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Tug war wieder mit seinem Pickup unterwegs. Dabei trank er, fuhr zum Spaß Zombies nieder und wich so oft wie möglich auf Nebenstraßen aus, um den enger zusammengedrängten Gruppen zu entgehen. Die Strecke war relativ frei, da die Biker die Toten aus den Seitengassen zum Highway gezogen hatten. Tug wusste nicht mehr genau, was er tat. Er spielte mit dem Gedanken, alles hinzuschmeißen und wegzufahren, war mittlerweile heimatlos. Vielleicht würde er ein lauschiges Häuschen finden und sich dort einnisten. Einmal hielt er an, brach in eine Tankstelle ein und stahl mehrere Tüten voller Süßigkeiten beziehungsweise anderer Imbisswaren – ach, und mehr Bier. Er aß, fühlte sich daraufhin sterbenselend, und aß weiter.

Tug hatte nicht mehr Kopfschlagen gespielt, seit er aus jenem Haus getürmt war. Er fühlte sich erschöpft und einsam. Dass seine beschissenen Cousins nicht mehr lebten, verschaffte ihm Genugtuung, doch er war es gewohnt, Menschen um sich zu haben. Möglicherweise würde er neue Freundschaften schließen können. Er fuhr ziellos durch den Großraum San José, bis es dunkel wurde. Schließlich stellte er den Pickup ab und schlief ein.

Am nächsten Morgen fuhr er hoch, als jemand kräftig gegen sein Türfenster klopfte. Er war benommen und orientierungslos, ganz zu schweigen von seiner generell langen Leitung, weshalb er mehrere Sekunden einfach nur in das panische Gesicht vor der Scheibe glotzte. Dann ließ er sie einen Spaltbreit hinunter.

»Hilfe, lass mich rein!« Der Kerl lief schon auf die Beifahrerseite herum.

Tug folgte ihm mit trübem Blick, bis das Gesicht die andere Seite erreicht hatte und wieder rief: »Kumpel, mach die Tür auf, lass mich rein!«

Tug streckte sich über den Sitz aus und entriegelte, woraufhin der Kerl hereinsprang.

»Danke, Mann!«

Der Typ war jung, ein Hippie vielleicht. Immerhin hatte er langes Haar, einen Bart und ein merkwürdig buntes Shirt.

»Danke«, sagte er wieder. »Ich saß tagelang in dem Gebäude dort fest.« Er zeigte darauf, doch Tug interessierte das nicht. Er besah sich diesen Flohbeutel.

»Ich heiße Dale.« Der Typ bot ihm seine Hand an.

Tug starrte bloß geistlos weiter, was eine längere Weile dauerte, ehe er grunzte: »Tug.« Den Händedruck schlug er aus.

»Tug? Ist das irgendeine Kurzform?«

Er war immer noch nicht richtig wach und strengte seine grauen Zellen an. Dieser Kerl ging ihm bereits jetzt auf den Zeiger. Die Zombies, vor denen er geflohen war, kamen zusehends näher. Nicht mehr lange, dann würden sie bei ihnen sein.

»Wohin fährst du?«

Tug wandte sich ab. »Weiß nicht, hab’ kein Ziel.« Er ließ den Wagen an und rollte vorwärts.

»Ich auch nicht.« Dale nahm eine lässige Sitzhaltung an.

***

Eine Stunde später hatte Tug immer noch nichts gesagt. Er war nicht verlegen, sondern völlig empfindungslos, und wusste schlichtweg nicht, wie er sich mit einem normalen Menschen unterhalten sollte.

Er fuhr wieder durch die Gegend, um den Mann aufzuspüren, der ihn niedergeschlagen hatte, doch dieser Vorsatz rückte immer weiter in den Hintergrund. Eigentlich konnte er sich gar nicht mehr daran erinnern, wie der Kerl überhaupt aussah. Vielmehr suchte er nach Alkohol, etwas zum Beißen und einem Ort, an dem er die Seele baumeln lassen konnte, eventuell sogar die Gesellschaft einer Frau. Er machte sich Sorgen, dieser Dale könnte ihm die Chance verhageln, falls ein heißes Babe die Straße entlangkam.

Dale wiederum fand seinen Retter gelinde gesprochen … sonderbar. Er wollte niemanden aburteilen, der nicht die beste Erziehung genossen hatte, aber dieser Gestank – halleluja! Das Führerhaus des Pickups war mit leeren Bierdosen, Essensverpackungen und Zigarettenstummeln vermüllt, Krümel und Flecken überall, und sein Mundgeruch war am schlimmsten. Er raubte Dale den Atem, sobald er ihm entgegenwehte, also nahezu die ganze Zeit über, da der Mann nicht durch die Nase atmete. Ihm fiel ein Knäuel auf dem Sitz auf, bei dem es sich um Frauenunterwäsche zu handeln schien, was ihm zur Warnung gereichte. Dieser Kerl schien wirklich nicht richtig im Kopf zu sein. Dale fühlte sich in Tugs Gegenwart zusehends unwohler, und zwar in jeglicher Hinsicht. Solche Menschen hassten bestimmt auch die Polizei, also würde er seine Marke versteckt halten und schweigen.

Seine kleine Zweitwaffe steckte seitlich an seinem Brustkorb in einem flachen Gurthalfter. Er gab vor, ein illegaler Cannabiszüchter zu sein. Er hatte sich in eine Bande eingeschleust, die mit der Droge handelte, und zwar gezielt an Highschools in ganz Kalifornien.

Dale war recht schnell klar geworden, um welchen Schlag Mensch es sich hier handelte, noch bevor Tug etwas gesagt hatte. Vermutlich ein Krimineller, genauer gesagt einer der eher üblen Sorte, der hinterhältig und dumm war. Der Ex-Bulle wollte ihn im Auge behalten, bis er sicher sein konnte, dass er für niemanden eine Gefahr darstellte. Im Herzen war er immer noch ein Ordnungshüter, ein Beschützer. Nun galt es, das Vertrauen des Typen zu gewinnen.

Anhand verstohlener Blicke nahm er Details zur Kenntnis, die von beschränktem Intellekt, Hygienemangel und einer gewalttätigen Vita zeugten. Tug trug Brandmale von Zigaretten und andere Narben, und das bezog sich nur auf seine Hände und Unterarme.

»Scheiße.« Dale zog an seinem Kragen. »Hast du ein Shirt, das du mir borgen kannst? Ich hasse dieses Hippiezeug. Hab es mir bloß auf der Flucht geschnappt.«

»Nein«, antwortete Tug.

Gesprächig war er also nicht, doch Dale konnte nicht einfach ohne guten Grund drauflos plappern, denn das hätte bemüht gewirkt. Da fiel ihm ein Baumarkt auf.

»Hey, fahr mal da ran, dort gibt es Flanellhemden, wie ich sie mag. Kennst du die?«

Keine Reaktion.

»Na ja, mir gefallen sie.« Das stimmte tatsächlich. Außerdem schätzte er kurzes Haar und ein glattrasiertes Gesicht. Darum wollte er sich alsbald kümmern – sobald er sich über Tug klargeworden war.

Als der Pickup stoppte, stieg Dale aus. Die frische Luft war wunderbar. Nach ein paar Anläufen hatte er ein Fenster des Ladens eingetreten und stieg hindurch. Von drinnen hörte er, wie der Motor ausging, ehe die Fahrertür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Obwohl der Eingang fest verschlossen war, hatte jemand das Geschäft geplündert, wahrscheinlich durch die Hintertür.

In dem düsteren Raum fand Dale Hemden nach seinem Geschmack und wechselte rasch sein Oberteil, damit Tug das Halfter nicht entdeckte. Danach begann er, sich nach anderen nützlichen Dingen umzusehen, doch die Einbrecher hatten nicht nur geplündert, sondern dabei auch den Laden verwüstet. Irgendetwas von Wert unter den vielen Waren auf dem Boden zu finden, gestaltete sich schwierig. Es gab keine Wasserfilter mehr, dafür aber jede Menge Stretchhosen und Skibrillen.

Am Ende eines Gangs stieß Dale beinahe mit Tug zusammen. Dafür, dass er so dick war und stank, verhielt er sich sehr still, und das mutete gruselig an. Er stierte Dale an.

»Fertig hier, können wir fahren?«, murmelte er.

»Jepp.« Dale folgte ihm durch den Markt. Er wollte ihm nicht den Rücken zukehren.

Er hatte den Weg zur Hütte eines Freundes in den Sierra Nevada Mountains zu Fuß zurücklegen wollen und war dabei zu vielen Gelegenheiten fast von den Toten in die Enge getrieben worden. Auf der Flucht vor einer großen Gruppe hatte er den Truck mit dem im Sitz zusammengesunkenen Fahrer entdeckt.

Nun lief er hinter Tug her, während sie alle weiteren Läden der Einkaufsstraße passierten, wobei er vor den breiten Flachglasschaufenstern langsamer wurde, um sich zu betrachten. Mit dem Flanellhemd über seiner Jeans, den langen Haaren und dem Bart wirkte er wie ein Hinterwäldler. Er war froh, seine Hippiesandalen nicht zu tragen, sondern irgendwelche unscheinbaren Motorradstiefel. Dale entspannte sich.

Tug steuerte einen Spirituosenladen an. Dabei kamen sie an einem Schreib- und Spielwarengeschäft vorbei, an dessen Fenster Menoras und andere religiöse Symbole geklebt waren. Tug grinste schief, als er daran vorbeiging.

Der Schnapsladen war aufgebrochen und ausgeraubt worden, doch Tug trat ein und ging bis in den hinteren Teil des Gebäudes. Unterwegs schnappte er sich Pornomagazine in Stößen, blätterte sie durch und ließ sie fallen. Hinter einer Theke führte eine Tür mit offenem Vorhang in einen Raum voller weiterer Zeitschriften. Dies war eindeutig der Bereich, in dem die harten Sachen auslagen. Dale beobachtete, wie Tug nahezu alle Hefte zur Hand nahm und beim Durchblättern schief grinste. So perfekt, wie er dies wiederholte, hätte man es komisch finden können. Tug blickte höhnisch auf Asiatinnen, Schwarze, Latinas oder fette Frauen, wohingegen ihn die Exponate für Schwule anscheinend empörten. Auch warf er einen Blick auf die Lesbensparte und schnappte sich ein paar Magazine, ehe er zum Sadomasostoff kam. Dort lächelte er – ein schauriger Anblick – und nahm so viel, wie er tragen konnte.

Diesen Fetisch wollte Dale nutzen. Sein Ding war dieser Kram zwar nicht, doch das galt andererseits für 99 Prozent dessen, was er zu sein vorgab. Er hatte schon bei Undercover-Missionen auf rechtsextrem, pädophil oder Meth-abhängig gemacht – jegliche verachtenswerte Sorte Mensch, die zum jeweiligen Zeitpunkt gefragt gewesen war. Nun musste er den Folterfreak mimen – einen Typen, dem bei solchem Scheiß einer abging. Nichts leichter als das!

»Darf ich auch reinschauen?«

»Nimm dir selbst welche.«

»Die besten hast du doch schon! Keine Bange, die darfst du behalten, aber ich würde sie mir gerne ausleihen, und du musst nicht befürchten, dass die Seiten hinterher zusammenkleben.« Dale lachte.

Tug schmunzelte und drückte ihm die Hälfte der Hefte in die Hände.

»Danke, Mann!« Dale drehte sich um und ging. Draußen blieb er im Licht stehen und legte den Stapel Magazine auf einen geschlossenen Mülleimer. Eines schlug er auf und betrachtete eine Frau, die so fest verschnürt war, dass sich die Haut dunkelrot verfärbt hatte, wo ihr Fleisch zwischen den Seilen hervorquoll. Dabei dachte er: Oh mein Gott, ist dieser ganze Quatsch echt?, dann: Das ist wirklich kranker Scheiß, und: Man muss schon ziemlich pervers sein, um sich von so was antörnen zu lassen. Was er jedoch sagte, war: »Oh, Mann! Volltreffer! Sieh dir diese Schlampen an.« Er strahlte, als habe er gerade im Lotto gewonnen, hätte dem Kerl aber am liebsten in die Fresse gehauen.

Dale würde ihm zwei Tage geben und ihn dann in Ruhe lassen, wenn er sich als harmlos herausstellte. Falls nicht, wusste er nicht genau, wie er vorgehen würde; wahrscheinlich musste er ihn dann töten.

Sie fuhren den ganzen Tag lang. Stunde um endlose Stunde hockten sie im Wagen. Dale wollte ergründen, was Tug im Schilde führte, bekam aber nichts heraus.

Irgendwann fuhren sie langsam am Flughafen vorbei. Scharen von Toten strömten wie Wasser über die breiten Fahrspuren der Ankunfts- und Abflugterminals. Sie umfuhren die benachbarten Bürogebäude und gelangten endlich am Parkhaus vorbei auf den Highway. Dale bemerkte Menschen, die sich darin bewegten – nur ein paar – und kehrte sich Tug zu.

Dessen Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er kniff die Augen zusammen, bremste den Truck ab und schaute eine Weile hinüber, bis sie den Bau im niedrigen Tempo hinter sich gelassen hatten. Dann drehte er sich noch einmal danach um. Es bestand kein Zweifel, dass er sich für die Personen im Parkhaus ungemein interessierte.

Tugs Hand ruhte auf einem Revolver mit kurzem Lauf unter dem Fahrersitz, weil er auf eine Möglichkeit wartete, seinen Mitreisenden zu erschießen, um dann zum Flughafengelände zurückzukehren.

Dale freute sich unterdessen auf die Hütte, die Einsamkeit und die Sicherheit in den Bergen. Zwei Tage mit Tug, dem Perversen? Ihm war schon viel Schlimmeres untergekommen.