KAPITEL 18
NEW YORK CITY
Das Motel war ein ziemlich schäbiger Kasten mit winzigen, schmuddeligen Zimmern. Angewidert betrachtete Torben den fleckigen Teppichboden und die Brandlöcher in der vergilbten Gardine. Der Tisch und der einzige Stuhl wackelten, es roch nach verschüttetem Alkohol und abgestandenem Rauch. Wenigstens die Bettwäsche ist sauber, dachte er, als er vom Bett aus in die grelle Morgensonne schaute.
Gähnend blickte er sich um und blieb am verblichenen Muster der Tapeten hängen. Dabei hätte er sich weiß Gott etwas Besseres leisten können. Doch es wäre zu gefährlich gewesen, nach der Razzia noch stundenlang ein besseres Hotel zu suchen.
Er konnte froh sein, dass er es überhaupt bis hierher geschafft hatte. Ohne Jackson säße er jetzt vermutlich in einem New Yorker Gefängnis. Ihm schauderte bei dem Gedanken. Bedrohung, Verfolgung, die ständige Angst …
Mühsam robbte er sich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete er sein Gesicht. Sein Haar stand in alle Richtungen ab, die Augenlider waren geschwollen.
Als es an der Tür klopfte, hielt er den Atem an. Wer konnte das sein?
»Sir, es ist zehn Uhr. Sie müssen das Zimmer räumen«, ertönte eine krächzende Stimme von außen.
Rüde Methoden, dachte Torben. Andererseits gab es wirklich nichts, was ihn länger in dieser verdreckten Bude hielt. Er duschte in Windeseile und zog sich an. Dann legte er ein paar Dollarscheine auf den Nachtschrank. Wer hier sauber machte, hatte einen miesen Job und konnte eine kleine Aufmunterung sicher gebrauchen.
Auf dem Weg zur Rezeption hielt er inne. Ein gebrechlicher alter Mann starrte auf einen Fernseher, der über einem alten Kühlschrank hing. Die Klimaanlage ratterte so laut, dass Torben den Nachrichtensprecher kaum verstehen konnte. Was ihm jedoch das Blut in den Adern stocken ließ, war das, was er sah: ein Foto von ihm!
Er ging einen Schritt näher an den Fernseher. Man hatte ihn wegen des Datendiebstahls bei Saicom zur Fahndung ausgeschrieben. Plötzlich wurde ihm bewusst, in welche Gefahr er auch Kilian gebracht hatte. Sicher würde man ihn auseinandernehmen. Er musste ihn erreichen, sich erklären.
Bevor der Mann hinter dem Tresen auf ihn aufmerksam werden konnte, drehte er sich um und eilte auf die Straße.
Offenbar hatte die Polizei in der Nacht seinen Pass gefunden. Wie hatte er ihn auch nur in dem Rucksack lassen können? Verzweifelt setzte er sich auf einen Mauervorsprung. Auf all das hatte Peter ihn nicht vorbereitet. Er war kein abgebrühter Agent ohne Angst und Skrupel. Vor lauter Begeisterung für Norris hatte er die Gefahren dieser Mission unterschätzt. Wut stieg in ihm auf. Der Ex-CIA-Mann hatte ihn in diese Situation gebracht. Er musste gewusst haben, dass er Torben gefährdete, als er ihn mit seinen Befürchtungen fütterte. Spätestens wenn die Politik vor den Banken und Unternehmen komplett einknicken und alle Belastungen an die Bevölkerung weiterreichen würde, wäre ein Punkt erreicht, an dem das System, die Männer und Frauen an den Schalthebeln der Macht losschlagen würden. Ihre Angst war größer als ihr Verstand und ihr Herz. Torben vermutete, dass Peter ihm nicht alles erzählen konnte. Oder wollte er es gar nicht? Das Rettungspaket in Hamburg war jedenfalls nicht für jemanden gedacht, der sich einer Bagatellstraftat schuldig gemacht hatte.
Nun war Torben völlig schutzlos. Nur seine Sonnenbrille gab ihm ein letztes Gefühl von Sicherheit, nicht sofort erkannt zu werden. Er musste weg von der Straße. Aber wohin? Selbst ein anständiges Hotel kam nicht mehr infrage, weil in den meisten ein Pass oder eine Kreditkarte vorgelegt werden musste. Als Barzahler würde er in dieser paranoiden Stadt sofort auffallen. Zurück zu diesem unorganisierten Anonymous-Haufen zu gehen war ausgeschlossen. Offenbar wurden sie seit Langem überwacht. Noch einmal wollte er nicht wie ein Wild gejagt werden.
Angestrengt dachte Torben nach, während er die Straße im Blick behielt. Ein paar mexikanisch aussehende Jungen kickten mit leeren Dosen. Eine obdachlose Frau schlurfte vorbei, schwer beladen mit Plastiktüten, in denen sie ihre Habseligkeiten mit sich schleppte. Alles hier sah trostlos aus.
Denk nach! Es muss eine Lösung geben! Vielleicht könnte ich bei den Demonstranten rund um die Wall Street Hilfe finden, überlegte er. Doch was dann? Ohne Papiere käme er ohnehin nicht weit. Er brauchte jemanden, der ihm hier heraushalf. Jemanden, dem er vertrauen konnte. Und dafür kamen nur zwei Menschen infrage: Nova und Kilian vielleicht auch wieder.
Mit Nova Kontakt aufzunehmen wagte er nicht. Er wollte sie nicht ins Fadenkreuz der Verfolger rücken. Blieb also nur Kilian. Das war allerdings eine schwierige Option. Seit Kilian ihm die Festplatte entrissen hatte, waren sie keine Freunde mehr. Andererseits war dies eine Notsituation. Kilian würde ihn sicher nicht hängen lassen, ganz bestimmt nicht. Doch was wäre, wenn die Bullen ihn seinetwegen längst hochgenommen hatten?
Torben erinnerte sich, wie er mit seinem Freund und dessen Vater ein Jahr zuvor in New York gewesen war. Auf dem JFK Airport waren sie ohne Passkontrolle eingereist, weil Kilians Vater als Honorarkonsul von Venezuela den Diplomatenstatus innehatte. Das war Torbens einzige Chance, das Land zu verlassen. In Schweden würde man ihn besser behandeln. Bei den Gefängnisstrafen, die ihn hier höchstwahrscheinlich erwarteten, würde sein Leben vorüber sein, wenn man ihn wieder entließ.
In seiner Hosentasche wühlte er nach Kleingeld. Er stand auf und schlenderte zur nächsten Telefonzelle. Aus dem Gedächtnis tippte er Kilians Handynummer in die Tasten. Dann lauschte er auf das Freizeichen. Jede Sekunde, die verging, war eine Qual. Immer wieder boxte er mit der Faust auf den Telefonkasten.
»Komm schon, geh ran«, murmelte er beschwörend.
»Winter.«
Beim Klang von Kilians Stimme hätte Torben fast geweint. Kilian, das war sein altes Leben, als es noch in Ordnung gewesen war.
»Hallo? Wer ist da?«
Torben schluckte. »Ich bin’s, Torben. Mir ist klar, welchen Ärger ich dir oder Saicom vermutlich gemacht habe. Kilian ich stehe hier auf der Fahndungsliste. Ich will mich stellen, dir alles erklären, aber in Schweden, verstehst du? Warte bitte, ich will nicht zurückverfolgt werden. Ich ruf dich in zehn Minuten wieder an.«
»In Ordnung«, sagte Kilian knapp.
Torben legte auf und sprang auf die Straße. Ein Yellow Cab kam auf ihn zugefahren, das er winkend anhielt.
»Fahren Sie in Richtung Wall Street«, rief er der Fahrerin zu, während er sich auf den Rücksitz warf. Die Taxifahrerin musterte ihn kurz im Rückspiegel, dann gab sie Gas. Kilian war also frei. Klang, als wäre er nicht betroffen. Das ist ein gutes Zeichen, dachte Torben.
Kurz hinter dem Palham Bay Park entdeckte Torben eine weitere Telefonzelle.
»Warten Sie hier, bitte.«
»Woher weiß ich, dass Sie wiederkommen?«
Torben reichte ihr zwanzig Dollar nach vorn, die sie in den Ausschnitt ihres geblümten Kleids steckte.
»In Ordnung. Ich warte, aber nur zehn Minuten, Kleiner.«
Torben stieg aus, trat in die Zelle und wählte erneut Kilians Nummer.
Es dauerte eine Weile. Torben strich sich über den knurrenden Magen. Seit dem Hamburger am Tag zuvor hatte er keinen Bissen zu sich genommen.
Endlich meldete sich Kilian. »Torben? Wo bist du?«
»In New York. Ich erklär’s dir später. Ich brauche deine Hilfe.«
»New York?«, wiederholte Kilian. »Na, das nenne ich einen Zufall. Stell dir vor, ich bin vor einer Stunde hier gelandet. Ich treffe mich mit meinem Vater und fliege morgen Abend mit ihm nach Brüssel.«
Konnte das sein? Er klang, als wäre tatsächlich alles in Ordnung, als hätte er das mit der Fahndungsliste nicht mal gehört. Torben schob alle Zweifel in diesem Moment beiseite. Wenn das stimmte, was Kilian gesagt hatte, klang es wie Musik in seinen Ohren.
»Kann ich mit euch fliegen?«, fragte er atemlos.
»Wenn dir damit geholfen ist – warum nicht? Vergiss mal unseren Streit. Ich weiß, dass du einen ganzen Sack Probleme hast. Aber wenn’s drauf ankommt, haben wir doch immer zusammengehalten, oder?«
Torben lehnte seine Wange an die Glasscheibe der Telefonzelle. »Ja, haben wir. Danke, Kilian.«
»Keine Ursache«, erwiderte Kilian. »Was ist, wollen wir uns treffen? Dann kannst du mir erzählen, was passiert ist.«
Torben ahnte, dass es nicht besonders schlau war, sich schon jetzt mit Kilian zu verabreden. Er hätte untertauchen, sich verstecken und erst am nächsten Abend wieder am Flughafen auftauchen sollen. Doch sein Gefühl absoluten Verlassenseins siegte. Er sehnte sich danach, mit einem Vertrauten zu reden.
»In der Nähe des Zuccotti Parks gibt es ein Restaurant, das Trinity Place«, schlug er vor. »Passt dir achtzehn Uhr?«
»Keine gute Idee, das wäre viel zu gefährlich für dich«, protestierte Kilian. »Hast du nicht die Fahndungsaufrufe gesehen? In New York bist du im Augenblick bekannter als Batman. Komm lieber um zweiundzwanzig Uhr in die Teller Avenue. Hausnummer 1303. Ich kenne die Gegend von früher. Da treiben sich abends keine Bullen mehr rum. Bis dahin tauchst du am besten im Claremont Park unter, der ist ganz in der Nähe. Ich werde pünktlich sein. Also?«
Torben konnte nicht antworten. Mit Schrecken sah er, dass ein Polizeiwagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. Die Polizisten schienen ihn zu beobachten.
»Ich muss Schluss machen. Wir sehen uns um 20 Uhr in der Teller Avenue.«
Er legte auf, behielt aber den Hörer in der Hand. Wie gelähmt sah er, dass die Polizisten aus dem Wagen stiegen. Einer von ihnen öffnete sein Waffenhalfter.
Panik erfasste ihn. Schnell legte er den Hörer auf und lief zum wartenden Taxi. Als er sich umdrehte, sah er, wie die Polizisten mit gezogener Waffe auf ihn zukamen.