KAPITEL 50
NEW YORK CITY – TRINITY CHURCH – WALL STREET
Grübelnd saß Kilian in dem kleinen Garten vor der Trinity Church und musterte die Hochhäuser, die sie umgaben. Es war warm, die Sonne schien auf den Broadway, der sich allmählich wieder mit Menschen füllte. Kein Militärfahrzeug mehr, keine Soldaten. Vor der Kirche hatten sich vorwiegend junge Menschen versammelt, unter denen sich herumgesprochen hatte, dass hier der harte Kern von Anonymous kampierte.
Mit beiden Händen fuhr sich Kilian durch das schwarze Igelhaar, dann nahm er seine Brille ab und putzte sie mit einem Taschentuch. Seine Hose und sein helles Sakko waren fleckig und zerknittert. Doch es störte ihn nicht. Die letzten Tage hatten sein Weltbild völlig auf Kopf gestellt.
Früher hatte er Nova und Torben mit ihrem Weltverbesserungsgerede eher kritisch gesehen. Jetzt hatte er seine Lektion gelernt. Für Nova hatte er sogar Hochachtung gewonnen. Diese widerborstige junge Frau hatte mehr Mumm in den Knochen als all die Mädels, mit denen er bisher zusammen gewesen war.
Gerade kam sie nach draußen. Blinzelnd trat sie in die Sonne, entdeckte Kilian und setzte sich zu ihm.
»Du glaubst nicht, wer gerade durch die Nachrichten geturnt ist: Mikael Wallins!«
»Wie bitte? Wallins?« Er kniff die Augen zusammen.
»Genau, unser Saicom-Chef. Der hatte doch echt die Frechheit, sich vor die Kameras zu stellen und ein Statement abzusondern, der Opportunist. Hat rumgetönt von quelloffener Software in freien Netzen. Und dann den Spruch rausgehauen: Freies Denken braucht freie Medien, freie Medien brauchen freie Technologien. Und dass Saicom jetzt die digitale Welt retten wird und so weiter.«
»Der würde auch Eiswürfel am Nordpol verkaufen.«
»Eine schleimige Ausgeburt, so ein Scheißanpasser.« Sie schob sich die Ärmel ihres Ringelshirts hoch. »Stell dir vor, er hat Anonymous zum grandiosen Sieg beglückwünscht! Ausgerechnet er! Dieser …«
Nova stockte. Im Gewühl vor dem Kircheneingang sah sie eine vertraute Gestalt. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Sie sprang auf und rannte los.
»Torben!«, schrie sie über die Köpfe der Leute hinweg. »Alte Ratte, was machst du für einen Bullshit?«
Sie drängelte sich durch die Menge und flog in seine Arme.
Torben brachte kein Wort hervor, drückte sie nur an sich. Nova war die beste Freundin, die er je gehabt hatte. Nach den Tagen voller Angst und Ungewissheit durchflutete ihn endlich Erlösung, gemischt mit Erschöpfung.
Nova schob ihn von sich und begutachtete ihn von oben bis unten. »Siehst ganz schön durchgeknetet aus. Aber du bist hier der absolute Held. In den Medien ist die Hölle los. Alle wollen wissen, wer der Irre ist, der sich mit der CIA angelegt hat.«
»Lass mal gut sein.« Torben befreite sich aus ihrem Griff. »Irgendwer musste das tun.«
Nova spürte einen Stich. Etwas war anders. Lag es an Torbens ernster Stimme? Es war, als wäre er erwachsener geworden, abgeklärter und distanzierter.
Er registrierte Novas Unsicherheit und drehte sich um.
»Darf ich dir June Madlow vorstellen? Ohne sie wäre ich nie aus dem Bunker rausgekommen.«
Nova musste nur den Blick sehen, mit dem er die athletische dunkelhaarige Frau streifte, um zu wissen, was los war. Erstaunt stellte sie fest, dass sie keinerlei Eifersucht empfand.
»Er übertreibt, hören Sie nicht auf ihn.« June streckte Nova die Hand entgegen.
Nova ignorierte die Hand. Stattdessen umarmte sie June. »Danke, du hast mir meinen Bruder zurückgebracht.«
Torben hatte sich vor der Begegnung der beiden Frauen etwas gefürchtet. Nun war alles ganz einfach. Nova hatte es endlich ausgesprochen: Er war ein Bruder für sie, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
»Hey, der Anarcho ist wieder da!« Kilian war neben ihnen aufgetaucht. Er klopfte Torben auf die Schulter.
»Dass ich dich mal in einem Basislager von Anonymous sehen würde, ist schon ziemlich abgedreht. Hattest du eine Offenbarung oder so was?«
»Sagen wir mal, ich hatte Nova. Sie hat mir die Augen geöffnet für das, was wirklich läuft.«
Es war wie ein Remis. Torben hatte ihn bestohlen, und Kilian? Er hatte seinen Arsch gerettet. Torben konnte keinen Zorn mehr empfinden. Schließlich hatte er Kilians Verhalten mit seinem Diebstahl provoziert.
»Komm in meine Arme, Mann!«
»Es tut mir leid Torben. Ich hatte keine Ahnung, in was du da reingerutscht bist. Ich denke, wir sollten uns ein paar Tage nehmen und …«
»Vergiss es. Ist schon abgehakt, mein alter Freund! Du hast es ja nicht dabei belassen.« Torben drehte sich um. »Ich will euch noch jemanden vorstellen.«
Er winkte einer schwarzen Limousine zu, die jenseits der eisernen Pforte auf der Straße hielt.
Zwei Männer in schwarzen Anzügen öffneten den Wagenschlag. Ein hagerer langhaariger Typ in schmutzigen Jeans und blauem Shirt stieg aus und steuerte auf Torben zu.
»Darf ich vorstellen? Robert Miles.« Torben machte eine galante Geste. »Er war mein stiller Wächter im Bunker und hat mir tolle Nachrichten gebracht. Peter Norris lebt noch!«
Nova fiel fast die Kinnlade herunter. »Was? Wo ist er? Ich hätte einige Dinge mit ihm zu klären.«
»Es ist alles okay, Nova, er hat mich beschützt, so gut er konnte.«
»Komm, jetzt genießt du erst mal deinen Erfolg!« June zog ihn zur Limousine und bedeutete den drei anderen mitzukommen.
Torben war alles andere als nach feiern zumute. Als sie den Times Square erreichten, war der Platz überfüllt mit Menschen. Sie drängten sich zwischen Cafés, Fast-Food-Restaurants und Souvenirläden und strömten auf den überdimensional großen Screen zu, auf dem üblicherweise Werbespots liefen. Jetzt sah man darauf Szenen der Occupy-Demonstrationen, bejubelt von der Menge. Die Limousine stoppte. Eine gigantische Party schien stattzufinden. Oder eher eine Art Halloween. Überall sah man Leute mit Guy-Fawkes-Masken, die Plakate schwenkten. Fliegende Händler verkauften Getränke und Hotdogs, aus mannshohen Boxen dröhnte rhythmische Musik.
»Was ist denn hier los?«, wunderte sich Torben, der zwischen June und Nova im Fond der Limousine saß.
»Eine Art Familientreffen«, antwortete Nova. »Alle freigelassenen Anonymous kommen heute hierher! Und ihre Anhänger natürlich.«
Robert Miles, der neben dem Fahrer saß, drehte sich zu ihnen um. »Ist euch eigentlich klar, dass gerade ein Erdrutsch stattfindet? Seht auf die Screens.« Auf einem Laufband wurde verkündet, dass vor einer Stunde weltweit Betreiber von Suchmaschinen und sozialen Netzwerken verhaftet wurden. »Die hingen alle mit drin, Facebook, Google und Konsorten.« »Das war überfällig«, kommentierte Torben die Information. »Die User wurden systematisch bespitzelt, aber das ist erst der Anfang!«
»Wer wüsste das besser als ehemalige Saicom-Mitarbeiter«, bestätigte Kilian. »Jetzt drohen den Managern Anklagen wegen Datenmissbrauchs. Offenbar haben sie die Operation Silent Control unterstützt. Durch eine Spionagesoftware gingen alle Daten direkt zum NSA-Überwachungszentrum in Utah und dann zur weiteren Auswertung zur CIA.«
Auf einem der großen Screens erschien eine Livesendung von CNN.
… Wie der Leiter des Repräsentantenhauses bestätigte, wird das weitere Vorgehen auf UN-Ebene besprochen. In Planung steht offenbar die Gründung einer Kommission, die neue Parameter für den Datenschutz ausarbeiten wird. Damit soll künftig der Zugriff auf private Daten reguliert werden. Am Rande wurde bekannt, dass die Software eines schwedischen Anonymous zum Einsatz kommen könnte, der vom suspendierten CIA-Direktor Roy Clark gefangen gehalten wurde. Sämtliche Regierungen wurden unterdessen mit …«
»Du bist gerade berühmt geworden!« Nova klatschte in die Hände.
Torben hörte das alles andere als gerne. Wenn er jetzt schon zu Anonymous gezählt wurde, wollte er sich an deren Ethos halten und nicht als Einzelkämpfer dastehen. Er war jetzt noch zufriedener, dass er nie Fotos von sich ins Netz gestellt hatte. Doch mit der neuen Entwicklung konnte er sich nicht anfreunden. Gehörte er nun unfreiwillig zu diesem Kollektiv der Wächter über die Freiheit des Internets?
Während die anderen weiter aus dem Fenster sahen, stupste Nova Torben in die Seite. »Wirst du mich in Stockholm besuchen?«
Entgeistert sah er sie an. »Woher willst du wissen, dass ich hierbleibe?«
»Ich spüre, dass du nicht mitkommst.« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »June und du, ihr passt zusammen. Vielleicht habt ihr es noch nicht geschnallt, aber es knistert total zwischen euch.«
Sie bemerkte, dass June die Ohren spitzte, und verstummte.
»Du bleibst immer mehr als eine Freundin. Du bist meine Familie, das ist doch kl…«, Torben hielt inne. Ein Schauder durchfuhr ihn. Er stieß Robert Miles an. »Was meinte Norris mit … das ist erst der Anfang?«
»Keine Ahnung, Mann.«
»Ich brauche sofort einen Rechner und die Daten.«
»In der Kirche sitzen noch jede Menge Hacker und verbreiten die frohe Botschaft«, witzelte Kilian.
»Na, worauf warten wir dann noch.«
June strich sich nervös über ihre Jeans. »Was ist los?«
»Die Verschlüsselung einer Datei war zu gut für Clark. Da stimmt einfach was nicht. Miles hast du noch deinen RSA-Schlüssel dabei?«
»Klar!«
Es dauerte, bis die Limousine es durch die Menschenmenge wieder bis zur Trinity Church geschafft hatte.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Auf dem Weg zu den Hackern sah Torben nachdenklich auf den goldenen Altar. Er musste an Peter denken. Sicher war er nicht, ob er ihn überhaupt jemals wiedersehen wollte. Er brauchte keine Vaterfigur mehr, das wurde ihm mit einem Mal bewusst. Es fühlte sich gut an. Er musste jetzt etwas Eigenes auf die Beine stellen. Während des Flugs hatte er schon überlegt, ob er vielleicht mit Miles ein Start-up gründen sollte. Eine kleine Firma, die sich auf die Aufdeckung von Datenspionage spezialisieren würde. So etwas wie Saicom kam ohnehin nicht mehr infrage.
»Was ist? Kommst du nicht?« June stand vor ihm. Auf der Bank der hintersten Reihe saßen Kilian und Nova bereits mit Miles an einem Rechner.
»Lass mich mal ran.«
Miles legte Torben den Laptop auf den Schoß. »Dann gehen wir doch mal in die Zentrale der CIA.«
»Wieso, die Datei ist doch vor dir?«
»Ich brauche erst die verschiedenen Arten, wie die Passwörter der CIA generiert werden oder welche Kryptologie sie verwenden. Ich sagte ja. Das Ding ist nicht ohne. Mit dem Analyseprogramm kann ich das vielleicht in einigen Minuten schaffen. Es erkennt eine Tendenz, wie die Passwörter aufgebaut sind, und dann kann ich hoffentlich Clarks lösen.«
Ungewohnt langsam bewegte sich Torben durch die Programme. June beobachtete ihn, erkannte seine Erschöpfung und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Keine Sorge. Ich krieg das schon hin.« Auf dem Bildschirm öffneten sich verschiedene Fenster. In atemberaubender Geschwindigkeit fügten sich die unterschiedlichsten Zeichen in die Maske ein.
»Was glaubst du zu finden?« June strich sich ihre lange Mähne zurück. Kilian und Nova blickten gebannt auf den Bildschirm.
Miles verzog den Mund. »Er vermutet einen Plan B, richtig?«
»Ja. Allerdings!«
Das Programm stoppte mit einem lauten Piepton.
»Das ist es! Nicht schlecht für einen Mann, der von Passwörtern angeblich nichts versteht. Diese Datei ist niemals von Clark!« Torben kopierte das Passwort und gab es in die Maske ein, die die Datei »Operation Helix« schützte.
June riss die Augen auf. Miles erstarrte.
»Jetzt erinnere ich mich. Clark hatte unser Team mit der Entschlüsselung dieser Datei beauftragt.«
»Was ist denn das?«, fragte Nova, als diverse Zeichnungen auf dem Bildschirm Gestalt annahmen. Es war eine Bauanleitung für eine neue Generation von Psychotronics, die mit dreißig Satelliten den Einsatz der Strahlen weltweit zur gleichen Zeit ermöglichen würde. Langsam setzte der Rechner auch noch das Gesicht eines Mannes zusammen.
»Das ist doch …«
»Orlando! Was zum Henker …? Wo ist dieser Orlando abgeblieben?«, stotterte Torben.
»Was weiß ich.« June starrte fassungslos auf den Monitor. Warum hatte sie ihrem Instinkt nicht vertraut? »Dieser verdammte Hund! Von wegen nur für vierzig Leute. Er hat die ganze Zeit darauf hingearbeitet, dass wir Clark kaltstellen. Und am Ende konnte das Opferlamm auch noch brav mit seinen Daten nach Hause gehen. So ein Mist!«
Torben zog den Laptop etwas weiter nach vorn, damit es alle sehen konnten.
»Das ist also Plan B. Wenn das zum Einsatz kommt, können wir alle einpacken!«