17

Cooper senkte sein Zielfernrohr. Er konnte es nicht fassen: In einem dieser winzigen, Kraftstoff sparenden, die Welt rettenden Autos mit zwei Türen und zwei Sitzen saß eine Frau, die so fett war, dass er sich nicht vorzustellen vermochte, wie es ihr gelungen war, die Tür zu schließen.

Ana zeigte über den Highway. »Sieh mal, Häuser.«

Er folgte mit den Augen ihrem Fingerzeig und machte auf einem steilen Hügel den Rand einer umfriedeten Wohnsiedlung aus. Irgendwo am Fuß der Anhöhe stand vermutlich ein Pförtnerhäuschen mit Kameras und einem Wachmann, der die Menschen kontrollierte, die ein- und ausgingen. Vom Aussehen her handelte es sich um hübsche Eigenheime, die in gebührendem Abstand errichtet worden waren. Cooper setzte das Fernrohr wieder an und ließ den Blick an der Mauer entlangschweifen; kein Lebenszeichen.

»Vielleicht finden wir dort eine Bleibe für die Nacht.«

Er schaute zurück zu der Frau in dem Auto, die weiter winkte und noch verzweifelter aussah als zuvor.

»Hast du die Lady in dem Wagen gesehen?«, fragte er und zeigte auf den Highway.

Ana hielt sich eine Hand über die Augen und blickte hinüber. »Ich sehe sie, glaube ich.« Er gab ihr das Fernrohr. Sie schaute hindurch. Dann kicherte sie plötzlich.

»Denk daran, sie kann nichts dafür, dass sie so ist, also lache sie nicht aus, wenn wir zu ihr kommen.« Das kleine Auto war zwischen einem Tieflader und einem anderen PKW eingeklemmt. Cooper würde den Laster aus dem Weg schaffen müssen, der auf der Fahrerseite stand. Die Frau würde sich nie durch die Beifahrertür zwängen können.

»Sorry, aber du musst zugeben, dass sie ein witziges Bild abgibt.«

»Ja, schon klar.« Er grinste. »Gehen wir. Bleib dicht hinter mir.«

***

Sie brauchten nur ein paar Minuten bis auf den Highway. In einigen Autos steckten Tote, die stöhnten und gegen die Scheiben klopften, um herauszukommen. Ana blieb dicht hinter Cooper. Sie trat ihm in die Hacken und stieß mehrmals gegen ihn. Als er sich umdrehte, um sie zu bitten, etwas Abstand zu wahren, sah er, dass sie sich wegen der Zombies fürchtete. Er streckte einen Arm nach hinten aus, um Ana seine Hand anzubieten. Sie nahm sie und packte fest zu. So gingen sie schnell weiter. Die Frau bemühte ein Lächeln und winkte ihnen wieder, doch ihr Blick sagte so etwas wie: Um Gottes willen, holt mich verdammt nochmal hier raus!

Nachdem Cooper Ana auf den Tieflader gehoben hatte, kletterte er selbst hinauf und begab sich zu der Frau. Er legte sich auf die Ladefläche und sprach durch das halboffene Sonnenverdeck zu ihr: »Ich muss den Laster wegfahren.« Daraufhin stieg er ins Führerhaus, suchte jedoch vergeblich nach einem Schlüssel. Als er den Schalthebel in Leerlauf gebracht hatte, spürte er, wie der Tieflader ins Rollen kam. Er drehte das Rad von dem Kleinwagen weg und sprang hinaus.

»Bleib hier, Ana«, verlangte er.

Es quietschte laut metallisch, als der Laster von dem Auto wegrollte. Dann ging Cooper hinüber und half der Frau heraus. Sie fummelte umständlich herum, ehe die Tür aufging. Als sie sich im Sitz nach vorne beugte, ächzte sie. Ein extrem eindringlicher Geruch stieg Cooper in die Nase; es stank zwar nicht so schlimm wie das faulende Fleisch überall auf dem Highway, war aber trotzdem ziemlich übel.

»Oh mein Gott!« Die Frau wälzte sich aus dem Wagen und verharrte auf allen Vieren, wobei sie abwechselnd schluchzte und lachte. Als Cooper ihr beispringen wollte, berührte er ihre Haut; sie war kalt und trocken. Die Dame litt eindeutig unter Dehydration und fantasierte.

»Ich brauche nur einen Moment«, entschuldigte sie sich. »Hab fast drei Wochen in der Karre gesessen – nein, drei Monate –, ohne Essen oder Wasser. Meine Beine, ich spüre sie nicht mehr. Mein Kopf! Ahhh!«

Sie war definitiv weggetreten. Länger als ein paar Tage hätte sie in dem Wagen nicht überleben können. Cooper war ihrer Lautstärke wegen unwohl zumute; sie plapperte laut, gackerte, heulte und hielt sich den Kopf. Er hatte keine Ahnung, was er mit ihr anstellen sollte. Sie trug keine Schuhe mehr, und ihre Füße waren dunkelblau verfärbt.

»Du solltest dich umdrehen und hinlegen. Das Blut muss zurück in die Beine fließen.« Er legte eine Hand auf ihre Schulter und half ihr dabei, sich auf den Rücken zu legen.

Cooper erhob sich wieder, während sie grunzte und ächzte. Er schaute sich um, aber Gefahr bestand immer noch nicht. Ana stand auf der Ladefläche des Lasters und beobachtete die Umgebung. Cooper nahm eine Einmannpackung und eine Flasche Wasser aus seiner Tasche. Das Essen reichte er Ana. »Jetzt Appetit?«

Dann ließ er sich neben der Lady nieder und öffnete die Wasserflasche. Indem er ihren Kopf stützte, träufelte er ihr etwas daraus in den Mund. Dabei redete er mit ihr.

»Ich bin Cooper, und das ist Ana.«

Die Frau murmelte: »Lisa.«

»Okay, freut mich, dich kennenzulernen.« Er sah nach Ana, die das Dosenbrot und die Konfitüre aus der Feldration verzehrte, während sie skeptisch auf eine Tüte Spaghetti schaute. Der Fruchtriegel war schon verschwunden.

»Das Essen ist richtig gut, oder?«

Lisa meldete sich: »Jede Wette! Ich habe nichts gegessen seit …« Sie verstummte wieder.

Cooper träufelte ihr weiter kleine Mengen der Flüssigkeit ein. Danach stand er auf und ging ein paar Minuten nervös herum. Er wusste nicht, was er als nächstes machen sollte. Er kehrte zu Lisa zurück. Nachdem er eine Tüte Pasta aufgerissen hatte, gab er ihr ein wenig davon.

»Fühlst du dich besser? Du bist so still.«

»Tut mir leid, ich genieße bloß unser romantisches Essen.« Sie zwinkerte ihm zu, obwohl er erkannte, dass sie immer noch Schmerzen hatte.

»Ich bin zu jung für dich.« Cooper schmunzelte und widmete sich ihren Füßen. Er massierte sie, um den Blutfluss anzuregen.

»Wie alt, glaubst du, bin ich?«, fragte sie mit vorgetäuschter Empörung.

»Wie alt, glaubst du, bin ich?«, gab er zurück.

»25.«

Cooper lächelte. »Ich bin 19.«

»Unsinn.«

»Nein, wirklich.« Er sah tatsächlich erwachsener aus, auch weil er so groß war, nicht zu vergessen sein Bart.

»Tja, und ich bin 29. Dumm gelaufen für dich, was?«

Er überlegte sich einen gewieften Konter, als Ana über die Seitenwand der Ladefläche lugte.

»Äh, Cooper, da kommt wer.«

Er fuhr ruckartig hoch und schaute mit dem Fernrohr zurück auf die 101 in Richtung Salinas. Dort bewegte sich ein riesiger Schwarm Toter auf der Straße entlang. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sie dahinzogen, würde es etwa eine Stunde dauern, bis sie die Unfallstelle erreichten.

»Die müssen uns seit Prunedale folgen.« Cooper ließ Lisa noch etwas ausruhen, während er beobachtete, wie die Zombies langsam näherkamen. Währenddessen unterhielten die drei sich. Ana war 17, wie sich herausstellte. Lisa fragte, wie er und Ana aneinandergeraten waren. Cooper berichtete knapp bis zu dem Punkt, an dem er Ana hatte »retten müssen«, erklärte aber nichts Genaueres. Lisa konnte sich den Rest denken, weil ihr Anas schmerzlicher Gesichtsausdruck auffiel. Mehrere Augenblicke lang herrschte Schweigen.

»Wir müssen bald los«, sagte Cooper schlussendlich.

»Wegen der Kranken«, fügte Ana wie selbstverständlich hinzu.

»Ja, und es sind eine Menge von ihnen. Aber uns wird nichts passieren«, versprach er. »Die sind langsam und noch sehr weit weg.« Dann sprang er wieder auf den Asphalt und ging neben Lisa auf die Knie. »Kannst du laufen?«

»Falls sie mit Kranke die Toten meint, dann ja, verdammt.«

Cooper musste sich gehörig anstrengen, um ihr auf die Beine zu helfen. Ana versuchte, mit anzupacken, indem sie fest gegen Lisas Gesäß drückte, und grunzte schließlich laut. Ihr Zutun brachte eigentlich nichts, doch Cooper kam nicht umhin, breit zu grinsen. Er hatte Mühe, nicht loszuprusten.

Als Lisa endlich stand, drehte sie sich um und schaute ihm strahlend in die Augen. »Weil du mir das Leben gerettet hast, werde ich dich wegen deines Grinsens nicht umbringen.«

»Was?« Jetzt brach er in Gelächter aus. »Ich hab doch gar nichts getan!«

Auch Ana grinste. »Du hast gesagt, ich dürfte mich nicht darüber lustig machen, dass sie dick ist.«

»Na, da sagst du was – und lächelst dabei?«

Lisa schmunzelte aber ebenso. »Ihr findet, ich sei dick? Liegt das an der Hose? Das Ding lässt mich so aussehen, richtig?«

Cooper lachte so heftig, dass Tränen an seinen Wangen hinunterliefen. Er bekam kaum noch Luft.

»Nicht fair, nicht fair … Habe nie das Wort dick in den Mund genommen«, japste er. »Ihr zwei seid schrecklich, ich lache nicht über dich.« Er zeigte auf Lisa. »Sondern über dich.« Er meinte Ana.

»Okay, okay, wir haben ihn lange genug gefoltert«, sagte Lisa. »Gehen wir, Kindchen.« Sie nahm Anas Hand.