KAPITEL 11
STOCKHOLM
Torben rannte, so schnell er konnte. Jetzt gab es hier nur noch Nova, die ihm helfen konnte. Er blickte sich um. Der Geländewagen war nicht mehr zu sehen. Dennoch durfte er kein Risiko eingehen. Er musste weg. New York! Vielleicht könnte dieser Hacker ihm weiterhelfen, Anonymous zur Räson bringen und ihm so lange Unterschlupf gewähren, bis Spygate sein Werk vollbracht hatte. Nebenbei hätte er zu gern gewusst, was der Unbekannte damit meinte, er könne sein Talent besser einsetzen. Was könnte ich schon Besseres tun, als die digitalen Waffen zu enttarnen, dachte Torben.
Als er um die nächste Ecke bog, hörte er einen Pfiff. Wenige Meter vor ihm tauchten zwei Männer auf. Er blickte um sich, doch Hilfe war nicht in Sicht. Noch immer waren die Straßen menschenleer. Er bog in die erstbeste Toreinfahrt und lief über den Hof in den angeschlossenen Garten. Er kletterte über einen vereisten Drahtzaun, ließ sich in ein verschneites Beet fallen und hastete weiter. Jetzt hatte er einen Vorsprung, immerhin.
Auf einem weiteren Innenhof lief er in die nächste Toreinfahrt. Als Kind hatte er in diesem Viertel mit seinen Freunden Räuber und Gendarm gespielt. Dass aus dem Spiel eines Tages bitterer Ernst werden würde, erschien ihm wie ein böser Traum.
Er drehte sich um. Noch keine Männer in Sicht.
Rechter Hand entdeckte er eine Kellertür. Er riss sie auf, blieb mit dem Fuß an der Schwelle hängen, suchte Halt. Vergebens. Polternd stürzte er die Treppe hinab. Sein Kopf schlug auf Stein. Der Schmerz traf ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Er spürte, wie ihm warmes Blut über die kalte Stirn lief.
Benommen stemmte er sich hoch. Er lauschte auf Geräusche von oben, während er mit dem Ärmel seines Parkas die Blutung stillte. Ich sitze in der Falle, schoss es ihm durch den Kopf, und nicht nur ich. Vielleicht ist man auch schon hinter Nova her. Ich hätte auf sie hören sollen. Ich werde im Knast landen oder vielleicht sogar Schlimmeres.
Er sank auf eine Kohlenkiste. Sollte er sich stellen? Einen Deal aushandeln, um straffrei auszugehen? Möglicherweise konnte er ja in einigen Stunden Spygate wieder entfernen. Erschöpft wühlte er ein Lakritz aus der Hosentasche. Er betrachtete es, als sei es das Letzte, was er je sehen würde.
Vorsichtig betastete er seine Stirnverletzung. Die Blutung hatte aufgehört. Ein bisschen stolz war er schon. Die Jahre eisernen Muskeltrainings hatten sich ausgezahlt. Er hatte keine weiteren Blessuren.
Nach einer halben Stunde unruhigen Abwartens und Lauschens fasste Torben einen Entschluss. Auch wenn es riskant war, er wollte zu Nova. Aber zuvor musste er etwas tun, was ihm größtes Unbehagen bereitete. Vielleicht sah er ja wirklich weiße Mäuse, aber besser war es. Blitzschnell öffnete er eine Mülltonne und warf sein Handy hinein. Nun konnte man ihn nicht mehr orten.
Novas Wohnung lag nur zwei Straßen entfernt. Wenn er sich ausschließlich in dem Labyrinth aus Hinterhöfen, Gärten und Kellern fortbewegte, könnte er es sicher unbemerkt zu ihr schaffen.
Das Blut aus seiner Platzwunde war inzwischen getrocknet. Vorsichtig schob er die Holztür auf und spähte nach draußen. Niemand war zu sehen. In seinem Kopf begann es wieder zu hämmern, während er gebückt über den Hinterhof lief. Er dankte seinem Schicksal, dass er die Gegend kannte wie seine Westentasche.
Ohne auch nur einmal eine Straße zu betreten, erreichte er den Innenhof von Novas Haus. Er nahm ein paar kleine Steine und warf sie an das hofseitige Fenster ihres Wohnzimmers. Sei da!, flehte er innerlich. Du musst da sein!
Torben unterdrückte ein Schluchzen, als Novas roter Schopf hinter der Fensterscheibe auftauchte. Eine Minute später öffnete sich die Kellertür.
»Komm schon rein!«
Nova zog ihn in den Keller und hastete mit ihm hoch in die Wohnung. Auf ihrem Gesicht brannten hektische rote Flecken. Erschrocken starrte sie Torben an, als er sich auf einen Küchenstuhl fallen ließ.
»Um Gottes willen, wie siehst du denn aus?«
Erst jetzt sah Torben, dass sein Parka blutverschmiert war. »Sie sind hinter mir her.«
Nova war außer sich. Beschwörend hob sie die Hände. »Wer denn? Himmel noch mal, Torben, wer und warum? Du drehst ja komplett durch!«
»Ich habe einen riesigen Fehler gemacht«, flüsterte er. »Es ist zu gefährlich, wenn ich in Stockholm bleibe. Kannst du mir bitte Geld leihen? Ich muss schnellstens weg!«
Ohne zu zögern, ging Nova zum alten Küchenschrank, öffnete eine Schublade und zog ein Kuvert heraus, das sie Torben reichte.
»Hier, das Geld hast du mir mal für schlechte Zeiten gegeben, erinnerst du dich?«
Torben nickte. Vor seinen Augen drehten sich glühende Kreise.
»Danke, Nova.« Er öffnete den Umschlag. Ein paar Hundert Kronen. Damit würde er nicht allzu weit kommen. »Hast du vielleicht auch eine Schmerztablette für mich?«
Sie betastete vorsichtig seine Stirn. »Von mir aus kannst du die ganze Packung haben. Aber was hast du jetzt vor? Wo willst du hin?«
»Soll ich ehrlich sein? Ich habe keinen blassen Schimmer.«
Torben stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Küchentisch auf, während Nova ins Badezimmer ging, um die Tabletten zu holen. Ja, wohin? Gute Frage. Gedankenverloren spielte er mit dem Schlüssel an der silbernen Kette um seinen Hals. Mit einem Mal richtete er sich kerzengerade auf.
Das Bankschließfach! Peters Schließfach! Was auch immer er in dem Schließfach vorfinden würde – wenn überhaupt jemand wusste, wie man unbemerkt verschwinden konnte, dann Peter. Langsam, ganz langsam formten sich seine ungeordneten Gedanken zu einem Plan. Als Nova mit den Tabletten in die Küche zurückkam, sprang er auf.
»Ich muss nach Hamburg. Und von da aus weiter nach New York, einen Anonymous, einen Commander Zero treffen«, sprudelte es aus ihm heraus.
Nova tippte missbilligend an ihre Stirn. »Geht’s noch? In deinem Zustand schaffst du es nicht mal bis zur nächsten U-Bahn-Station. Torben, wach auf! Niemand hat dich im Visier.«
Torben ließ sich nicht beirren. Ein Energiestoß durchzuckte ihn, als seien all seine Lebensgeister wieder erwacht. Er zeigte auf den Schlüssel an seinem Hals.
»Peter hat ihn mir gegeben. Er passt zum Schließfach einer Bank in der Nähe des Hamburger Dammtorbahnhofs. Für Notfälle. Und das hier ist ein Notfall!«
Nova schüttelte den Kopf. In ihren leuchtend blauen Augen stand nun Angst.
»Du hast doch nur ein Programm ins Netz gesetzt, das …«
Torben presste die Lippen zusammen, dann brach es aus ihm heraus: »Ich habe leider auch die CIA gehackt, um an Informationen über Peter zu kommen. Die CIA, verstehst du? Dafür stecken die mich ein paar Jahre in den Knast! Ich kann jetzt nicht einfach aufgeben, ich weiß, dass da was Großes läuft.«
Nova wurde allmählich selbst panisch. »Wie du meinst. Wenn du mich brauchst, dann geh mit deinem alten Pseudonym ins Darknet.«
Sie musterte ihn von oben bis unten. »Aber so kannst du nicht durch die Gegend laufen. Warte, ich habe vielleicht etwas, was dir passt.«
Sie verschwand in ihrem Schlafzimmer und kam mit einem alten Armeemantel zurück.
»Den habe ich mal auf dem Flohmarkt gekauft. Steht dir bestimmt gut. Und für den Kopf …« Sie überlegte angestrengt. Dann hellten sich ihre Züge auf. »Ein Basecap! Das verdeckt deine Wunde. Aber erst wasch dir das Gesicht. Du siehst aus wie ein Vampir nach dem Festmahl.«
Sie begleitete Torben ins Badezimmer und sah zu, wie er sich das blutverschmierte Gesicht vorsichtig mit Wasser und Seife wusch.
»Sag mal, wieso eigentlich die USA? Hamburg verstehe ich ja noch, aber Amerika?«
Torben trocknete sich das Gesicht ab. »Ich habe eine Einladung zu einem Hackerkonvent in NewYork bekommen. Keine Ahnung, ob mir das weiterhilft. Aber je weiter ich von Stockholm weg bin, desto besser.«
Überzeugt sah Nova nicht aus. Nachdenklich lehnte sie an der Badezimmertür. »Ich wünsch dir eine Riesenportion Glück!«
Die Gefühlsaufwallung übermannte Torben ohne Vorwarnung. Nova war die einzige Vertraute, die er noch hatte. Und vielleicht etwas mehr. Ohne lange zu überlegen, zog er sie an sich und umarmte sie. Er spürte, wie sie sich an ihn schmiegte. Dann löste sie seine Arme von ihrem Körper.
»Pass auf dich auf«, raunte sie dicht an seinem Ohr. »Ich brauche dich noch.«
Als sei ihr dieses Geständnis peinlich, wandte sie sich ab und holte den Mantel. Den blutverkrusteten Parka stopfte sie in eine Plastiktüte.
»Ich schmeiß ihn irgendwo in einen Mülleimer.«
Torben zog den Mantel an und setzte das Basecap auf, das Nova ihm hinhielt. Im Spiegel sah er einen Fremden. Auf den ersten Blick würde ihn jedenfalls niemand erkennen.
Nur schwer widerstand er der Versuchung, Nova zu küssen. Es wäre einfach nicht fair gewesen. Niemand konnte sagen, ob sie sich jemals wiedersehen würden. Er zwinkerte ihr nur aufmunternd zu und ging zur Wohnungstür.
Als er sich ein letztes Mal umdrehte, wischte sich Nova gerade eine Träne aus dem Augenwinkel. Diesen Anblick würde er nie wieder vergessen.
Behutsam drückte er die Klinke hinunter. Der Flur war leer. Er lief in den Keller und von dort auf den Innenhof. Nachdem er sich durch zwei Gärten geschlichen hatte, traute er sich in eine Nebenstraße und passte ein Taxi ab.
»Zum Hauptbahnhof, bitte.«
Der Fahrer war dunkelhäutig und sprach nur gebrochen Schwedisch. Der würde ihm kaum Schwierigkeiten machen. Torben seufzte tief. Sein Leben war ein Trümmerhaufen. Doch er war fest entschlossen zu überleben.
Am Hauptbahnhof hatte er Glück. Der nächste Zug nach Malmö ging in zehn Minuten. Torben sehnte sich nach Ruhe und buchte ein Schlafabteil für sich allein. In Malmö angekommen, würde er mit der Fähre nach Kopenhagen übersetzen und vielleicht schon am nächsten Morgen in Hamburg sein. Wenn alles gut ging.
Auf dem Bahnsteig starrten ihn Wartende an. Irritiert wich er ihren Blicken aus. Dann fiel ihm ein, dass er in seinem Aufzug wirklich ziemlich seltsam aussah. Die perfekte Tarnung, dachte er mit einem letzten Rest Galgenhumor. Nichts ist unauffälliger als solch eine auffällige Verkleidung. Wer kam denn auf die Idee, sich so verrückt auszustaffieren, wenn er sich unsichtbar machen wollte?
Im Gedränge des Bahnsteigs spähte er angespannt nach möglichen Verfolgern. Doch sosehr er auch Ausschau hielt, offenbar suchte ihn hier niemand.
Heb bloß nicht ab, Torben Arnström, ermahnte er sich, so wichtig bist du nun auch wieder nicht.
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Nachdem Torben sein Abteil gefunden hatte, zog er sofort die Gardinen zu. Das Bett war bereits fertig für die Nacht. Endlich schlafen.
Er zog den Mantel aus und legte sich auf die Bettdecke. Sein Körper bebte. Jetzt, nachdem er in Sicherheit war, setzte erst der Schock ein. Alles tat ihm weh. Er fühlte sich wie zerschlagen. Er war in einem Albtraum gefangen, der ihn inzwischen drei Tage verfolgte. Doch es schien so real. So real wie die Schmerzen. Er nahm eine von Novas Tabletten und spülte sie mit dem Mineralwasser hinunter, das auf der Ablage am Fenster stand. Mit freundlichen Empfehlungen der königlich-schwedischen Bahn.
Während er sich wieder auf das Kissen sinken ließ, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. So nüchtern wie möglich analysierte er seine Chancen. Sicher würde man seine IP-Adresse und längst seine Wohnung auseinandergenommen haben. Falls es ihm tatsächlich gelang, sich nach New York abzusetzen, war ein großer Schritt getan. Und dann? Was war mit seiner heroischen Mission? War es nicht ein wenig lächerlich, dass ausgerechnet er antreten wollte, die Machthaber der Welt in ihre Schranken zu weisen? Für Torben waren die demokratischen Parlamente immer mehr zur Farce verkommen. In den Hinterzimmern von gerade mal 150 internationalen Konzernen wurde über das Schicksal von Milliarden Menschen entschieden. Davon waren beinahe die Hälfte Banken und Versicherungen. Als er aus dem kleinen Abteilfenster schaute, erinnerte er sich an ein Interview mit einer Investmentbankerin, das er erst vor ein paar Tagen im Netz gelesen hatte. Sie bestritt nicht, dass ihre Branche durch Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulationen vermutlich mehr Menschen umgebracht haben könnte als mancher Diktator des 20. Jahrhunderts.
Vielleicht konnte ihm dieser Hacker helfen, noch mal in die Datenbanken der CIA zu kommen. Es war ein Fehler gewesen, sich ohne genaue Instruktionen von Peter in die CIA zu hacken.
Torben fiel eine Diskussion mit Kilians Vater ein. Vor einigen Wochen war er zu einer Party in die herrschaftliche Stockholmer Villa eingeladen worden und Kilian zuliebe hingegangen. Irgendwann hatte Kilians Vater ihn in ein Gespräch verwickelt. Dabei war ein schrecklicher Satz gefallen:
»Der Kapitalismus braucht keine Demokratie.«
Der Satz hatte Torben elektrisiert wie ein Starkstromschlag. Das war der Zynismus der Macht. Die Herrschenden dachten gar nicht daran, sich von irgendwem die Butter vom Brot nehmen zu lassen.
Schläfrig beobachtete Torben, wie die Masten neben der Bahntrasse im Sekundentakt am Fenster vorbeiwischten. Was ihm im Moment am meisten fehlte, war sein Handy. Zu gern wäre er ins Netz gegangen, um zu sehen, was sich dort tat. Voller Bedauern dachte er an die Mülltonne, in der sein Handy nun zwischen Fischabfällen und alten Zeitungen lag. Kein Netz. Er fühlte sich wie amputiert. Wieder wanderten seine Finger zum Schlüssel an seiner Halskette. Was würde er in dem Schließfach finden? Existierte es überhaupt noch? Oder war Hamburg eine Sackgasse, vielleicht sogar eine tödliche? Während er darüber nachdachte, fielen ihm die Augen zu.