KAPITEL 19
WÜSTE NEVADA – BUNKER WHITESTAR
Ungeduldig legte Clark seine Hand auf den Scanner und blinzelte in die kleine Kamera, die über ihm hing. Ein Laser tastete seine Iris ab. Mit einem hydraulischen Zischen öffnete sich die Tür zum Laborbereich von Darien Orlando.
Nach all den Rückschlägen wollte er nun seinen Trumpf sehen. Wie umgewandelt, wechselte er durch zwei Türen in einen Laborraum. Er erbaute sich daran, dass der Testlauf der Hirn-zu-Hirn-Kommunikation in Afghanistan ein gelungenes Ablenkungsmanöver war, längst arbeiteten seine Wissenschaftler an einer gänzlich anderen Dimension dieser neuen Waffengattung.
Der Laborbereich bestand aus einem weitläufigen Netz von Räumen, getrennt durch Glasscheiben. In den einzelnen Parzellen standen Liegen, Stühle und Apparaturen. Grelles Neonlicht ließ die weißen Wände ringsum und den klinisch sauberen Boden unwirklich erscheinen.
Der Wissenschaftler hockte etwas erhöht auf einem Podest vor seinem Rechner. Gerade legte er seine Brille zur Seite und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Auf dem Bildschirm war das digitale Abbild eines Gehirns zu sehen. Die verschiedenen Hirnareale waren durch unterschiedliche Farben sichtbar gemacht worden. Ein lautes Summen lag in der Luft. Es hörte sich an, als würden Tausende Fliegen durch die Luft schwirren.
In einer der von schalldichtem Glas umgebenen Laborkammern saß ein verwahrlost aussehender Mann in orangefarbener Kleidung. An seinem kahl rasierten Kopf waren Dutzende Dioden angebracht, deren Kabel in eine Reihe hochkomplexer Rechner mündeten.
Seine Gesichtszüge waren erschlafft. Der Mann lebte und atmete, aber in seinem Blick lag eine tiefe Leere, als sei er mit offenen Augen bewusstlos geworden.
Orlando hob den Kopf und betrachtete den Mann. Dann sprach er in ein Mikrofon. Scheppernd hallte seine brüchige Stimme durch den Raum. »Gebt ihm 200 mg Inoxin und 100 mg Amphetamin. Dann bringt ihn raus.«
Seine grauen Haare klebten an der Stirn, und die Bartschatten verrieten Clark, dass Orlando schon seit Tagen durchgearbeitet hatte. Doch die tiefe Müdigkeit in seinem Gesicht schien nicht nur auf Schlafmangel zu beruhen, sondern glich einer abgrundtiefen Depression. Abgeschottet durch das dicke Panzerglas, bastelte Orlando an etlichen Geräten herum, deren futuristische Formen den Entwicklungen in einer Hightech-Werkstatt aus Silicon Valley glichen. Die neue Generation der Rechner hatte die Fähigkeit, annährend die Kapazität des menschlichen Gehirns mit all seinen neuralen Verbindungen zu erreichen. Und genau darum ging es in diesem Labor. Orlando registrierte auf dem übergroßen Kristallbildschirm die letzten Hirnströme des Probanden. Die verschiedenen Hirnregionen waren nicht nur in unterschiedlichen Farben, sondern auch dreidimensional dargestellt. Die neuralen Verbindungen flossen in einem tiefen Rot durch das Gebilde, bis die Farbe verblasste und in Weiß überging.
»Ich habe es euch immer wieder erklärt«, rief er aufgebracht den Helfern zu, die sich an dem Mann zu schaffen machten. »Die Niedrigfrequenzen zwischen sechs und neun Hertz können das Langzeitgedächtnis schädigen. Ihr habt dem Mann gerade die Festplatte gelöscht! Also noch mal. Bleibt exakt bei sechs Komma siebenundsechzig Hertz!«
Clark beobachtete teilnahmslos, wie zwei Soldaten den leblosen Mann aus dem Raum schleiften.
Statt einer Begrüßung klopfte er mit den Fingerknöcheln auf den Schreibtisch des Wissenschaftlers.
»Nun, wie weit sind Sie gekommen?«
Orlando verharrte ein paar Sekunden reglos, bevor er reagierte. Seine graublauen Augen waren rot unterlaufen, seine Bewegungen wirkten unnatürlich verlangsamt, als er sich von seinem Sessel erhob.
»Wir bekommen das so nicht in den Griff«, sagte er tonlos. »Ich kann es nicht mehr verantworten, diese Männer Ihren menschenverachtenden Tests auszuliefern. Das ist …«
Mit einer Geste der Unwilligkeit unterbrach ihn Clark. »Diese Männer haben so viele Verbrechen begangen, dass kein Hahn mehr nach ihnen kräht. Ihre Todesurteile sind längst unterschrieben, diese Mistkerle kommen aus Pakistan. Sie tun diesem Land einen Gefallen. Wer kräht schon nach diesen dreckigen Terroristen. Ich will endlich Ergebnisse sehen!«
Er verlor zusehends die Geduld mit Orlando, der psychisch auseinanderzubrechen drohte. Und er hatte das Gefühl, dass dieser Mann längst nicht alles gab, was er hätte leisten können.
»Hören Sie auf, mir etwas vorzuspielen. Ihrer Frau und Ihren beiden Töchtern geht es gut. Sie möchten doch, dass das so bleibt, nehme ich an?«
Verschreckt sah Orlando ihn an, dann schaute er wieder in das Versuchslabor. Ein neuer Proband wurde mit verbundenen Augen hereingebracht. Während man ihm Dioden an den Kopf klebte, drückte Clark den schmächtigen Orlando tief in seinen Sessel. Mit seiner massigen Statur machte er Orlando sichtlich noch mehr Angst. Clark ließ von ihm ab und legte ihm einen Ausdruck der neuesten Nachrichten aus Washington auf den Schreibtisch.
Orlando war kaum in der Lage, die wenigen Zeilen zu lesen. Er sackte noch tiefer in seinen Sessel.
»Da draußen rotten sich die Feinde unseres Systems zusammen«, schimpfte Clark. »Ich trage eine gewisse Verantwortung. Und ich will die erste Variante der Psychotronics in zwei Tagen in Aktion sehen. Schaffen Sie das?«
Orlando richtete seinen Blick auf das Labor. Die neuen Probanden wurden auf Liegen festgeschnallt.
»Kommen Sie mit«, sagte Orlando heiser.
Clark folgte ihm in eine Halle, in der unzählige Neonlampen aufflackerten, als sie die Lichtschranke passierten. Die Halle war so groß wie ein Hockeyfeld. Auf dem grauen Boden verliefen weiße Linien, die wie Landebegrenzungen aussahen. An der Decke erstreckten sich parallel zwei lange Stahlschienen. Die Bunkerdecke konnte für Hubschrauber jeder Größe geöffnet werden. Bis auf einen Helikopter und einen Lastwagen in Tarnfarben war die Halle zurzeit völlig leer. Die Ladung des Lasters wurde von einer Tarndecke verborgen.
Wie in Trance ging Orlando auf das Fahrzeug zu und zog die Decke herab. Clark stemmte seine Hände in die Hüften. Das also war die neue Wunderwaffe. Eine Maschine, die über künstlich erzeugte elektrische Frequenzen Stimmungen und Gefühle beeinflussen konnte. Er betrachtete sie von allen Seiten. Auf der Ladefläche stand ein Stromgenerator mit dunkelgrünen Kühlrippen. Er hatte ein Volumen von etwa vier Kubikmetern. Darüber schwebte eine etwa sechs Meter lange Röhre, die durch dicke Kabel mit dem Generator verbunden war. Am vorderen Ende der Röhre waren mehrere Dutzend Glaskugeln in das Metall eingelassen. Die Dimension des silberfarbenen Geschosses, das das grelle Licht im Hangar reflektierte, ließ selbst den erfahrenen Soldaten für einen Moment staunen. Am unteren Ende, hinter einem Kasten aus Stahlgeflecht, war Platz für zwei Männer. Davor zwei schwarze, massiv in Eisen eingehüllte Bildschirme und etliche Tastenfelder. Das ist also der lang erwartete Durchbruch, dachte Clark, ein Hightech-Monstrum, das bald die Welt verändern wird.
»Die Tests sind noch nicht abgeschlossen«, erläuterte Orlando. »Es liegt an Ihnen, ob Sie die Waffe trotzdem einsetzen. Über die möglichen Langzeitfolgen habe ich Sie ja aufgeklärt.« Bedrückt fuhr er fort: »Die Wirkung der Strahlung könnte sich ins Gegenteil verkehren – dann würde die Stimmung der Demonstranten in Aggression umschlagen. Wir haben noch zu wenige empirische Erfahrungen.«
Clark nahm Haltung an. Er legte Orlando die Hände auf die Schulter.
»Es ist meine Pflicht, das Land unter Kontrolle zu behalten. Oder wollen Sie noch mehr Tote auf den Straßen? Unsere Leute werden Ihre kleine Schreckkanone so bald wie möglich ausprobieren. Aber Sie wissen ganz genau, was ich wirklich von Ihnen erwarte. Ich gebe Ihnen maximal eine Woche, um zu beenden, wofür ich Sie hergeholt habe.« Plötzlich hielt er inne. »Moment, was haben Sie eben gesagt?«
Schuldbewusst wich Orlando einen Schritt zurück.
»Es kann statt Furcht auch Aggression auslösen. Wir haben die Feinabstimmung der elektromagnetischen Trägerwellen noch nicht ausreichend erforscht.«
Clark hasste solche Skrupel. Typisch Wissenschaftler, dachte er. Die forschen und forschen, aber wenn es an die Praxis geht, sind sie jämmerliche Versager. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Wer weiß, wozu uns das noch nützlich sein kann, überlegte er. Zur rechten Zeit könnten auch Aggressionen in den Plan passen. Das gab der Operation Silent Control eine völlig neue Dimension.
Unsanft schob er Orlando in Richtung Labor. Was auch immer dieser Zweifler sagte, er, Clark, würde jetzt alles einsetzen, was ihm zur Verfügung stand. Striebers Anruf hatte ihm gereicht.
»Erweisen Sie diesem Land Ihren Dienst.«
Orlando seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass Clark ihn so unter Druck setzte.
»Ach ja. Ich feiere Weihnachten dann wieder bei meiner Familie? Denken Sie etwa, dass ich so naiv bin?«
Als sie das Labor wieder betraten, blieben sie wie angewurzelt stehen. Alles lag in tiefer Dunkelheit. Offenbar war der Strom ausgefallen. Es roch bestialisch nach verschmorten Elektroteilen und verbrannten Haaren. Clark wollte gerade sein Feuerzeug aus der Hosentasche holen, als das Licht wieder anging. In dem schalldichten verglasten Laborraum mit den beiden Männern herrschte chaotisches Getümmel. Ein Mitarbeiter im weißen Kittel gestikulierte wild. Das Entsetzen in seinem Gesicht ließ nichts Gutes ahnen. In höchster Erregung rannte er auf Orlando zu.
»Sir, wir hatten einen Kurzschluss. Es passierte, als wir den Transmitter anschlossen. Der Stromschlag ging durch die Dioden … die Männer sind tot.«
Orlando ließ sich in seinen Sessel fallen und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Clark dagegen betrachtete ohne jede Gefühlsregung die Probanden. Aus ihren geöffneten Mündern zog etwas Rauch. Neben den Dioden waren überall Brandspuren auf ihrer Kopfhaut.
»Eine Woche, Orlando! Und bringen Sie die Scheiße hier in Ordnung! Wenn Sie das Ganze sabotieren, sehen Sie kein Tageslicht mehr.«
Abrupt wandte er sich ab und steuerte den Ausgang an. Als er die letzte Sicherheitsschleuse passiert hatte, stieß er beinahe mit der Agentin June Madlow zusammen. Sie hatte offenbar auf ihn gewartet.
»Madlow? Sie haben hier nichts zu suchen! Raus hier!«
»Sir, man sagte mir, dass Sie mich sehen wollen und dass Sie hier sind«, entgegnete die Agentin. Sie war eine Amazone, fast so groß wie Clark und perfekt durchtrainiert. Unter dem dunklen Kostüm ahnte man die ausgeprägte Muskulatur ihres gestählten Körpers. Dennoch wirkte sie anziehend.
Sie war sogar ziemlich hübsch mit ihren hohen Wangenknochen, den dunklen Augen und ihrem schulterlangen schwarzen Haar.
»Es würde mich schon interessieren, was in den Labors passiert. Man hört so einiges, wissen Sie. Von einer wahren Wunderwaffe ist sogar die Rede. Sorry, die Neugier ist mir angeboren – sonst wäre ich sicherlich keine gute Agentin geworden, oder?«
Sie lächelte selbstsicher. Es hatte Clark immer schon missfallen, dass diese Frau keinen Respekt vor ihm hatte.
»Jedenfalls ist dieser Bereich für Sie tabu. Kommen Sie, wir gehen in mein Büro.«
Mit ausladenden Schritten marschierte er voraus, ohne Rücksicht auf June Madlow, die es jedoch mühelos schaffte, ihm auf den Fersen zu bleiben.
»Agent Willert empfängt Sie in vier Stunden in New York«, erklärte Clark kühl über die Schulter hinweg. »Dort werden Sie das Zielobjekt in Empfang nehmen. Sobald dieser Arnström in Gewahrsam ist, bringen Sie ihn her.«
Inzwischen hatten sie Clarks Büro erreicht. »So, Madlow, hier sind einige Unterlagen.« Der CIA-Chef knallte eine graue Mappe auf den Tisch.
Mit einem prüfenden Blick nahm sie die Unterlagen an sich und blätterte in dem Dossier herum. Als sie das Foto von Torben sah, stutzte sie.
»Hübscher Kerl und blutjung! Sind Sie sicher, dass dieses Milchgesicht der Erfinder eines Sabotageprogramms ist?«
»Dieses ›Milchgesicht‹ ist im Moment der Staatsfeind Nummer eins! Worauf warten Sie? Fliegen Sie los, der Jet wartet!«
June Madlow war schon an der Tür, als Clark noch einmal das Wort ergriff.
»Noch etwas, Madlow. Der Fall ist nicht nur geheim. Die Dinge liegen etwas, nun ja, diffiziler als bei Ihren bisherigen Aufträgen. Um es deutlich zu sagen: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie diesem kleinen Nerd den Kopf verdrehen.«
Sie starrte Clark an, als hätte sie sich verhört.
»Haben Sie sonst noch irgendwelche Wünsche? Soll ich ihm die Eier massieren?«
Clark lachte laut auf. »Nun, das können Sie von mir aus auch, aber ich meine es ernst. Wir brauchen den Jungen auf unserer Seite, und es wäre doch schade, wenn wir so einen hübschen Kerl grillen müssten. Was denken Sie?«
»Wie bitte?«
Clark setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs und sah sie herausfordernd an. »Jetzt tun Sie mal nicht wie eine Betschwester. Setzen Sie Ihre Reize ein! Ich will ihn für uns gewinnen. Er muss kooperativ sein. Und da Sie ihn ja ›hübsch‹ finden, dürfte Ihnen das wohl nicht schwerfallen.«
»Wenn Sie eine Nutte brauchen, suchen Sie sich gefälligst eine andere für den Job. Dafür habe ich mich nicht beworben!«
Clark grinste. Endlich hatte er es geschafft, diese selbstbewusste Frau aus der Fassung zu bringen.
»Nur damit wir uns richtig verstehen. Sie haben um Beförderung gebeten. Dem steht auch grundsätzlich nichts im Wege. Allerdings erwarte ich von Ihnen, dass Sie meine Anweisungen befolgen. Alle meine Anweisungen. Klar so weit? Und ich habe nicht gesagt, dass Sie mit ihm ins Bett gehen sollen.« Wieder grinste er. »Sie dürfen aber.«
June Madlow presste die Lippen zusammen, während sie kaum merklich nickte.
»Na, sehen Sie! Sie sind doch ein braves Mädchen.«
Grußlos verließ sie das Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Auf dem Flur machte sie ihrem Ärger Luft.
»Du mieses, sexistisches Schwein!« Sie schlug noch einmal die Mappe auf und betrachtete das Foto von Torben Arnström. »Okay, Clark. Voller Körpereinsatz. Aber dafür wirst du büßen.«