KAPITEL 4
STOCKHOLM
Mit einem tiefen Seufzer setzte sich Torben auf seinen Drehstuhl. Eigentlich war er völlig ausgelaugt. Doch an Schlafen war nicht zu denken. Seit dem Mittag konnte er sich in seinem Büro nicht mehr sicher fühlen. In seinen Ohren schrillten Alarmglocken. Vielleicht hatte er nicht mehr viel Zeit.
Nach dem Kino hatte er Nova zu ihrer Wohnung begleitet, die nur zwei Straßen weiter lag. Beim Abschied hatten sie sich umarmt. Ich darf Nova nicht gefährden, war es ihm dabei durch den Kopf gefahren. Keine Telefonate mehr, keine SMS, keine Mails. Vermutlich wurde er schon länger überwacht. Nur von wem?
Er fuhr einen seiner vier Rechner hoch. Gerade, als er einen Chat öffnen wollte, sah er, wie der Cursor sich selbstständig machte und einige Programme startete.
Er hatte keine Kontrolle mehr über den Rechner, selbst die Tastatur war abgehängt.
»Das glaub ich nicht!« Wütend hackte er auf der Tastatur herum. Dass ihm das heute auch noch passieren musste! Es war, als würde ihm jemand mitten auf dem Grundschulhof vor den versammelten Mädchen die Hosen runterziehen.
Rasch fuhr er einen zweiten Rechner hoch, rollte mit seinem Stuhl zum nächsten und nächsten Rechner, dann wieder zurück. Er kappte die Verbindungen.
»Kommt schon, kommt schon, fahrt hoch!«
In Windeseile aktivierte er einige Programme. Ein Fenster nach dem anderen öffnete sich, Kolonnen von Zahlen und Buchstaben rasten über die Monitore. Torben tippte mit geisterhafter Geschwindigkeit Befehle ein und wiederholte die Prozedur an zwei weiteren Rechnern.
»Ich krieg dich. Ich krieg dich, wer immer du bist.« Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Na komm schon, gleich hab ich dich.«
Das war kein Virus oder Trojaner. Das war ein direkter Angriff. Doch wie konnte das so schnell nach dem Hochfahren passieren?
Ich bin gerüstet für dich, ermunterte sich Torben. Er hatte jetzt keine Angst mehr. Ganz im Gegenteil, das war ein Kick, den er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Der Kick eines Duells auf Augenhöhe. Als ob er nur darauf gelauert hätte, nahm er den Kampf mit seinem unbekannten Gegner auf.
Seine Hände flogen über die Tastatur. Er musste das Programm umgehen, das die IP-Adresse seines Angreifers schützte. Doch nichts funktionierte. Plötzlich stoppten die Zahlenkolonnen. Hatte der Angreifer aufgegeben?
»Du Feigling! Hast gecheckt, wer hier der Herr im Haus ist, was?«
Er lehnte sich zurück. In den vergangenen Jahren hatte er seine Fähigkeiten immer weiter ausgebaut. Niemand aus der Szene kannte sich mit den Algorithmen von Computerviren so gut aus wie er. Das hatte er schon festgestellt. Entdeckte er ein Virus, dachte er sich etwas Besseres aus, das den Angreifer durch das Netz jagte und zerstörte. Keine Sicherheitslücke von Betriebssystemen und Firewalls entging ihm. In der Firma versammelten sich regelmäßig alle um ihn, wenn es um die Analyse eines neuen Schädlings ging. Als wäre er der legendäre Neo aus dem Film Matrix. Nur sein Kung-Fu fand jetzt auf der Tastatur statt, und er bekam gerade von seinem virtuellen Gegner mächtig eins auf die Klappe.
Torben fuhr den attackierten Rechner wieder hoch und wartete kurz. Spygate hatte er auf seinem Robinson-Rechner abgelegt. Dieser Rechner ging nie ans Netz. Das war der einzige Weg, um sensible Daten zu schützen, das war so, und das würde auch so bleiben. Hätten das alle beim Aufbau der schönen neuen digitalen Welt beachtet, wäre die Lage nicht so prekär, aber all die Warnungen früherer Hacker wurden geflissentlich ignoriert. Während er noch darüber nachdachte, sah er, wie der Hack wieder losging. Innerhalb von Sekunden wurde seine Festplatte durchsucht.
»Hey, hey, hey, woher hast du dieses Tempo? Okay, mach ruhig weiter, mein Junge, du kriegst hier gar nichts. Nur das hier!«
Torben schob ein Programm mitten in einen Datenfluss, dessen Zahlen sich daraufhin auflösten und ein Totenkopfsymbol bildeten. Er lachte laut auf und schlug sich auf die Schenkel, wie ein Trottel, der einen doppelbödigen Witz verstanden hatte. Zu gerne hätte er das Gesicht auf der anderen Seite gesehen. Das Einzige, was sich der Angreifer geholt hatte, war eine mächtige Klatsche.
Doch schon in der nächsten Sekunde dräute neues Unheil. Der Totenkopf fiel in sich zusammen, und es formte sich ein Satz auf dem Schirm:
Wir kennen eure Pläne!
Weitere Sätze folgten, die ihn wie Fausthiebe trafen.
Wir haben euch gewarnt. Wir werden euch verfolgen und entlarven. Das ist erst der Anfang. Wir werden unsere Rechte verteidigen. Wir sind Anonymous, wir sind alle, wir vergessen nichts, wir vergeben nichts, rechnet mit uns!
Das konnte nicht sein. Oder war gar nicht er persönlich gemeint? Kam der Angriff von Saicom? Oder kam er wegen Saicom? Schließlich war Saicom ein erklärter Feind der Hacker.
Er rutschte nach vorne zur Tastatur und versuchte, sich bei Saicom einzuloggen. Abgelehnt? Er hatte doch die Kündigung noch gar nicht abgegeben. Sich dort einzuhacken würde jetzt zu lange dauern. Nur Kilian konnte ihm helfen. Es war später Nachmittag, aber sicher wäre er noch im Büro. Torben wählte Kilians Nummer und klemmte das Handy zwischen Schulter und Ohr. Gleichzeitig versuchte er, seinen Gegner mit einem anderen Programm zu analysieren. Vergeblich. Merkwürdig, dachte er, so gut kann niemand in der Firma sein.
Nach ein paar Freizeichen meldete sich Kilian.
»Hallo Torben, wolltest du nicht wieder reinkommen?«
»Wenn du vor dem Rechner sitzt, logg dich bitte bei Saicom ein«, sagte Torben ohne weitere Erklärung. »Es ist wichtig.«
»Spaßvogel. Ich bin längst drin und arbeite – im Gegensatz zu euch Pfeifen!«
Torben hatte keine Zeit, auf diese Provokation einzugehen. Er wusste, dass Kilian hinter Wallins stand, aber das hatte ihre Freundschaft bisher nie belastet. Nun taten sich Fronten auf, die Torben schmerzten. Zu unüberlegt, zu stromlinienförmig folgte Kilian seinem fragwürdigen Arbeitgeber, fast so wie seinem übermächtigen Vater.
Hastig schickte er ihm eine Mail mit einem kleinen Programm, das seinen eigenen Virus erkennen konnte.
»Öffne bitte das Programm und sag mir, was passiert. Ich habe meinem Angreifer einen guten Schnupfen geschickt, der seine Festplatte löscht. Hoffe nicht, das es der Server von Saicom ist.«
Torben sah sein eigenes Gesicht, das vom Bildschirm reflektiert wurde. Seine Augen brannten, er sehnte sich nach Schlaf. Durchs Handy hörte er das Klackern von Kilians Tastatur.
»Und?«
Kilians Stimme klang rau. »Was soll das Programm?«
»Vertrau mir, es ist nichts Gefährliches, nur ein Scanner. Ich will wissen, ob mich Wallins im Visier hat«, versuchte Torben, seinen Freund zu beruhigen.
Kilian und Torben waren seit Jahren zusammengewachsen. Ihre Gastsemester in Hamburg hatten sie noch fester zusammengeschweißt. Nächtelange Debatten über die theoretischen Inhalte ihres Politikstudiums ließen zwar die Unterschiede ihrer Herkunft deutlich werden, aber ihr Verhältnis war dennoch unbeschwert, da ihre Gegensätzlichkeit sich nicht auf ihr alltägliches Leben auswirkte. Die Mensa war die Mensa und der Campus der Campus, hier waren alle eins. Die Gegensätze zogen sich an, und der nächtliche Spaß in Bars und Diskotheken bescherte ihnen so manches Geheimnis, das sie miteinander teilten. Sie mochten sich einfach. Die Freundschaft ging so weit, dass beide gemeinsam entschieden, ins Informatikstudium nach Stockholm zu wechseln. Seither hatte Torben seine eigentliche Leidenschaft gefunden und überflügelte Kilian um Längen. Die Freundschaft ist geblieben, doch es mischt sich zunehmend Konkurrenzdenken ein, dachte Torben betrübt, während er durch den Hörer Kilian mit sich selbst reden und tippen hörte.
»Nichts, hier ist alles sauber. Sag mal, wollen wir nicht ein paar Bier trinken gehen? Ich hab das Gefühl, dass du von deinem Trip runterkommen musst. Du ziehst dich immer mehr zurück wegen dieses Scheißkriegs, der dir im Kopf rumspukt.«
»Machen wir, aber jetzt habe ich gerade ein anderes Problem. Irgendwer hat mich gehackt, und ich dachte, dass es vielleicht jemand aus der Firma war.«
»Bist du bescheuert? Warum sollte das jemand von uns tun? Mann, was ist los mit dir? Du tickst doch nicht mehr ganz regelmäßig. Keiner hier ist dein Feind und ich schon gar nicht!«
»Ja, ja, weiß ich doch. Ich vertraue einfach Wallins nicht mehr. Ist sonst bei euch alles sauber?«
»Alles clean, du Superhirn.« Kilian ergriff eine der seltenen Gelegenheiten, sich über Torben lustig zu machen. »Was ist los? Hat der King of Bits and Bytes einen schlechten Tag? Dass man ausgerechnet dich gehackt hat, kann ich fast nicht glauben!«
Torben nahm ein Lakritz und kaute so heftig darauf rum, als wollte er seinen unsichtbaren Feind zermalmen. Kilian wurde wieder sachlich. Wallins habe das Tempo erhöht, und er, Kilian komme mit dem Programm zum Schutz der Satelliten nicht weiter.
»Danke für den Support«, sagte Torben. »Wenn du Hilfe brauchst – ich bin morgen den ganzen Tag zu Hause. In die Firma setze ich keinen Fuß mehr, das verstehst du bestimmt.«
»Hast du denn gekündigt?«
Man konnte deutlich hören, wie verunsichert Kilian war.
»Noch nicht, aber mein Passwort ist gesperrt. Hat Wallins was gesagt?«
Es war klar, dass Kilian ihm bei seiner Arbeit nur vertrauen würde, solange er noch Angestellter von Saicom war.
»Ach, das hat nichts zu sagen«, wiegelte Kilian ab. »Wallins hat mal wieder alle Passwörter verändert. Nur Nova ist raus. Was sie gemacht hat, ist so sinnlos. Ich hoffe, du stellst dich nicht auch noch auf die falsche Seite.«
Torben zog eine Grimasse. Er konnte diese braven Bürgersprüche von Kilian nicht mehr hören. Trotz seines unkonventionellen Stylings war Kilian längst im Establishment angekommen. Im Grunde hatte er es nie verlassen, er, der Sohn aus wohlhabendem Hause. Und überhaupt – was war in diesen Zeiten schon richtig oder falsch?
»Lassen wir das, Kilian. Ist sonst irgendetwas bei euch vorgefallen?«
»Nein. Danke für dein Angebot. Ich muss jetzt weitermachen. Krieg dich wieder ein, ich komme morgen früh vorbei.«
Mit einem Klick war die Verbindung beendet. Torben schaute auf den Bildschirm vor sich und sah eine Nachricht von Vox News über den Ticker laufen, die ihm den Rest gab. Der Info-Krieg ging in die nächste Phase.