35

Henry stolperte rückwärts und stürzte. Er fiel unsanft auf den Betonboden. Ein Knall, und das Sonnenlicht war weg, die Tür zugeschlagen. Im Dunkeln erwartete er, diesen Jeeter wiederzusehen. Stattdessen jedoch kniete ein alter Mann neben ihm und schaute sich nervös um. »Komm schon, Sohn«, wisperte er. »Wir müssen schnell verschwinden.«

Er half Henry beim Aufstehen, als man plötzlich Schritte aus der Mitte des großen Marktes hörte, die lauter wurden.

»Fats! Fats! Warte, geh nicht nach draußen! Fats!« Jeeter kam zur Tür gerannt, um seinen Kameraden davon abzuhalten, sich den Toten auszuliefern.

Henry und der alte Mann verschwanden im dunklen Labyrinth der Regale. Sie sahen, wie es heller wurde, als Jeeter die Tür öffnete, ehe sie ihn schreien und fluchen hörten. Das Licht verschwand schlagartig, als die Tür dröhnend wieder zufiel. Kurz darauf wimmerte und murmelte Jeeter im Dunkeln.

Henry verstand nicht, was er von sich gab, doch seine Stimme vermittelte Trauer. Der Alte führte ihn zu einer unauffälligen Tür in einem abgelegenen Winkel der Halle und öffnete sie. Dahinter war es ebenfalls dunkel. Sie gingen hindurch und schlossen sie leise hinter sich. Dann herrschte vollkommene Finsternis.

»Warte hier, Sohn.«

Henry hörte, wie sich der alte Mann entfernte. Nach einem kaum vernehmlichen Klicken tat sich ein senkrechter Streifen Lichts auf. Henry sah jetzt genug, um sicher durch einen Flur zu gehen, an dessen Seiten weitere Türen waren. Der alte Mann wartete an einem Treppenhaus.

Die Stufen führten sie in einen weiten Bürobereich. Der große Raum ließ sich dank geschickt platzierter Serviceschalter und Regale von unten nicht einsehen, wohingegen sich die gesamte Verkaufsfläche überblicken ließ, wenn man hier oben an den breiten Fenstern stand.

An zwei Wänden gab es Türen. Diese führten auf einen Laufsteg, der einmal um das gesamte Innere des Gebäudes führte. Mehrere schmale Gänge zweigten davon ab und verliefen quer durch die riesige Halle. Sie dienten Wartungszwecken, da sie sich parallel zu Rohren erstreckten, dicht an Flutlichtern lagen und breite Luftschächte streiften.

Der Alte brachte Henry in den hinteren Bereich des Großraumbüros. Dort setzten sie sich in große, dick gepolsterte Sessel, die rings um einen breiten Konferenztisch standen. Er flüsterte wieder: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Raum schalldicht ist, bin unter den gegebenen Umständen aber auch extrem vorsichtig.« Er streckte eine Hand aus. »Mein Name ist Ralph.«

»Henry.« Er schüttelte die Hand.

Ralph neigte sich ihm zu. »Er kann uns bestimmt nicht hören, dennoch sollten wir vorsichtig sein. Ich weiß nicht, wann der andere zurückkehrt.«

»Welcher andere?«, fragte Henry.

Ralph wischte sich die Stirn trocken, während er ruhig sprach. »Er schien mir der Vernünftigere der beiden zu sein. Er ist schon seit einer ganzen Weile von hier verschwunden. Ich konnte nur die letzten Worte aufschnappen, die ihr dort unten gewechselt habt, doch du erwähntest Benzodiazepine, speziell Klonopin, richtig?«

»Ja, anscheinend wurden mir über einen längeren Zeitraum hinweg hohe Dosen davon verabreicht.« Henry nahm eine Flasche Wasser vom Tisch.

»Zieht man in Betracht, wie stark dieses Mittel ist und was die beiden dir sonst noch gegeben haben könnten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass du dauerhaft unter Amnesie gelitten hast.«

Henry blickte zweifelnd drein. »Amnesien treten selten auf, sehr selten sogar.«

»Ja, doch man hat mehrere Fälle dokumentiert, in welchen sie Monate, sogar Jahre andauerten, und die Betroffenen führten während dieser Zeit ein normales Leben, oftmals, indem sie eine neue Identität annahmen. Offengestanden überrascht es mich, dass du nach diesem Drogen- und Alkoholmissbrauch noch lebst.« Ralph seufzte, ehe er fortfuhr: »Gut, dass der andere euch beiden Schlaftabletten gab, bevor er aufbrach. Dadurch hatte dein Körper Zeit, den Wirkstoff des Medikaments auszuscheiden, was nun aber leider auch bedeutet, dass du mit Entzugserscheinungen zu kämpfen hast.«

»Welches Datum ist heute?« Henry, der Mediziner im Vorstudium, musste zurück in den Unterricht. In dieser Situation würde er wohl ein Semester aussetzen, um sich um die Bestattung zu kümmern, die Verlesung der Testamente und andere Belange bezüglich des Familienanwesens.

Ralph nannte ihm das Datum und musste es ein paar Mal wiederholen. Henry brauchte eine Weile, bis er akzeptierte, dass er ihn richtig verstanden hatte. Seit seiner letzten Erinnerung waren fast elf Jahre vergangen. Der Kopf schwirrte ihm vor Fragen, Trauer und auch ein wenig Zorn. Er sah bestimmt genauso verwirrt aus, wie er sich fühlte.

»Was hast du geglaubt, welcher Tag heute wäre?«, fragte Ralph.

Daraufhin nannte Henry das letzte Datum, das ihm im Gedächtnis geblieben war.

Der Alte schaute ihn mit sorgenvoller Miene an. »Wir müssen eine Menge besprechen, und ich fürchte, vieles davon wirst du ungern hören und sogar für noch unglaublicher halten als einen elf Jahre andauernden Gedächtnisverlust.«

Der Mann war Dr. Ralph Foles, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Die beiden unterhielten sich mehrere Stunden lang, wobei er versuchte, die vergangenen zehn Jahre zusammenzufassen, schließlich den Asteroiden, das Virus Euphoria-Z und alles weitere, was ihm bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt bekannt war.

Irgendwann hörte Ralph auf zu sprechen, und Henry fielen keine Fragen mehr ein. Für ihn war es schwierig genug, sich damit abzufinden, über ein Jahrzehnt lang Realitätsflucht betrieben zu haben, ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf seinen Körper sowie den Morden an seinem Vater und Großvater, die seiner Wahrnehmung zufolge erst gestern geschehen waren. Jetzt stand auch noch das Ende der Welt auf seiner Liste.

»Also wurde die Weltbevölkerung innerhalb eines Monats fast vollständig vernichtet und durch Zombies ersetzt?«, fragte Henry im ausdrucksarmen, sachlichen Tonfall.

»Nun ja, ich bin mir nicht sicher, ob sie tot sind.« Ralph war es leid, darüber zu sprechen, doch dieser junge Mann verdiente Antworten. »Ich habe niemanden sterben sehen und konnte auch keinen von ihnen körperlich untersuchen. Deshalb weiß ich nicht, ob ihre Herzen vielleicht noch schlagen. Beobachten konnte ich sie bisher nur selten, doch ihr Verhalten läuft allen logischen Erklärungen zuwider, die mir einfallen.«

»Was ist mit der Regierung?«

»Oh, ihr geht es bestimmt prima, darauf wette ich. Die Obrigkeit hat es schon immer trefflich verstanden, für sich selbst zu sorgen.« Ralph verzog das Gesicht abfällig. »Der Notfunk sendete noch, als ich das letzte Mal einschaltete, also ist die Regierung, wie es aussieht, noch mehr oder weniger handlungsfähig. Allerdings kann bei ein paar Hundert Personen, die in einem unterirdischen Bunker leben, keine Rede von einer Regierung sein. Sie sind eine Gruppe von Feiglingen, die sich in einem Loch verstecken.«

»Was berichtet man auf diesem Notfunkkanal?«

»Da wird die gleiche unsinnige Nachricht in Schleife gesendet, deren Inhalt wir besser nachvollziehen können als die Urheber. Es heißt, wir wären auf uns gestellt, überall wimmle es vor Infizierten, wir sollten auf uns achtgeben, und eines Tages werde man wieder alles aufbauen. Totaler Quatsch! Den Teufel werde ich tun und beim Instandsetzen eines Systems helfen, das mir sagt, dass ich mir selbst helfen muss, wenn ich seine Hilfe tatsächlich mal brauche. Die verkriechen sich in einem Bunker, der von unseren Steuergeldern gebaut wurde, und erwarten, dass wir ihnen beim Wiederaufbau des Staates helfen, damit sie weiter Geld bei uns eintreiben können. Glaubst du, wenn wir an die Tür dieses Bunkers klopften, würden sie uns reinlassen?« Daraufhin schwiegen sie beide.

Nach einer Pause erzählte Ralph, was die Biker – Fats war einer von ihnen gewesen – mit den Menschen in dem Baumarkt gemacht hatten. Ihm war nicht aufgefallen, dass Fats mehr getan hätte, als ins Gebäude gekommen zu sein, doch Henry fragte sich, was er elf Jahre lang getrieben hatte, um sich in einer Bande von Motorradfahrern zu behaupten.

Henry schwitzte, in dem Büro war es stickig. Er dachte an den Biker Jeeter und die Weste, die er trug, wobei ihm dämmerte, dass auch er selbst eine solche anhatte. Er zog die dicke Lederkutte aus und ließ sie auf den Tisch fallen. Sie war abgewetzt, speckig und alt. Darauf prangten mehrere Aufnäher, unter welchen eine Naziflagge für ihn herausstach. Einen kleinen, bogenförmigen Aufnäher zierte das gestickte Wort ›Original‹, während einige weitere in Henrys Augen keinen Sinn ergaben, verschiedene Buchstaben und Zahlen. Als er die Weste umdrehte, sah er genau in der Mitte einen großen, ebenfalls gestickten Rückenaufnäher.

Dieser zeigte eine äußerst kurvenreiche, nackte Frau mit Teufelshörnern, Schwanz und Dreizack. Gleichzeitig hatte sie Engelsflügel, die dem breiten Patch seine runde Form verliehen, indem sie sich rings um den Körper wölbten. Ihre Geste war eindeutig pornografischer Art. In diesem Moment bemerkte Henry auch die Tätowierungen an seinen Armen.

Ralph erzählte, was in dem Heimwerkermarkt passiert war – was derjenige namens Banjo getan hatte und wie schrecklich es mit Hinblick auf den Zustand der Welt war. Er wollte, dass Henry erfuhr, was diese Männer darstellten und warum er sich in der Halle versteckt hatte. Nicht, um dem draußen lauernden Tod zu entgehen, sondern weil er Rache an den Bikern nehmen wollte.

»Ich würde gerne wissen, welcher Taten ich mich im Lauf der Jahre schuldig gemacht habe«, sagte Henry.

»So darfst du es nicht sehen, Sohn. Du hast praktisch jahrelang im Koma gelegen. Dieser Fats ist Jeeters krankem Geist entsprungen und steht in keinerlei Beziehung zu dir. Fats war eine Nachahmung, eine Marionette, die Jeeter widerspiegelte. Es ist, als hätte er dein Auto gestohlen und jemanden damit überfahren. Er hat deinen Körper entführt.«

Henry zog die Augenbrauen hoch. »Das hilft mir, es aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, danke.« Er nahm die Weste wieder in die Hände. Nicht zu glauben, dass er sich an absolut gar nichts aus den vergangenen elf Jahren seines Lebens erinnerte … Er ließ das Kleidungsstück zurück auf den Tisch fallen.

Ralph stand auf. »Dieses Ding stinkt, und ohne dich beleidigen zu wollen – du auch.« Er hob die Weste hoch, als wäre sie eine tote Ratte. »Ich werde das entsorgen.«

»Nein, warte.« Henry nahm die Weste wieder an sich. »Die denken immer noch, ich wäre ein Mitglied der Gang. Ich kann diese Jacke benutzen, um dir zu helfen.«

»Das klingt für mich gefährlich.«

»Nein, wird es bestimmt nicht. Ich lege mich einfach wieder hin und belausche, was sie zu sagen haben. Das wird uns dabei helfen, Rache zu nehmen.« Er zog die Kutte wieder an.