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Es donnerte – leise und in der Ferne –, woraufhin Sal sofort stehenblieb. Die Stadt war so still gewesen, so leer und tot, dass ihm dieses Geräusch Sorgen machte, wenn auch nur kurzzeitig. Zuerst zweifelte er daran, überhaupt etwas gehört zu haben, doch dann wurde es lauter und erstarb zur Gänze. Sal ging immer noch ziellos weiter, fand aber jetzt seinen Lebenswillen wieder, wenigstens zum Teil.

Der Ort war eine Geisterstadt. Gern hätte er gewusst, wo die Bewohner dieser Gegend abgeblieben waren. Allein in den Wohnungen der wenigen Häuserblocks, die ihn umgaben, mussten Tausende gelebt haben. Er vernahm keine Schreie, nichts deutete auf Kämpfe oder Tänze hin. Ein paar Autowracks, an denen er vorbeikam, sahen richtig übel aus. Auch stieß er auf Leichen – Anhaltspunkte dafür, dass hier das Gleiche wie in Monterey passiert war, allerdings nicht annähernd in dem Ausmaß. Vielleicht waren sie anderswohin abgewandert. Er suchte weiter nach Lebenszeichen, wurde aber nicht fündig.

Sal blieb auf dem Highway 17, der in Nummer 880 überging, und näherte sich gegen Mittag dem Flughafen von San José. Unterwegs hatte er mehrere riesige Leichenberge gesehen, und Straßen, die über Meilen hinweg mit einem Teppich toter Leiber bedeckt waren. Als er sich nun dem Flughafen näherte, bemerkte er Menschen, die sich bewegten. Von der Hochstraße aus konnte er fernab große Scharen ausmachen.

Als er eine Einkaufspromenade erreichte, ging er zur Brüstung des Freeways, um hinabzuschauen, und war schockiert, was er dort sah. Unter ihm entspann sich ein dichtgedrängter Ozean von Leibern. Dieser erstreckte sich so weit das Auge reichte. Sal blieb stehen, um sie genauer zu betrachten, weil mit ihnen eindeutig etwas nicht stimmte. Sie schwankten langsam im Einklang, was wie ein merkwürdiges Kräuseln anmutete.

Er ging weiter, wurde aber bald müde. Nun trank er den Rest des Wassers. Alles blieb ruhig. Er hatte die gewaltige Menge hinter sich gelassen, die anscheinend auf das Zentrum der Promenade fixiert gewesen war.

Als er zu einer Ausfahrt gelangte, sah er ein paar Gestalten auf der Straße, die entweder herumstolperten oder gingen, aber nicht tanzten oder sich vergnügt aufführten. Er wusste, dass etwas im Argen lag, und nahm sich vor, von ihnen fernzubleiben, egal was geschah.

Schließlich verließ er den Highway, um etwas zu essen und zu trinken zu suchen. Während er eine Abfahrtspur hinunterging, kam er auf eine große Kreuzung, die vielversprechend wirkte. Doch fielen ihm auch dort einige wenige Personen auf, die sich schlurfend näherten. Da er weder eine Waffe noch eine Vorstellung davon hatte, was mit diesen Menschen los war, drehte er nach rechts ab und schlug sich in eine hohe Wiese. Durch sie gelangte er zu einem Fastfood Restaurant am Rande des Highways und setzte seinen Weg die Straße hinunter fort. Die langsamen Wanderer folgten ihm, und weitere, die aus allen Richtungen kamen, schlossen sich an. Dass diese Menschen ihm einfach stillschweigend und schweren Schrittes nachliefen, war unheimlich, ja regelrecht beängstigend. Er fühlte sich unwohl mit ihnen im Nacken, machte sich aber noch keine allzu großen Sorgen, weil sie immer noch weit entfernt waren.

Sal lief weiter, und die Menge wuchs. Mittlerweile musste er gut einhundert Anhänger haben, die allmählich zu ihm aufschlossen. Er schlug einen schnelleren Schritt an. Dabei passierte er einige geplünderte Geschäfte und überquerte noch eine breite Straße. Seine trägen Verfolger ließen nicht ab, und ihre Zahl wuchs beständig.

Sal setzte zu einem gemächlichen Lauf an. Überall standen demolierte Fahrzeuge, und Müll lag herum, doch die Stille dauerte an. Er näherte sich einem großen Lebensmittelladen. Räuber hatten die Schaufenster eingeschlagen, und ein großer Teil ihres Diebesguts lag verstreut auf dem Parkplatz. Sal hoffte, dennoch dort etwas zu essen und Wasser zu finden.

Auf dem Platz standen auch ein paar Autos. Er hatte Bedenken, das gewaltige Gebäude zu betreten, während diese Menge ihm auf den Fersen war. Er konnte nicht abschätzen, ob sie eine Gefahr darstellten, dennoch war es ihm lieber, sie möglichst bald abzuhängen.

Als er zwischen einen Van und einen Lieferwagen trat, packte ihn eine Hand an der Schulter, eine andere am Arm, und er spürte etwas Spitzes, Gezacktes an seinem Hals kratzen. Das erschreckte ihn so sehr, dass er sich fast in die Hosen machte. Ein paar Sekunden lang bewegte er sich gar nicht, während die Hände beharrlich zogen. Weitere hielten ihn fest und zerrten noch kräftiger.

Sal war sich nicht sicher, was er tun sollte. Handelte es sich um eine Waffe in seinem Genick?

»Shit, der Kerl ist ein verdammter Schrank!«, sagte eine Männerstimme.

»So viel zum Auflauern und Überraschen«, bemerkte ein anderer lapidar.

»Umdrehen, und zwar plötzlich!«

Die Hände ließen ihn los. In der offenen Tür des Vans kauerten drei Männer. Einer hielt eine Pistole und schaute finster drein, die beiden anderen wirkten heiter.

»Alter, woraus bist du gemacht? Bleistahl?«, fragte einer, ein Schwarzer. Er lächelte und war mit einem Schürhaken bewaffnet. Sal fiel auf, dass dessen Ende feucht aussah.

»Steig ein, los.« Ein weißer Jungspund winkte ihn hinein. »Du lockst sie herüber, komm rein.« Der Kerl trug einen dunklen Mantel und eine Wollmütze.

»Oh je, die Kiste ist viel zu klein.« Der ältere Weiße zielte weiter mit einer Pistole auf Sals Brust. »Tut mir leid, wegen der Wumme, aber wir wollen dir eigentlich helfen. Bleib ruhig sitzen, dann reden wir, außer, du willst wieder raus. Versuch irgendwas Dummes, und ich perforiere dich.«

Der Schwarze erhob sich, schaute aus der Schiebetür des Vans und zog den Kopf rasch wieder ein. »Kacke, das ist ‘ne ganze Menge, die da aufmarschiert. Wir müssen abhauen.« Daraufhin setzte er sich hinters Steuer und startete den Motor.

Sal saß im Gepäckraum auf dem Boden. Der Ältere mit dem Schießeisen blieb ebenfalls sitzen, während der Jüngere auf die Beifahrerseite kletterte.

Sals Blick fiel gebannt auf eine Kiste mit Nahrungsmitteln und mehrere Kästen Wasser, die neben ihm standen.

»Bediene dich«, bot ihm der Alte an.

Das ließ sich Sal nicht zweimal sagen. Er nahm eine Flasche Wasser und leerte sie in einem Zug.

»Ich bin Bill, der Kleine heißt Jeff, und der andere Ron.« Bill war ungefähr so alt wie Sal, aber bereits ergraut. Er trug sein Haar fast militärisch kurz, allerdings mit etwas mehr Stil.

Jeff schaute Ron mit amüsierter Miene an. »Klar, das 23-jährige Kind.«

»Na ja, verglichen mit Bill und mir eben.« Ron, der Fahrer, schaute gelegentlich in den Rückspiegel, um Bill und Sal zu sehen. Jeff drehte sich zur Seite und starrte aus dem Fenster. Ron redete weiter: »Besser bekannt als Brummbär, Schlafmütze und Hatschi. Letzterer bin ich, weil der Name am besten zu meinem Beruf passt – Zahnarzt. Jeff grübelt und liest viel, kann aber auch überall einschlafen, daher Schlafmütze. Bill hingegen ist einfach nur ein Arschloch.« Ron lachte laut über seinen eigenen Witz. Bill setzte ein Grinsen auf.

»Wenn du mich jetzt schon Arschloch nennst, musst du mich erst noch kennenlernen«, konterte er süffisant. »Wie dem auch sei, wir versuchen, an einem Strang zu ziehen, weil wir einsehen, dass niemand von uns eine bessere Wahl hat. Falls du uns magst und wir nichts gegen dich haben, darfst du unserem kleinen Club hier beitreten, aber keine Bange, wir halten uns nicht wirklich für die Sieben Zwerge oder so.«

Sal entgegnete kein Wort. Er aß, trank und fragte sich, ob er bei diesen Typen bleiben oder weiterziehen sollte.

»Mensch, müssen wir dich erst Seppel nennen?«, frotzelte Ron.

»Warum nicht Pimpel«, entgegnete Jeff.

Sal grunzte. »Was passiert, wenn wir die Sieben vollmachen?«

»Sollte es überhaupt so viele Überlebende auf der Welt geben, kriegen wir das schon hin«, antwortete Ron, während er wieder in den Spiegel schaute.

»Nicht so voreilig«, lenkte Bill ein. »Wir lernen einander wohl erst besser kennen – und hört mit den Zwergennamen auf.«

Nachdem sie vor den Toten davongefahren waren, hielten sie auf einem abgelegenen Parkplatz an und schoben die Tür wieder auf. Dann luden sie Essen, Wasser und mehrere Klappstühle aus, ehe sie einander erzählten, was sie erlebt hatten, ausgenommen Jeff. Ron und Bill waren schon lange befreundet, gemeinsam in San José aufgewachsen und zur Highschool gegangen. Sie hatten einander für ungefähr zehn Jahre aus den Augen verloren und dann auf einmal Tür an Tür gewohnt. Beide mochten sowohl Football als auch Bowling und hatten jüngst versucht, in Rons Garage Bier zu brauen. Jeff war ihnen erst vor ein paar Tagen über den Weg gelaufen, nachdem er die Flucht vor einer Horde Toter ergriffen hatte. Er war vollbeladen mit Nahrungsmitteln aus einem Supermarkt gekommen.

Ron lachte. »Ich hab noch nie jemanden gesehen, der sich an Cheetos festklammert, als ob sie aus Gold seien, und sein Leben für Junkfood aufs Spiel setzt.«

»Zunächst einmal«, konterte Jeff, »waren es Doritos mit Ranch-Geschmack. Weißt du, wie schwierig es ist, die während des Weltuntergangs zu finden. So wie es aussah, waren sie das Erste, worauf es alle Plünderer abgesehen hatten. Zweitens sind sie jetzt theoretisch sogar wertvoller als Gold, das dir heute eigentlich gar nichts mehr bringt. Lebensmittel generell sind ein kostbares Gut, und ach ja, noch etwas: Doritos fallen nicht unter Junkfood, sondern Hirnnahrung.«

»Helft mir mal auf die Sprünge.« Ron schaute zu Jeff hinüber. »Sollte das gerade lustig sein?«

Der Jüngere grinste ihn an. »Hast du das nicht erkannt?«

»Na gut, du musst mir bei Gelegenheit erklären, wie ich unterscheiden kann, ob du es ernst meinst oder Witze reißt.« Ron schüttelte den Kopf. »So ist Jeff jedenfalls zu uns gestoßen, und da wären wir.«

Sal gab ihnen einen schnellen Abriss seines Lebens, von der Panikmache um den Asteroiden über den Ausbruch des Virus bis zur Gegenwart.

»Du hast die letzte Phase der Seuche also verpasst«, schlussfolgerte Ron.

»Da kannst du aber froh sein«, versetzte Bill.

»Du warst einen ganzen Tag lang besoffen, am nächsten verkatert, und dann zwei weitere unterwegs?« Ron staunte. »Ich kann nicht fassen, dass du noch lebst.«

»Du hast das ganze Gerenne, Geschreie und Verrecken verpasst«, gab Jeff an. »Glückspilz.«

Sal traute seinen Ohren kaum. Er durfte froh darüber sein, dass seine langsamen Verfolger ihn nicht geschnappt hatten.

Als die Sonne unterging und die Temperatur fiel, wurden die Männer still. Sie hielten ihre Augen nach den Toten offen.

»Warum habt ihr versucht, mich festzuhalten?«, fragte Sal nach langem Schweigen.

»Damit du nicht hopsgehst«, antwortete Jeff unumwunden.

Bill hustete. »Wir können niemanden sterbenlassen, doch während der letzten Tage kam es mehrmals vor, dass uns jemand, als wir ihm helfen wollten, mit einer Waffe bedrohte und unser Essen klaute, egal was wir gerade bei uns hatten. Deshalb versuchten wir etwas Neues: Dich zu retten, ohne dir die Chance zu geben, uns auszunehmen.«

»Und was jetzt?«, wollte Sal wissen.

Bill zuckte mit den Achseln. Seit Neuestem konnte man keine Frage stellen, die deprimierender war als diese.

»Ron hat da so seine Vorstellungen«, deutete Jeff an, während er in den Himmel schaute. »Ein paar richtig tolle Ideen.«