KAPITEL 23
NEW YORK CITY – JFK AIRPORT
Ohne ein Wort über Torbens weiteres Schicksal zu verlieren, hatten die Beamten Kilian zum Flughafen gebracht und direkt am Gate abgesetzt. Kurz nach Mitternacht war seine Boeing in Richtung Stockholm abgehoben. Völlig erschöpft hatte er einige Stunden geschlafen.
Schon beim Erwachen zermürbte ihn vor allem eine Frage: Wie sollte er das alles Nova erklären?
Er massierte seinen Nacken. Vom Fenster aus sah er die Landebahn näher kommen. In Stockholm war es jetzt fast drei Uhr nachmittags. Vielleicht war Nova zu Hause, schließlich war sie ihren Job los.
Eine Stewardess beugte sich mit wohlwollendem Lächeln zu ihm herunter.
»Geht es Ihnen nicht gut. Brauchen Sie etwas?«
Kilian schaute sie traurig an. »Nein, danke. Ich komme schon klar, alles in Ordnung.«
Zu gern hätte er jemandem sein Herz ausgeschüttet. Er hatte das Gefühl, um Jahre gealtert zu sein.
Kaum war die Maschine zum Stillstand gekommen, nahm Kilian seinen Rucksack und drängte mit den anderen Passagieren zum Ausgang. Er war so gedankenverloren, dass er in der Ankunftshalle mehrmals angerempelt wurde. Da er kein weiteres Gepäck hatte, entfloh er rasch dem Menschengedränge und trat vor die Halle. Draußen blendeten ihn die ersten Strahlen der Frühlingssonne. Es hatte getaut. Die Straßen und Gehsteige waren völlig frei.
Wieder musste er an seinen nächsten schweren Schritt denken. Er hatte Angst und fühlte sich wie der letzte Feigling. Hätte er doch nur die Möglichkeit, etwas zu tun. Er war sich nicht einmal sicher, ob Torben noch lebte. Die Dramatik, mit der man ihn unbedingt erwischen wollte, sprach allerdings eher dafür, dass die Schüsse ihn einschüchtern, zum Aufgeben bewegen sollten. Sicher wollten sie ihn verhören und nicht einfach abknallen. Das konnte, nein, das durfte einfach nicht sein. Wie sollte er das sein Leben lang mit sich tragen?
Und Nova. Wie sollte er sich erklären? Sie anlügen?
Vielleicht würde Nova ihm nicht mal zuhören, ihn sogar ohne zu zögern sofort rausschmeißen. Dann würde sie ihn für immer als den Feigling in Erinnerung behalten, der ihren besten Freund ausgeliefert hatte. Eines stand fest: Nova hätte sich niemals auf irgendwelche Deals eingelassen. Sie hätte sich foltern lassen, die Agenten angeschrien, ihnen die Augen ausgekratzt und alles getan, um Torben zu decken, anstatt ihren eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Langsam bewegte er sich auf den nächsten Taxistand zu und erinnerte sich, wie Nova vor ein paar Jahren bei Saicom eingestiegen war. Sie war damals sofort mit Wallins aneinandergeraten, da sie sich wenig um ihr Auftreten und Dinge wie Pünktlichkeit geschert hatte. Zur Strafe hatte Wallins sie regelmäßig zum Kaffeekochen abgestellt. Sie besaß zwar ein enormes Talent, doch ihre wenig diplomatische Art hatte ihr immer wieder Ärger beschert.
Kurze Zeit später war dann Torben aus Hamburg zurückgekommen und von Wallins angeheuert worden.
Nova hat sich sicher sofort in Torben verliebt, dachte Kilian und kramte einen Schokoriegel aus seinem Rucksack. Seine Mischung aus Intelligenz, Genialität und Jungenhaftigkeit musste auf sie wie ein Magnet gewirkt haben. Binnen weniger Wochen hatte Torben ihr alles Wichtige beigebracht, und nachdem Nova ein Programm entwickelt hatte, das zwei bedrohliche Windows-Viren killen konnte, hatte Wallins sie in Ruhe gelassen, sogar ihr Gehalt erhöht. Die Dramaqueen, wie manche Kollegen sie gerne nannten, hatte fortan Carte blanche bei Saicom. Eine Nacht nach der anderen hatte sie in Torbens Büro verbracht. Doch mehr als Freundschaft war zur Verwunderung Kilians nie daraus geworden.
Vor dem Taxistand zog Kilian sein Smartphone aus der Jackentasche. Mit einem klammen Gefühl im Magen wählte er Novas Nummer. Teilnahmslos sah er auf die Menschenmenge, die aus der Ankunftshalle strömte. Es hob niemand ab, nur die Mailbox war angesprungen. Er steckte das Handy in seine Jeans. Sein Blick blieb an einem unscheinbaren glatzköpfigen Mann mit brauner Hose und grauer Winterjacke hängen, der ihn vom Eingang der Ankunftshalle aus beobachtete. Oder kam ihm das nur so vor? Eilig stieg er in ein Taxi.
Verdammt, jetzt werde ich auch schon paranoid, dachte er.
Dabei gab es eigentlich keinen Grund dafür. Sein schmutziger Job war erledigt, und man würde ihn jetzt in Ruhe lassen. Er war der nützliche Idiot gewesen, nichts weiter. Was ihn allerdings beunruhigte, war die Bemerkung eines der schwedischen Beamten auf dem Weg zum New Yorker Flughafen. Halblaut hatte er seinen Kollegen etwas wie »diese CIA-Schweine« zugeflüstert. War Torben am Ende in den Fängen des amerikanischen Geheimdienstes gelandet?
»Sankt Eriksgatan 12, bitte schnell«, sagte Kilian und drehte sich noch einmal um, aber der Mann war nicht mehr zu sehen.
Während das Taxi zügig in Richtung Innenstadt fuhr, hing Kilian seinen Gedanken nach. Er kannte Nova gut, aber wie gut eigentlich? Allzu viel wusste er nicht über sie. Nova wohnte direkt über einer beliebten Physiotherapiepraxis. Dort hatte sie an der Rezeption einen angenehmen Nebenjob, bevor sie bei Saicom genug verdiente, um ihr Studium zu finanzieren.
Das wusste er, und nach einem geselligen Abend bei Torben hatte Kilian noch einiges mehr über ihre Vergangenheit erfahren: Sie war achtzehn gewesen, als ihre alkoholabhängige Mutter sie nach der Scheidung aus dem Haus geekelt hatte. Danach hatte sie sich mit allen möglichen Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen. Ein Aushilfsjob bei der Zeitung Aftonbladet war dann die Initialzündung gewesen.
Nachdem sie erste Erfahrungen in der Grafik gesammelt hatte, wurde das Internet ihr neues Terrain. Von der Pike auf hatte sie gelernt, wie ein Computer funktioniert und wie man ihn kreativ einsetzt. Daraufhin war sie fest entschlossen gewesen, Informatik zu studieren, und hatte tatsächlich einen Studienplatz ergattert.
Ihr wahrer Meister aber war Torben geworden. Er hatte ihr Geheimnisse offenbart, wie sie nur Hacker der höchsten Grade beherrschen. So war aus Nova eines der vielversprechendsten Talente von Saicom geworden. Bis die lautstarke Auseinandersetzung mit Wallins ihre Karriere beendet hatte, bevor sie richtig anfangen konnte.
Das Taxi hielt vor dem ockerfarbenen Wohnhaus. Kilian zahlte und stieg aus. Wie gelähmt stand er vor der Tür. Er traute sich kaum zu klingeln. Er schaute sich um, ein paar Schulkinder überquerten gerade die Straße und liefen lachend an ihm vorbei.
Schließlich klingelte er, wie in alten Zeiten, dreimal kurz hintereinander. Der Summer ertönte, und Kilian drückte die Tür auf. Er stieg die Stufen langsam hoch, jeder Schritt fiel ihm schwer. Gleich musste er sich zur Rede stellen lassen. Und ihm graute davor.
Nova wartete bereits mit entnervter Miene vor der Wohnung.
»Kilian, verdammt! Wo warst du die ganze Zeit? Wallins hat mich angerufen und gesagt, du hättest Torben bei diesem Blödsinn geholfen!«Vorwurfsvoll sah sie ihn an. »Torben steckt ziemlich tief in der Scheiße. Er hat sich seit Tagen nicht gemeldet!«
Trotz der unfreundlichen Begrüßung war Kilian fast ein wenig erleichtert. Also wusste Nova noch nichts von seinem Verrat.
Ein paar Sekunden lang standen sie stumm voreinander. Hektische rote Flecken hatten sich zwischen Novas Sommersprossen gebildet, ihre dunklen Augen funkelten angriffslustig.
»Kann ich erst mal reinkommen?«, fragte er.
Nova verdrehte die Augen. Dann ließ sie Kilian herein und schlurfte in die Küche.
»Setz dich. Willst du Tee? Ich habe gerade einen gekocht, einen grünen, wie du ihn auch magst. Und wie Torben ihn mag.«
Sie fing an zu schluchzen, als sie zwei bunte Becher auf den hellen Holztisch stellte. Zitternd goss sie den Tee aus einer gelben Keramikkanne ein und setzte sich Kilian gegenüber. Sie schien seit Tagen nicht geschlafen zu haben.
Kilian wollte seine Beichte so schnell wie möglich hinter sich bringen.
»Ich mache es kurz«, sagte er hastig. »Dann kannst du mich verdammen, wenn du willst. Ich war in den USA. Die Bullen haben mich gezwungen, Torben in New York in eine Falle zu locken. Ich glaube, die Amis haben ihn den Schweden vor der Nase weggeschnappt. Aber wie auch immer: Torben wurde verhaftet.«
Nun ist es raus, dachte Kilian und sah Nova mit furchtsamem Hundeblick an.
Sie brachte keinen Ton hervor. Plötzlich verzerrte sich ihr Gesicht. Sie sprang auf, umrundete den Tisch und schlug ihn wie von Sinnen. Eine schallende Ohrfeige nach der anderen folgte, bis sie wieder auf ihren Stuhl sank.
»Du hast, du …, du verdammter Feigling, hast …« Ein Weinkrampf schüttelte sie.
Kilian hatte ihren Ausbruch reglos hingenommen.
»Nova, es tut mir so leid. Die Bullen haben mich dermaßen unter Druck gesetzt … und Scheiße noch mal, Torben hat mir einfach die Daten von der Festplatte geklaut!«
Nova blickte wieder auf. Mit beiden Händen wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. Ihr verzweifelter Ausdruck verwandelte sich in Fassungslosigkeit.
»Was hat er?«
»Mich beklaut, verdammt! Nachdem klar war, dass die Verschlüsselungsdaten der ESA-Satelliten nur von mir stammen konnten, ist Wallins sofort zur Polizei gerannt. Er hat mich angezeigt. Du kannst dir vorstellen, wie die mich durch den Wolf gedreht haben. Auf Hochverrat stehen bis zu zwanzig Jahre Gefängnis!«
»Jetzt wird mir einiges klar.« Ratlos ordnete Nova ihr wirres rotes Haar. »Ich hätte dich nicht schlagen sollen, tut mir leid. Ich wusste, dass er sich in die CIA gehackt hatte, aber er hat nicht gesagt, wie.«
»Er hat sich in die CIA gehackt? Dann haben wohl vor allem die Amis jeden Grund, ihn jetzt auseinanderzunehmen. Scheiße Nova, Torben hat vermutlich gleich zwei Geheimdienste in die Spur gebracht.«
Plötzlich schreckte Nova auf.
»Hast du dein Handy dabei?«
»Ja, wieso?«
»Scheiße, gib es her.«
»Wieso denn?«, fragte Kilian verwundert.
»Gib es her!«
Widerstrebend zog Kilian sein Smartphone aus der Jackentasche. Bevor er weiter nachfragen konnte, riss sie es ihm aus der Hand und rannte damit ins Badezimmer. Kilian wollte ihr hinterherlaufen, doch zu spät. Schon hörte er die Toilettenspülung.
Nova kehrte zurück, stellte sich in den Türrahmen und zeigte eine entschlossene Miene.
»So, das Problem sind wir los.«
Er schlug die Hände über den Kopf zusammen. »Spinnst du? Wieso spülst du mein Handy runter?«
»Du hast ein Smartphone, das könnte man sogar offline per GPS orten. Du glaubst doch wohl nicht, dass die uns jetzt nicht auch im Visier haben.«
Kilian ärgerte sich über sich selbst. Wieso hatte er nicht daran gedacht?
»Okay, war dämlich von mir. Und jetzt?«
Mit zusammengekniffenen Augen starrte Nova ihn an. »Ich werde jedenfalls nicht einfach hinnehmen, dass Torben in irgendeinem Knast verschimmelt! Und du wirst mir gefälligst helfen. Komm mit!«
Kilian fasste neuen Mut. Mit Nova an der Seite würde er alles in Bewegung setzen können, um Torben zu finden. Es war schmerzhaft genug, dass er nicht den Mumm gehabt hatte, dem Druck der schwedischen Polizei zu widerstehen. Wenigstens verfüge ich über ausreichend Geld und Beziehungen, dachte er, als er Nova ins Wohnzimmer folgte.
Interessiert sah er sich um. An einer weinrot gestrichenen Wand hingen vom Boden bis an die Decke Handtaschen in allen Größen, Farben und Mustern. Einige hätten jeder Großmutter zwischen Malmö und Stockholm gefallen, andere waren voller bunter Knöpfe, Buttons oder Flicken. Novas Taschentick hatte schon öfter für amüsierte Kommentare gesorgt. Wie ein Gesamtkunstwerk wirkte diese Installation von Skurrilitäten.
Kilian blieb vor dem Fenster zur Straße stehen, während Nova ihre Schuhe anzog. Sie nahm ein paar Scheine aus einer kleinen Kommode und stopfte sie in ihren Geldbeutel. Unter einem grauen Sofa zog sie zwei Motorradhelme hervor.
»Los, wir sollten schleunigst verschwinden!« Sie drückte Kilian einen Helm in die Hand und zog ihn vom Fenster weg. »Vorsicht. Ich werde seit Torbens Verschwinden beobachtet. Heute früh war der Wagen endlich weg, aber jetzt ist er wieder da.«
Das war verwirrend. Wieso sollte man Nova noch im Visier haben?, fragte sich Kilian. Die Schweden konnten doch nicht ernsthaft glauben, dass Torben hier noch einmal auftauchte.
Sie runzelte die Stirn. »Mein Motorrad steht dummerweise direkt vor der Tür. Na ja, egal. Schon mal hintendrauf mitgefahren?«
Kilian schüttelte den Kopf. Doch er hatte wohl keine andere Wahl, als Novas Fahrkünsten zu vertrauen.
»Wo willst du hin?«
Verschwörerisch legte Nova einen Finger an den Mund und flüsterte: »Ins Landhaus, da sind wir erst mal sicher.«
Sie schlichen die Treppe hinunter und traten auf die Straße. Dort stand die schwarze 500er Honda, ein echtes Geschoss, das Nova secondhand gekauft hatte. Sie schaute missbilligend zu dem weißen Volvo, in dem die Konturen eines Mannes zu erkennen waren. Wieder bemerkte Kilian die Entschlossenheit in ihren Augen. Dennoch fragte er sich, wie es ihnen gelingen sollte, so ohne Weiteres aus Stockholm zu flüchten. Der Schnee war zwar überall geschmolzen, aber die Straßen waren noch nass und rutschig.
»Festhalten, das wird keine Spazierfahrt«, warnte sie und startete den Motor. Mit einer eleganten Drehung fuhren sie zunächst im Schritttempo die Straße hoch. Der Volvo setzte sich sofort in Bewegung und wendete. Als Nova sich in die erste Kurve legte, konnte Kilian im Rückspiegel sehen, dass der Wagen ihnen in einigem Abstand folgte.
Dann gab Nova etwas mehr Gas. Kilian umschlang mit beiden Armen ihre Mitte und presste seine Beine mit aller Kraft an die Maschine. Der Volvo folgte ihnen weiter in einem Abstand von etwa fünfzig Metern.
In der Nähe des Carls-Elchs-Museums lenkte Nova ihre Honda in den Kreisverkehr, der auf die Bundesstraße Roslagsvägan führte. Doch statt diesen Weg zu nehmen, umrundete sie das Rondell einmal komplett und legte dabei das Motorrad so tief, dass sie mit ihren Knien fast den Asphalt berührten. Dann bog sie wieder auf die Straße ein, aus der sie gekommen waren. Sie konnten das verdutzte Gesicht des Volvofahrers erkennen, als er auf der Gegenfahrbahn an ihnen vorbeirauschte.
Geschickt nutzte Nova den Moment, in dem sie sich für ihren Verfolger im toten Winkel befanden, und lenkte ihr Vehikel blitzartig in die Straße zum Museum. Von dort holperte sie mitten durch den Bellevuepark weiter. Es war ein äußerst riskantes Unterfangen. Der aufgeweichte Rasen war voller Steine und Unebenheiten, immer wieder brach das Motorrad seitlich aus.
Die Karre fliegt gleich auseinander, dachte Kilian, während er sich krampfhaft an Nova klammerte. Nova steuerte ihre Honda geradezu virtuos über das Gelände. Das Bike schlingerte zwar gefährlich hin und her, doch nach einem letzten Aufheulen des Motors erreichten sie die Bundesstraße jenseits des Parks.
Kilian hing immer noch wie ein Äffchen an Novas Körper, als sie mit Vollgas die Roslagsvägan hinunterschossen. Ihren Verfolger hatten sie abgehängt.
Nova riss einen Arm hoch und wandte sich halb zu Kilian um.
»Yippiie! Wir haben’s geschafft!«
Nach einer Dreiviertelstunde erreichten sie das einsam gelegene Landhaus, das Novas Vater gehört hatte. Es lag gute hundert Meter von der Straße entfernt, umgeben von dichtem Wald. Am Ende der von Bäumen verdeckten Einfahrt tauchte ein gelbes Holzhaus mit einer weitläufigen überdachten Veranda auf. Ihre Balken waren weiß gestrichen, die Fensterbänke bestanden aus dunklem Edelholz, und die Fenster des ersten Stocks waren mit grünen Läden verschlossen. Vor dem Eingang stand eine knapp meterhohe Buddhastatue.
Mit durchdrehenden Reifen preschte Nova über einen Sandweg und kam hinter dem Haus zum Stehen.
»Wow, du kannst dich echt bei jedem Offroad-Rennen bewerben«, sagte Kilian anerkennend, während er mit weichen Knien abstieg.
»Wir gehen besser schnell rein. Hier haben wir Ruhe. Das Haus ist immer noch auf den Namen meines Vaters eingetragen – und er hatte einen anderen Nachnamen als ich. Mit etwas Glück kommen die Bullen nicht gleich drauf.«
Kilian, Torben und Nova hatten hier so manches Wochenende verbracht. Im Winter waren sie Ski gelaufen, im Sommer hatten sie geangelt oder stundenlang auf der Veranda gesessen und über alles Mögliche geredet, aber kaum über sich selbst.
Nova schloss auf. Das Haus war auch von innen mit Holz verkleidet. Nova hatte nach dem Tod ihres Vaters alles entsorgt, was sie an ihn erinnerte. Nur im Flur, neben einem mannshohen Spiegel, hingen ein paar Familienfotos.
Sie gingen ins Wohnzimmer. Als Erstes fiel ein schwerer, dunkel gebeizter Schreibtisch aus Indien ins Auge. Von dort konnte man direkt in den Garten und in den endlosen Wald blicken. Gelb-weiß gemusterte Teppiche auf den Holzböden gaben dem Raum eine heimelige Atmosphäre. Eine Yucca-Palme ragte neben einem weißen Sofa bis fast an die Decke. Gegenüber war ein Kamin in die Wand eingelassen.
Nova ließ sich aufs Sofa fallen, legte den Kopf nach hinten und strich ihre Haare zurück.
»Ich weiß, dass Torben uns nicht mit Absicht in diesen Schlamassel reingezogen hat. Bevor er geflüchtet ist, war er bei mir. Er wirkte am Boden zerstört.«
Kilian sank erschöpft von der aufreibenden Fahrt in einen alten braunen Ledersessel, dessen Lehnen mit Kupfernieten verziert waren. Beschämt senkte er den Kopf.
»Hätte ich das doch nur gewusst«, murmelte er. »Woran hat Torben eigentlich gearbeitet?«
Einen Moment lang schwieg Nova, dann seufzte sie tief.
»Ich weiß nur, dass es etwas mit seinem mysteriösen Programm zu tun hat. Und dass dieser Peter Norris verschwunden ist. Seitdem war Torben wie ausgewechselt. Dann hat er sich mit deinen Daten in den CIA-Rechner gehackt.«
Kilian stand der Mund weit offen. »Mit meinen Daten! Ist er denn völlig wahnsinnig geworden?«
»Er wollte unbedingt etwas herausfinden, etwas Geheimes und zu einem Commander Zero«, erwiderte Nova. »Verflucht, ich hätte diese Unterlagen doch bei mir behalten sollen!«
»Was für Unterlagen?«
Nova blickte skeptisch zu Kilian hinüber. Sie schien mit sich zu kämpfen, wie viel sie ihm anvertrauen sollte.
»Er muss geahnt haben, dass man ihm auf die Schliche kommt«, sagte sie schließlich. »Deshalb bat er mich, Unterlagen von Norris bei mir zu verstecken. Aber ich hatte Angst, weil wir vielleicht schon vor Torbens Verschwinden beschattet wurden.«
Jetzt rückte Kilian ganz nach vorn an die Sesselkante.
»Das war vor dem Hack mit dem Satelliten?« Er schrie fast. »Dann hat er vielleicht Zugang zu streng geheimen Informationen bekommen. Wer der CIA in die Suppe spuckt, hat ganz schlechte Karten. Wie konnte der Kerl das nur tun? Kannst du mir wenigstens einen Hinweis geben, was in den Dokumenten stand?«
Ruckartig stand Nova auf, ging zur Veranda und öffnete die Türen. Die Luft war stickig, weil sie wochenlang nicht mehr hier gewesen war. Sie machte einen Schritt hinaus, atmete tief durch und drehte sich wieder zu Kilian.
»Nein, ich habe nicht reingeschaut, ehrlich. Torben wollte es nicht. Aber er sprach von einem Geheimplan, von totaler Internetzensur. Es gebe da ein Projekt, bei dem weltweit alle Datenströme zusammenlaufen. Und … warte mal … jetzt fällt mir was ein. Irgendwann fielen mal Namen wie Edward Bernays und Walter – was mit L …«
»Walter Lippmann?«, fragte Kilian völlig verblüfft.
»Ja, genau. Torben sagte, sie wären die Väter eines Plans, der erst jetzt zur völligen Entfaltung kommen wird.«
Kilian boxte mit der Faust auf die Lehne seines Sessels.
»O Gott, diese Nummer also! Bernays und Lippmann sind Sozialwissenschaftler. Man nennt sie die Erfinder der Public Relations. Torben hielt sie allerdings für Brandstifter.«
»Wieso denn?«
Kilian wirkte plötzlich geistesabwesend. Er erhob sich und lief auf und ab. Dann blieb er stehen, kreuzte die Arme und sah aus dem Fenster in den Wald.
»Nun sag schon«, insistierte Nova.
»Pack deine Sachen. Wir müssen in die Staaten.«
»Wie bitte? Was hast du vor?«
»In Washington kenne ich jemanden, der uns vielleicht weiterhelfen kann. Ich war mit Torben vor drei Jahren zu Besuch bei ihm. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Torben mit seinem Programm irgendwelche Strategien der CIA oder des Pentagons durchkreuzt hat. Das ist ganz großes Kino, verstehst du? Nicht ein kleiner Hack, sondern Sabotage auf höchster Ebene! Ich muss sofort zu einer Telefonzelle.«
Er sprang auf, doch Nova hielt ihn am Arm fest.
»Moment, Moment, ich verstehe gar nichts. Was hat dieser Typ, dieser Lippmann, mit dem Pentagon zu tun?«
Ungeduldig befreite Kilian seinen Arm. »Okay, die Kurzfassung. Lippmann hat in seinen inoffiziellen Memoiren geschrieben, dass die Manipulation der Massen in einer demokratischen Gesellschaft legitim sei. Auch in einem freiheitlichen Staat habe die Freiheit demnach Grenzen, damit nichts aus dem Ruder läuft. Das alles hat Torben in einem Seminar bei Peter Norris in Hamburg erfahren.«
»Ja, und?«, fragte Nova wenig beeindruckt. »Ist doch alles nur graue Theorie.«
»Aber nur so lange, wie keiner auf die Idee kommt, diese Theorie anzuwenden. Schon vergessen? Occupy? Anonymous? Für die Mächtigen geht es jetzt um alles. Lippmann ist der ideale Stichwortgeber. Torben hat immer wieder einen Schlüsselsatz zitiert: ›Wir müssen die Ignoranz und Dummheit der Massen erkennen und dürfen nicht demokratischen Dogmatismen erliegen.‹«
»Komm auf den Punkt«, sagte Nova fordernd.
»Du kennst doch Torben. Der wittert immer irgendeine Verschwörung. Na, und dann hat er wohl eins und eins zusammengezählt. Lippmanns radikale Vision für die Manipulation der öffentlichen Meinung ist heute besser machbar denn je. Wenn du das Internet kontrollierst und nur noch manipulierte Informationen in Umlauf setzt, hast du faktisch die Macht. Ich fand das immer lächerlich, aber Torben war wie besessen davon.«
»Stimmt«, sagte Nova leise.
»Für Ideologen, die so denken wie Lippmann, ist das Internet die Büchse der Pandora. Wer weiß, vielleicht hat Torben sie geöffnet und sitzt nun zwischen den Fronten. Den Rest kennt man ja.«
Nova wurde blass. »Wer die Büchse der Pandora öffnet, bezahlt mit seinem Leben.«
Ohne weitere Erklärung ging sie zu einem mit Messingbeschlägen verzierten Eichenschrank. Darin lagerten immer ein paar Klamotten, damit sie sich im Winter nach dem Langlauf umziehen konnte. Sie holte einige Kleidungsstücke heraus und zog eine dunkle Ledertasche unter dem Schrank hervor. Dann warf sie alles wild durcheinander hinein.
Kilian hatte ihr stumm zugesehen.
»Heißt das, du kommst mit?«
Sie hielt inne. »Denkst du etwa, ich sitze hier vor dem Kamin rum, während Torben irgendwo in Amerika festgehalten wird?«
Aus ihrer Jackentasche holte sie ihr altes Handy. Ein mittelalterlicher Knochen, wie Kilian immer lästerte, aber es funktionierte, konnte Mails senden und empfangen, war aber nicht so leicht zu orten wie Geräte der neuen Generation.
»So, fertig! Können wir?«
Kilian spürte, wie aufgewühlt sie war.
»Liebst du ihn?«
Sie ließ die Tasche fallen. »Was?«
»Du und Torben, warum seid ihr eigentlich nie ein Paar geworden?«
Nova schien peinlich berührt zu sein und wich seinem Blick aus.
»Es gibt viele Formen von Liebe«, murmelte sie fast unhörbar. »Sicher liebe ich ihn, aber vielleicht nicht so, wie du denkst.«
»Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten.«
Nova griff nach der Tasche und ging auf den Flur. Ein letztes Mal betrachtete Kilian den Raum, in dem sie so oft zu dritt gesessen und diskutiert hatten. Es schien Jahrzehnte her zu sein. Er schwor sich, dass er Torben hierher zurückbringen würde. Koste es, was es wolle.
Nova steckte gerade den Schlüssel in die Haustür, als er zu ihr ging.
»Und wie hast du dir das genau gedacht?«, fragte sie. »Einfach so ab nach Amerika?«
Galant nahm Kilian ihr die Tasche ab. »Ich werde den Piloten meines Vaters um Hilfe bitten.«
Nova verzog den Mund. »Wie es aussieht, stehen wir doch längst auf irgendwelchen schwarzen Listen. Was ist mit der Passkontrolle?«
»Wird es nicht geben. Mein Vater genießt Diplomatenstatus. Wir werden auf einer separaten Rollbahn für Privatjets landen und ohne Kontrolle einreisen.«
Leise pfiff Nova durch die Zähne. »So läuft das also bei den Reichen und Schönen.«
»Reich – ja, schön – lassen wir das«, grinste Kilian.
Auch Nova grinste, doch dann wurde sie wieder ernst. »Du bist fest entschlossen?«
»Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ich nicht alles versucht hätte.«
Nova konnte nicht anders, sie umarmte ihn fest.
»Unsere gemeinsame Zeit war die schönste meines Lebens. Ich fühle mich bei euch beiden aufgehoben wie bei einer Familie, die ich nie wirklich hatte. Danke, dass du jetzt nicht kneifst.«
Sie fuhren eine knappe Viertelstunde die Landstraße hinunter. Links und rechts waren nur Wälder und Wiesen zu sehen. Auch hier war der Schnee dem Tauwetter gewichen. Vereinzelt konnte man schon zaghaftes Grün an den Bäumen erkennen.
An einer alten Tankstelle hielt Nova. Die blaue Fassade war teilweise abgebröckelt, und die Zapfsäulen wirkten eingerostet. Nur ein uralter Ford parkte vor dem Shop. Neben einer Holzhütte mit verblichenen Werbeschildern stand eine verdreckte Telefonzelle. Einige der Scheiben waren zersprungen. Nova nahm den Helm ab und setzte sich auf eine Bank unter einer abblätternden Coca-Cola-Reklame, während Kilian die Zelle ansteuerte.
Nach einer Minute kam er zurück.
»Morgen sind wir in Washington.«