18
Ron hielt sich mit einer Hand fest und hing sprichwörtlich am seidenen Faden. Er schaute von der gähnenden Leere unterhalb zurück zur Ladung des Vans, die verhinderte, dass er sich wieder durch die Tür ziehen konnte. Scheiße, ich muss versuchen, aufs Dach zu klettern.
Er baumelte an der Hecktür. Die scharfe Kante des Metallflügels drückte ihm höllisch schmerzhaft ins Fleisch. Er bewegte sich sachte, damit die Metallkante seine Hand nicht zerschnitt. Es gelang ihm, einen Fuß auf die Stoßstange zu stellen, und besseren Halt an der Oberkante der Tür zu finden. Die Toten drängelten sich dicht ans Heck und langten nach Ron. Er bekam einen Stoß Holz zu fassen, das sie auf dem Dach festgezurrt hatten, und betete, dass es sich nicht löste, wenn er daran hinaufzuklettern versuchte.
Als er das geschafft hatte, konnte er sehen, dass eine Metallschwelle am Boden des Vans die Ladung vom Herausfallen abhielt. Er rieb sich seinen aufgeschürften Hals.
»Hey, alles klar bei dir da oben?«, rief Sal besorgt.
»Ja.« Ron wollte die wertvollen Waren retten, besonders nach dem, was sie auf sich genommen hatten, um sie zu besorgen. Er erkannte, dass die Zahl der Toten, die in das Loch purzelten, langsam abnahm. Im Osten wurde der Himmel heller, jeden Augenblick graute der Morgen, und im schwachen Licht sah er, dass die Menge auf dem Parkplatz ausdünnte. Dennoch, rings um den Van lauerten immer noch reichlich Tote, die sich nach ihm ausstreckten oder gegen die Fenster schlugen.
Ron kroch vorsichtig übers Dach, wobei er sich in der Mitte hielt und die Augen keine Sekunde lang von den Toten abwandte, die nur knapp an ihm vorbeigriffen. Er streckte seinen Kopf in der Mitte der Hecktür nach unten, um mit Sal zu sprechen.
»Hey, es werden weniger. Ich glaube, wir können versuchen, den Abgang zu machen.«
»Abgang wohin?«
Ron stellte sich aufs Dach, um den weiten Platz besser überblicken zu können. Der nächstgelegene Fluchtpunkt war das Parkhaus, doch er wollte die Toten nicht wieder dorthin führen. Dann war da noch der Bürokomplex. Die meisten der Toten schienen vom angrenzenden Highway gekommen zu sein. Ron streckte den Kopf wieder in den Van.
»Ich schätze, am sichersten ist es, wenn wir zu den Büros dort drüben gehen. Das wird ein bisschen haarig, aber wir schaffen es bestimmt.«
Sal stimmte zu.
»Bist du bereit?« Ron schaute sich wieder um, während er sich eine Fluchtstrategie zurechtlegte. »Wir brauchen Waffen«, fügte er hinzu.
Ron hörte, wie die Tür aufging, und sah den Kopf seines Mitstreiters. Die Toten knurrten und zischten lauter, während sie ihn angriffen. Dann folgte ein Geräusch, das nur ein platzender Schädel verursachen konnte und ihm schon oft zu Ohren gekommen war. Schließlich stürzte er vom Dach und landete unmittelbar vor einem Toten.
Dieser langte nach ihm, doch Ron trat ihm in den Schritt. Der Zombie fiel rückwärts hin, und diesen kurzen Moment nutzte Ron, um sich den Hammer zu schnappen, den ihm Sal hinhielt. Damit schlug er einer schlurfenden Leiche den Kopf ein, die sich auf ihn stürzen wollte. Sie streckte sich nach ihm aus – das Fleisch von den Armen abgestreift, der Schädel blutig rot, weil ihm die Haut fehlte, und die Hände, fast wie die eines Gerippes, packten Rons Schultern. Der Anblick war grauenhaft, und er schwang den Hammer unbeholfen, sodass er zwar den Schädel zertrümmerte, seinen Gegner aber nicht komplett ausschaltete. Dahinter kamen noch mehr. Ron schlug mit beiden Händen zu, um den Toten loszuwerden, doch der hielt sich fest. Dabei riss ein Arm ab und fiel auf den Boden; der andere blieb an Ron hängen. Die Leiche klapperte mit den Zähnen und bemühte sich, näher mit dem Mund an seinen Hals zu gelangen. Plötzlich aber brach sie zusammen, denn Sal hatte ihr von hinten einen weiteren Schlag gegen den Kopf versetzt. Gleich zwei rückten nach, doch diesmal war Ron bereit und schaltete flugs zuerst einen nackten Mann aus – abermals mit einem Hieb auf den Schädel –, ehe er sich einer Frau widmete, die zu Lebzeiten vermutlich attraktiv gewesen war, jetzt aber ihre heraushängenden Eingeweide zwischen den Beinen spazieren trug. Ihre Brüste waren aufgeschlitzt und hingen als Hautlappen hinunter, sodass man ihre Rippen sah, während sie große Augen machte; anscheinend hatte ihr etwas die Lider abgerissen. Ron fackelte auch mit ihr nicht lange, aber es war noch nicht vorbei.
Zu Sals Füßen lagen schon mehrere Tote. Er stakste in schwarzer Masse herum, die aus ihren Leibern und aufgesprungenen Schädeln quoll. Auch war er über und über mit dickflüssigem, ekelhaftem Schleim besudelt. Mit fast jedem Schlag, den er ausführte, spritzte ihm etwas Nasses ins Gesicht. Er verarbeitete die Zombies so wütend zu Matsch, dass es geradezu Fleisch regnete. Sal brachte jeweils zwei Schädel gleichzeitig zum Bersten – in einer Hand hielt er einen kleinen Fäustel, in der anderen einen Bauhammer.
»So langsam müssen wir abrücken«, sagte Ron, während er einen jungen Mann unschädlich machte.
»Da drüben.« Sal streckte einen bluttriefenden Hammer von sich. Er zeigte auf eine Laderampe. Dort standen mehrere Dinge herum, über die sie aufs Dach des Bürogebäudes steigen konnten.
Nachdem sie das Dach schnell abgesucht hatten, ließen sie sich auf einer flachen Metallkiste nieder. Im zunehmenden Morgenlicht blieben sie ein paar Augenblicke schweigend sitzen.
»Was für eine Nacht«, sagte Ron schließlich, wobei er fast gleichgültig klang und rote Bröckchen von seinen Armen schnippte.
»Ja«, war alles, was Sal entgegnen konnte.
Ron schaute vor sich auf den Boden. »Mann, ich will Donna nicht erzählen, was passiert ist, aber das muss wohl sein.«
Sal erwiderte nichts. Er hörte Ron, hing aber seinen eigenen Gedanken nach. Beide waren erschöpft und wohl auch hungrig, doch Essen musste angesichts der Tatsache warten, dass sie sich mit zerkleinerten Leichenteilen eingesaut hatten.
»Ich habe auch ein schlechtes Gewissen wegen der Sache mit den Bikern.«
»Verstehe. Ich werde dich zu ihnen zurückfahren, damit du dich entschuldigen kannst«, versetzte Sal ausdruckslos.
Ron rang sich ein müdes Lächeln ab. »Ich muss mich bei unserer Gruppe entschuldigen, nicht bei ihnen. Hoffentlich habe ich diesen psychopathischen Abschaum mit meiner Aktion nicht auf unsere Fährte gelockt. Ich finde keine Ruhe, solange ich weiß, dass sie irgendwo da draußen sind. Es gibt kein Rechtssystem und keine Polizei mehr. Sollen wir das selbst in die Hand nehmen?« Ron dachte laut, stellte die Frage aber auch bewusst an Sal. »Ich will nicht ständig hinter mich schauen, mir Sorgen um Donna und die anderen machen müssen, während ich darauf warte, dass wir von der Bande gefunden werden.«
»Du meinst also, wir sollten sie jagen – zuerst finden und töten?«
»Ich weiß nicht, aber früher oder später müssen wir mit ihnen aufräumen. Die anderen sollten alles erfahren. Ich will es Donna zuerst erzählen, und zwar allein. Später weihen wir den Rest der Gruppe ein.«
Sal nickte. »Dann machen wir uns jetzt besser auf den Weg.« Er stand auf.
Rings um die Büros war es ruhig. Sie erreichten das Parkhaus binnen kurzer Zeit und nahmen dann eine der Rampen. Irgendwo in der Mitte kamen ihnen die anderen von oben entgegen. Donna wollte Ron umarmen, konnte ihn jedoch trotz der Freude und Erleichterung, ihn zu sehen, nicht anfassen.
»Diesem Kerl verdanke ich mein Leben.« Ron klopfte Sal auf die Schulter.
Bill und Mary standen etwas abseits der Gruppe. Bill schnitt eine verächtliche Grimasse.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Es war kurz vor Mittag. Nachdem sich die beiden Rückkehrer gewaschen hatten, sprach Ron mit Donna unter vier Augen. Sie umarmte ihn mehrmals, während er erzählte, und schlug sich mit einer Hand vor den Mund, als er ihr seine Verletzungen zeigte. Die Unterhaltung dauerte länger als eine Stunde. Sal nutzte die Zeit, um etwas zu essen und ein Nickerchen zu machen.
Später am Nachmittag wachten Sal und Ron, der sich ebenfalls hingelegt hatte, aus ihrem kurzen Schlaf auf. Jeff brach gerade zu einem weiteren Alleingang auf. Bill ließ sich hin und wieder blicken, kam von der Dachebene herunter und verzog sich kurz darauf wieder. Niemand schenkte ihm besondere Beachtung. Irgendwann hielt er inne, baute sich barfuß vor Mary auf und verschränkte seine Arme. Dann bedachte er jedes Mitglied der Gruppe mit einem bösen Blick. Das fanden die meisten von ihnen merkwürdig. Ron war der Einzige, der ihn ignorierte.
Jeff zog gerne auf eigene Faust los und hielt sich, seit man im Parkhaus untergekommen war, so gut wie gar nicht dort auf. Er kehrte immer mit Taschen und Kisten voller Zeug zurück, das die anderen vor ein Rätsel stellte: Was wollte er damit anstellen? Auf ihre Fragen wich er aus.
Bevor er sich diesmal aufmachte, bat er Sal und Ron um Hilfe. Er wollte zum Gewerbegebiet und brauchte die beiden, um schwere Sachen zu tragen, die man zudem mit dem Van herschaffen musste.
»Ich hole den Wagen, dann entladen wir ihn.« Jeff ging die Auffahrt hinunter. Er hatte sich einen Rucksack über die Schulter gehängt.
»Hör mal, die Mühle steht da drüben auf der Kippe. Ich glaube nicht, dass wir sie zu dritt von dem Loch wegziehen können.«
»Ich meinte auch nicht uns drei, sondern mich. Das heißt: Ich allein.«
»Was?« Bill verzog geringschätzig sein Gesicht.
Jeff mochte ihn nicht, der Typ war dumm. Er hatte nichts gegen Zeitgenossen, die nicht so gescheit waren, hasste aber jeden, der eine zynische oder negative Einstellung an den Tag legte. Solche Menschen urteilten stets vorschnell über die Vorschläge anderer, brachten aber nie selbst welche hervor. Bill war so ein Typ. Jeff durchschaute, wie der Kerl wirklich tickte.
»Kind, du bist ein Träumer«, rief Bill.
»Natürlich bin ich das.« Jeff drehte sich nicht ganz um, doch sein Tonfall vermittelte den anderen, dass „das Kind“ offensichtlich einen Plan hatte. »Ich mach’s allein, wartet einfach hier. Bin bald wieder da.«
»Das muss ich sehen.« Ron lief ihm hinterher.
»Ich auch.« Sal folgte ihnen.
»Passt auf euch auf«, rief Mary. Sie betrachtete Sal, der dies nicht bemerkte. Bill hingegen entging es nicht, und er kehrte mit wütender Miene aufs Dach zurück.
***
Als sie den Van erreichten, nahm Jeff ein Stahlseil mit Karabiner an einem Ende aus dem Rucksack, legte es um einen Laternenmast und hakte es ein. Dann ging er zum Wagen, zog ein zweites Seil hervor und befestigte es an einer der Abschleppkupplungen. Zuletzt klappte er die Motorhaube auf und klemmte ein rot-schwarzes Zündkabel an die Batterie. Als er im Rucksack nestelte, ertönte ein elektronisches Sirren, und zum Vorschein kam eine kleine Winde, die nun die beiden Stahlseile strammzog. Wenige Sekunden später hatte Jeff den Van vom Rand des Lochs gezogen. Sal und Ron lächelten beeindruckt.
»Also gut, laden wir das Ding aus, damit wir die anderen Sachen holen können.« Jeff begann, sein Werkzeug wieder einzupacken.
»Hast wohl nicht Däumchen gedreht, was?«, bemerkte Sal und klopfte ihm auf den Rücken.
»Du bist ein toller Hecht.« Ron grinste.
»Das war doch gar nichts«, erwiderte Jeff schmunzelnd. »Ach, und vergesst nicht, Bill auf das Riesenloch anzusprechen, in dem ihr zwei fast gelandet wärt.«
Ron schaute ihn verwirrt an. »Wovon redest du?«
Jeff zuckte mit den Achseln. »Das weiß Bill am besten.«
»Bill hat etwas mit diesem Krater zu tun? Weiß er, wie er entstanden ist?«
»Ja, ganz bestimmt weiß er das, aber ihr müsst ihn selbst fragen. Wir sprechen nicht mehr miteinander.«
Ron grübelte, wie das Loch entstanden sein konnte. Sal sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an.
Sie fuhren mit dem Van zurück und die Rampe hinauf. Bill ließ sich nicht blicken. Das ganze Baumaterial wurde ausgeladen, kurz danach fuhren die drei wieder über den weitläufigen Parkplatz.
»Warum sollen wir Bill wegen des Lochs ansprechen?«
Ron saß am Steuer, Jeff hinten.
Der junge Mann schaute aus dem Fenster und blickte angewidert drein. »Er hatte den grandiosen Einfall, den Kanal aufzureißen, um eine Untergrundstraße für Autos daraus zu machen. Ich versuchte, ihm zu erklären, wie Abwassersysteme funktionieren, bin aber eben ein Kind, also was weiß ich schon? Als ich mir die Röhren genauer ansah, erkannte ich, dass sie als Zufluss für einen großen Wasserspeicher unter dem Parkplatz dienen. Ich bemühte mich, ihm begreiflich machen, dass das Kanalgitter, das er ausheben wollte, direkt auf diesem Speicher angebracht war, einer gewaltigen Zisterne gleich. Sie enthält vermutlich Abwasser vom Highway, den Parkplätzen und auch der Rollbahn des Flughafens, aber wie gesagt: Was kann ich schon wissen? Ich bin ja bloß in der Gegend aufgewachsen und habe die Hälfte der Kanäle in San José mit meiner Ubex-Gruppe erkundet.«
»Ubex?«, fragte Ron.
»Urban Exploration, Städteerkundung. Wir suchten all die verlassenen Orte auf und klapperten auch meilenlange Abwasserrohre ab – alles, was uns halt so einfiel.«
»Bill hat also versucht, den Kanal freizulegen, um ihn als Untergrundstraße zu benutzen?« Sal sah ein wenig verwirrt aus. »Er glaubte im Ernst, das wäre eine gute Idee?«
»Anscheinend schon. Ich sagte ihm, er soll warten, bis ihr zwei zurückkommt, doch er meinte, niemandes Erlaubnis zu brauchen.«
Das hörte sich weder für Ron noch für Sal gut an.
»Das Ärgerlichste daran ist, dass er fast den Bagger in dem Loch versenkt hätte. Er ist nur knapp davongekommen.«
»Das Ärgerlichste ist«, wiederholte Sal, »dass immer noch zwei breite Auffahrten hinauf in unser Wohnzimmer führen. Warum hat er sich nicht darum gekümmert?«
»Ah, scheiße«, warf Ron ein. Die Reifen quietschten, als er eine unvermittelte Kehrtwende machte. »Ich glaube, ich weiß jetzt, was mit Bill nicht stimmt. Wir müssen sofort zurück.«