KAPITEL 27
WASHINGTON D.C.
Nova hatte während des gesamten Flugs von Stockholm nach Washington geschlafen. Erst als die Maschine gegen 15 Uhr auf dem Ronald Reagan Airport gelandet war, hatte sie die Augen wieder geöffnet.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Einreise im diplomatischen Status der CIA nicht auffallen würde, war gering. Das war selbst Kilian klar. Aber sie hatten dadurch genug Zeit, um sich zu verdrücken. Am Fuß der Gangway wartete schon ein Taxi. Ohne Zoll- und Passkontrolle fuhr es los.
»Ins National Security Archive«, sagte Kilian. »Beeilen Sie sich bitte.«
Nova rieb sich verschlafen die Stirn. »Mann, das fällt mir jetzt erst ein. Weiß dein Vater eigentlich, dass du seinen Jet benutzt hast?«
»Der Pilot steht kurz vor der Pensionierung. Er mag mich und wird sich eine Geschichte einfallen lassen. Wahrscheinlich merkt es mein Vater nicht mal. Egal. Ich habe uns im Holiday Inn zwei Zimmer gebucht. Im National Security Archiv finden wir vielleicht eine Spur aus Norris’ Vergangenheit.«
Nova holte eine knisternde Tüte aus ihrer Tasche. »Die Lakritz sind eigentlich für Torben. Er hat doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich ein paar davon esse, oder?«
»Träum weiter. Ich glaube nicht, dass wir ihn so schnell wiedersehen. Aber wir müssen ihm helfen, wie auch immer.«
Kauend sah Nova aus dem Fenster. »Und wir können einfach in dieses Archiv spazieren und Staatsgeheimnisse einsehen?«
»Prinzipiell ja«, bestätigte Kilian. »Durch den Freedom of Information Act kann jeder Bürger weltweit an jede Behörde jede nur erdenkliche Anfrage stellen. Natürlich dauert es manchmal eine Weile, bis sie brisante Informationen rausrücken. Und das eine oder andere bleibt sowieso unter Verschluss. Kaum ein Präsident hat zum Beispiel die Kennedy-Akten von der höchsten Geheimhaltungsstufe befreit. Genauso wenig wie etliche Akten der Watergate-Affäre oder Einzelheiten über untergetauchte Nazigrößen. Vielleicht haben wir Glück.«
Das Taxi fuhr in den Nordwesten Washingtons, wo sich auch die George-Washington-Universität befand. Die Autos auf dem Highway hingen Stoßstange an Stoßstange, und so brauchten sie für die sieben Meilen vom Flughafen bis in die 2130 H Street mehr als eine Dreiviertelstunde. Immer wieder zupfte Nova gedankenverloren an ihren roten Haaren.
Endlich hielt das Taxi. Kilian gab dem Fahrer einen Schein.
»Danke, der Rest ist für Sie.« Dann wandte er sich zu Nova. »Wir sind da. Willkommen im Tempel des Wissens.«
Das Erste, was Nova sah, als sie ausstieg, war ein Starbucks Café. Daneben lag der Eingang zur Gelman Library, einem zehngeschossigen Gebäudekomplex, dessen Fassade mit rötlichen Steinplatten verblendet war.
Mit einer ausladenden Geste wies Kilian auf das Haus. »Ist das nicht irre? Hinter diesen Mauern ist das NSA-Archiv untergebracht – rund 75.000 Dokumente aus Anfragen an die CIA, den NSA, die NSC und die NASA. Alles ehemals streng geheime Regierungsdokumente, von der Atompolitik bis zur Terrorismusbekämpfung. Ein echtes Schlaraffenland für alle, die es genauer wissen wollen. Und …«
Nova hatte nur Augen für den Coffeeshop. »Hast du auch so einen Brüllhunger?«
»Okay, so viel Zeit muss sein«, stoppte Kilian seine Eloge. »Jetzt genehmigen wir uns erst mal eine großen Caffè Latte und einen Lachsbagel. Geh schon vor. Inzwischen melde ich mich im Archiv an.«
»Lass mich hier bloß nicht allein!«
Kilian knuffte sie in die Seite. »Hast du etwa jetzt schon Angst? Keine Sorge, ich bin gleich wieder da.«
Damit verschwand er.
Das Archiv lag im siebten Stock der Gelman Library. Es war wenig los, nur ein paar einzelne Besucher saßen in der Lobby. Kilian ging geradewegs zu dem verglasten Empfangsraum, auf dessen Scheiben der Schriftzug des NSA zu sehen war. In dem Raum saß eine übergewichtige Frau mit einer bunt gemusterten Bluse. Sie erhob sich, als sie Kilian auftauchen sah.
»Entschuldigen Sie, wir sind heute unterbesetzt. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie kurzatmig.
Er überlegte kurz. »Ich hätte gern einen Rechnerplatz. Vielleicht finde ich selbst etwas, bevor ich extra eine Anfrage stelle.«
»Perfekt.« Sie wirkte erleichtert. »Solche Besucher schätzen wir. Sie glauben gar nicht, was wir hier alles zu tun bekommen. Folgen Sie mir.«
Die Unterbesetzung war eine gute Gelegenheit, nicht weiter aufzufallen. Er beschloss, Nova ein wenig warten zu lassen.
Die Dame führte Kilian in einen hellen Saal, in dem die Archivrechner und die Lesegeräte für Mikrofichefilme untergebracht waren, wie sie erklärte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich Kilian. Er wartete ab, bis sich die Bibliothekarin wieder auf den Weg zu ihrem Glaskasten machte. Dann setzte er sich.
Die Rechnerplätze waren durch helle Holzwände unterteilt. Überall standen Regale mit ockerfarbenen Pappkästen, in denen Dokumente lagerten.
Die Rechner waren bereits hochgefahren. Kilian tippte den Namen Peter Norris in die Suchfunktion ein. Doch es war kein File vorhanden.
Nun verfeinerte er die Anfrage, gab verschiedene Jahreszahlen und schließlich nur den Nachnamen Norris ein.
Gespannt verfolgte er, was sich auf dem Monitor tat. Einen Augenblick später stutzte er. Auf dem Bildschirm bauten sich Buchstaben und Zahlen auf.
Record: 18129
REQNUM F8989-89898
PUBDATE: 1969-11-17
DECAL: CIA-DDO+VX 1900 MEMO 431292
TITLE: PROJECT MKULTRA – NORRIS –
SKINNER – CLOSED REQUEST – Classified
Das alles sagt mir gar nichts, dachte Kilian enttäuscht, druckte sich das Memo aus und schloss die Eingabemaske. Dann ging er zurück zum Empfang und winkte der Frau in der bunten Bluse zu, bevor er sich auf den Weg nach draußen machte. Vielleicht würde er sie noch einmal brauchen.
Nova hockte vor dem Starbucks auf einer kleinen Holzbank. Gerade biss sie in einen Bagel. Neben ihr standen zwei Pappbecher.
»Hey, die Dinger musst du probieren, echt besser als bei uns«, empfing sie ihn und registrierte im gleichen Moment die Enttäuschung in Kilians Gesicht. »Was ist los? Hast du schon gesucht?«
»Das Dokument war nicht zu haben.« Er setzte sich neben Nova und holte seinen Lachsbagel aus der Tüte, die Nova ihm hinhielt. »Ich habe nur ein File gefunden, das gesperrt ist.«
»Shit. Was ist das für ein File? Hast du nicht diesen Freund in Washington, der dir weiterhelfen kann?«
»Wir treffen ihn in einer halben Stunde. Ich habe ihn vom Flugzeug aus erreicht.« Kilian biss in seinen Bagel. »Mhm, echt gut.«
Nova trank einen Schluck Kaffee. »Wer ist der Typ?«
»Ich habe ihn vor sechs Jahren bei einem Praktikum in der Washington Post kennengelernt. Rogan Smith ist eine lebende Legende. Er war schon an der Aufklärung der Watergate-Affäre beteiligt und weiß, wie man in so einem Fall vorgeht. Das hoffe ich zumindest.«
Nova stellte ihren Becher ab. »Worauf warten wir dann noch?«
»Auf eine gute Fee, die uns hinbringt.« Kilian erhob sich und stopfte den Rest seines Bagels in den Mund.
Vor ihnen entließ gerade ein Taxi zwei Fahrgäste. Kilian winkte dem Fahrer zu.
»Im Taxi keinen Ton über die Geschichte.«
»Schon klar, o Herr der guten Feen.«
Kilian setzte sich zu Nova auf die Rückbank. Ihm war nicht entgangen, dass sie trotz des improvisierten Picknicks blass aussah. Torbens Notlage ging ihr sichtlich nahe. Er legte einen Arm um ihre Schulter.
»Wir schaffen das schon, versprochen.«
»Hey, wo wollen Sie hin?«, fragte der Taxifahrer ungeduldig.
»1744 Kilbourne Street. Und es wäre nett, wenn Sie die Staus umfahren. Wir haben es eilig.«
Nach zehn Minuten erreichten sie das Haus von Rogan Smith. Er wohnte in der edleren Gegend Washingtons, das sah man auf den ersten Blick. Eine hübsche, gepflegte Villa im Neuenglandstil reihte sich an die nächste. Die Vorgärten sahen aus, als gelte es, einen Wettbewerb zu gewinnen. Akkurat gestutzte Rasenflächen, geometrisch angeordnete Blumenrabatten. Eine Enklave der weißen Oberschicht.
Eine breite Holztreppe führte Nova und Kilian auf die blauweiß gestrichene Veranda.
Smith musste sie gesehen haben. Er stand bereits in der Tür. Nach all den Jahren erschien Smith zwar erfreut, aber Kilian spürte auch seine Überraschung und etwas Unbehagen über den unerwarteten Besuch. Er war unrasiert, seine blauen Augen waren leicht blutunterlaufen. Die grauweißen Haare wirkten fettig, und der Alkohol hatte über die Jahre seine Nase rot verfärbt.
»Kilian, schön, dass ich dich mal wiedersehe«, strahlte er. »Wie lange ist das her?«
»Drei Jahre«, antwortete Kilian. »Ich war damals mit Torben Arnström hier, erinnerst du dich? Mein Freund aus Stockholm. Wir haben in Hamburg zusammen studiert.«
Smith griff sich an seine faltige Stirn. »Ja, ja, ich glaube schon. Und wer ist die bezaubernde junge Dame?«
Nova hielt ihm die rechte Hand hin. »Nova, Nova Roedason aus Stockholm.«
Smith bat sie hinein. Sie gingen durch einen dunklen Flur, der mit einer Perserbrücke ausgelegt war. Unzählige Fotos von Smiths’ Karriere schmückten die pastellgelbe Tapete. Der sah ja mal richtig gut aus, dachte Nova nach einem kurzen Blick auf die Wand. Durch einen verglasten Wintergarten führte er die beiden in einen kleinen Park voller blühender Kirschbäume. Auf einem großen Holztisch standen bereits Wasser, Zitronensaft und Eiswürfel. Die erkennbaren Zeichen amerikanischer Gastfreundschaft hatte er in der Eile nicht vergessen. An der Seite neben der Terrassentür erblickte Kilian ein paar leere Flaschen Scotch.
»Nehmt Platz. Ist es nicht herrlich hier draußen? Der Frühling ist früh dran dieses Jahr.«
Nova setzte sich, doch Kilian blieb stehen. »Leider haben wir nicht viel Zeit. Kannst du uns helfen, einen Agenten der CIA zu recherchieren? Ich muss wissen, an welchen Projekten er beteiligt war, ob er noch lebt und so weiter.«
»Das volle Programm also?«
»Ja, Rogan, das volle Programm.«
Skeptisch schaute der gealterte Journalist seinen einstigen Zögling an. »Gibt es irgendeinen Hinweis?«
Kilian zog einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche.
»Ich habe hier ein Memo aus dem NSA-Archiv. Aber ich werde nicht schlau daraus. Es handelt sich um einen Agenten namens Peter Norris, er ist ein Freund von Torben.«
»Und er hat Torben etwas von einer Aktion gegen die Netzfreiheit erzählt«, ergänzte Nova. »Vermutlich steckt die CIA dahinter.«
Mit einer fahrigen Bewegung angelte sich Smith den Zettel. Dann setzte er sich seine Brille auf, die an einem gelben Band auf seiner Brust hing. Aufmerksam sah er sich die Zeilen an.
Nova warf Kilian einen langen Blick zu. Offenbar war sie irritiert von dem schlechten Zustand des Mannes.
Als Smith alles entziffert hatte, zerriss er plötzlich das Blatt, knüllte die Fetzen zu einer Kugel zusammen und warf sie in einen Aschenbecher.
Kilian hielt den Atem an. Was war das? Was trieb den alten Profi zu so einer Reaktion?
Smith hielt sein Feuerzeug ans Papier. Sekunden später brannte es lichterloh.
»Warum machen Sie das?«, fragte Nova fassungslos.
Kilian griff ihm an die Schulter. »Rogan was ist los?«
»Raus hier«, blaffte Smith. »Fahrt nach Hause und vergesst euren Freund.«