monterey Road. Diese verlief über Meilen hinweg mal ganz nahe, mal etwas weiter entfernt parallel zum Highway 101. Nachts, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, lernte Ana nun das Autofahren. Dabei behielten sie den Pickup im Auge, der auf dem Highway in Richtung Norden fuhr, und überholten ihn schließlich. Immer noch stellte sich ihnen die Frage, wie sie Cooper finden und warnen sollten.

Sie sahen, wie sich die Scheinwerfer des Trucks langsam über den Highway bewegten. Gelegentlich blieb er stehen und fuhr gleich darauf weiter. Die beiden jungen Frauen hatten einen beträchtlichen Vorsprung.

Unterwegs passierten sie mehrere Blechfriedhöfe, ein paar weitere Tote und einen Hund, den Ana beinahe überfahren hätte. Einige Male musste sie vor größeren Hindernissen bremsen, sodass die Leichen gegen die Scheiben schlugen. Das bereitete ihnen blankes Entsetzen. Selbst wenn sie es kommen sahen, war das Gesicht eines Zombies, der im Dunkeln gegen die Fenster knallte, etwas Gruseliges.

Lisa drehte sich zur Seite und schaute hinaus. Sie konnte nichts erkennen, wollte die Scheibe aber auch nicht herunterlassen. »Vielleicht sollten wir langsamer machen und uns an diesen Typen orientieren.«

»Weiß nicht.« Ana klang skeptisch. »Sicher, wir können dieses Spiel noch eine Zeit lang weiter treiben, aber über kurz oder lang wird etwas schiefgehen. Vielleicht entdecken sie uns, oder uns geht der Sprit aus …«

»Tja, wenn dir was Besseres einfällt, sag Bescheid.«

Sie fuhren noch eine knappe Stunde weiter, bis der Truck anhielt und die Lichter ausschaltete. Die beiden Frauen warteten ein paar lange Minuten.

»Was glaubst du, tun die?« Lisa strengte sich an, etwas zu erkennen, aber vergeblich.

»Keine Ahnung, vielleicht haben sie ihn gefunden.« Ana schaute sich um, bevor sie den Van verließ. Die frische Nachtluft einzuatmen, tat gut.

»Ich kann sie nicht sehen.« In diesem Augenblick machten sie das untertourige Brummen eines Motors und knirschender Schotter darauf aufmerksam, dass der Truck nahe war. Sie sahen ihn ein paar Hundert Yards entfernt auf der Straße kommen.

»Wir müssen schnell weiter«, drängte Lisa.

»Die jagen uns«, erwiderte Ana, während sie sich wieder ans Steuer setzte.

Sie fuhren los, und der Pickup schien ihnen zu folgen. Seine Scheinwerfer waren wieder eingeschaltet, sodass sie ihn leicht sahen, wohingegen der Fahrer nur schwerlich etwas über die Reichweite seiner Lichter hinaus erkennen konnte.