KAPITEL 44
NEW YORK CITY – WEST STREET
Mit einem Taxi waren Nova und Kilian bis an die West Street herangekommen. Danach ging nichts mehr – der Verkehr war zusammengebrochen. Hupende Autos stauten sich Stoßstange an Stoßstange rund um das Epizentrum der Demonstrationen, Legionen von Menschen fluteten die Straße, und auf dem Bürgersteig war ein Gedränge wie sonst nur zur Vorweihnachtszeit.
Sie stiegen aus und kämpften sich zu Fuß weiter durch. Es war bereits weit nach Mitternacht. Die Dunkelheit und die Menge an Aktivisten, in der sie sich bewegten, boten ihnen Schutz, falls sie überwacht wurden. Das hofften Nova und Kilian jedenfalls.
Als sie die Blechlawinen hinter sich gelassen hatten, sahen sie, dass die Straßen rund um den Financial District von Demonstranten blockiert waren. Seit Stunden gab es einen leichten Nieselregen. Das am Morgen verhängte Versammlungsverbot wurde komplett ignoriert. Jetzt war die ganze Welt in Aufruhr, wie damals in Ägypten, als sich der Nahe Osten durch Facebook gegen die Diktatoren organisierte. Es roch nach Schweiß, Essen und nassen Klamotten. Sie schlängelten sich durch die Menge zur Rector Street in der Nähe des Trinity Place.
»Sieh mal, da hinten stehen lauter Schulbusse, was hat das denn zu bedeuten?«, fragte Kilian.
»Schulkinder sind da ganz bestimmt nicht drin«, gab Nova zurück. »Vielleicht tarnen die ihre Strahlenwaffen damit. Wir sollten zusehen, dass wir unsere Warnung absetzen und schleunigst abhauen.«
Sie mussten ihre Ellenbogen gebrauchen, um sich weiter durch das Gewühl zu drängeln, bis sie schließlich von einer Straßensperre an der Ecke Greenwich Street aufgehalten wurden. Eine Hundertschaft bewaffneter Nationalgardisten und Dutzende Polizisten waren hier in Stellung gegangen. Kilian mochte sich kaum vorstellen, wie es Richtung Zuccotti Park oder rund um die Wall Street aussehen musste. Es ging das Gerücht, dass die Sicherheitsbehörden aus dem ganzen Land Verstärkung angefordert hatten, so, als stünde ein Bürgerkrieg bevor. Die Wall Street, dachte Nova. Sie erinnerte sich an ihren letzten Besuch in Berlin. Auf der East Side Gallery in Friedrichshain war ein Graffito, das diese Situation treffend beschrieb: Nach dieser Mauer muss die nächste fallen: die Wall Street.
Nova zog ihr Handy heraus, schaltete es ein und blieb einen Moment abwartend stehen.
»Kein Netz?« Kilian drehte sich zu ihr um. »Komm weiter, wir müssen uns bewegen, sonst erfassen uns noch irgendwelche Überwachungskameras.«
»Das Netz ist sowieso mausetot, verdammt! Ich schalte das Handy wieder ab.«
Beunruhigt schauten sie sich um, bevor sie weitergingen. Nova hatte ein paar Occupy-Demonstrationen in Europa erlebt, doch diese hier war nicht zu überblicken. Es könnten Hunderttausende sein, schätzte sie. Es darf keine Panik ausbrechen, schoss es ihr durch den Kopf. Alle Fluchtwege waren versperrt durch Demonstranten, aber auch von Polizisten und Nationalgardisten. Plötzlich spürte sie so etwas wie Klaustrophobie. Sie war von Tausenden Menschen eingekeilt, die wild durcheinanderschrien. Am liebsten wäre sie auf der Stelle geflohen.
Kilian fiel auf, wie bedrängt sie sich fühlte. Schützend legte er einen Arm um sie.
Ein Meer von Transparenten wogte durch die Straßen. Viele Menschen hatten sich mit Fackeln ausgerüstet. Laute Sprechchöre hallten durch die Schluchten zwischen den Hochhäusern.
»Stop violence against peaceful demonstraters all over the world«, skandierte die Menge jetzt. Hätte Kilian nicht gewusst, welche Gefahren ihnen hier drohten, wäre es ein erhebendes Gefühl gewesen. Die Geschlossenheit der Menge war beeindruckend. Das gab den Menschen ein trügerisches Gefühl der Unverwundbarkeit. Noch nie hatte Kilian eine derartige Manifestation von Solidarität erlebt. Auch wenn sie keine konkreten Forderungen haben mochten, war Kilian das erste Mal tief beeindruckt. Hier waren keine Chaoten oder Radikale auf den Straßen, sondern Menschen aus allen Schichten. Das war elektrisierend.
Eine junge Frau mit einem Transparent und einem Schwung Guy-Fawkes-Masken zwängte sich an ihnen vorbei. Kilian griff in seine Hosentasche und holte ein paar Scheine heraus. »Hey, kannst du uns zwei davon geben?«
»Klar, macht zehn Dollar.«
Er drückte ihr das Geld in die Hand und setzte sich eine der Masken auf. Die zweite gab er Nova.
»Hier, sicher ist sicher.«
Aus einiger Entfernung hörte man von einem Laster mit großen Boxen auf der Ladefläche eine der Hymnen von Anonymous, komponiert als brachialer Rap. Nova lief ein kalter Schauer über den Rücken, während die satten Bässe zu ihnen drangen. Der Boden erzitterte, und auch ihre Körper vibrierten.
Polititians are put there to give you the idea that you have freedom of choice, but you know you have no choice, you have owners, they own you …
Noch am Morgen hatte Kilian gelesen, dass die Occupy- Bewegung in den vergangenen Wochen Hunderte von Provokateuren enttarnt hatte, die versuchten, die Kundgebungen bewusst zur Eskalation zu bringen. Es war nicht ein einziges Mal gelungen. Wenn Rogan recht hatte und Kilians Verdacht sich erhärten würde, sollten dies nun Strahlenwaffen übernehmen. Aber wie sollte er die Leute hier warnen?
Er versuchte angestrengt, die Quelle des Human Microphone auszumachen, doch die Menschenmenge war zu groß und zu unübersichtlich.
Ein maskierter Demonstrant prallte gegen Kilian. Er trug ein T-Shirt in grellem Pink und eine Wollmütze im selben Farbton. »Sorry, Alter. Woher kommt ihr denn?«
»Aus Schweden«, antwortete Nova.
»Wow, aus dem guten, alten Europa. Da ist echt die Hölle los, was?«
»Die Hölle ist ein Urlaubsparadies dagegen, die setzen mittlerweile scharfe Waffen und Panzer ein.« Nova spähte zu den anrückenden Polizisten, die hinter den Köpfen der Menge zu sehen waren. »Habt ihr keine Angst, dass es hier auch knallt? Die werden euch zum Angriff zwingen, und dann kann es Tote geben.«
Der Typ nahm seine Plastikmaske ab. Darunter verbarg sich das runde, gutmütige Gesicht eines dunkelhäutigen Jugendlichen, der nicht älter als sechzehn war.
»Das sollen die mal versuchen, diese Bastarde! Die Parole heißt: Bloß nicht provozieren lassen. Wenn wir hier austicken, liefern wir denen doch bloß einen Grund, dass sie uns umnieten wie die Karnickel.«
Kilian und Nova nahmen ebenfalls ihre Masken ab. »Die haben was ganz anderes vor. Deshalb haben wir versucht, eine Warnung im Netz abzusetzen. Aber keine Chance. Sie löschen alles. Pass auf, hier geht gleich was ab, was saugefährlich werden könnte. Deshalb brauchen wir einen Platz, wo wir uns bemerkbar machen können. Irgendeine Idee?«
»Was bist du denn für ein Spinner? Bleib cool. Die da oben zensieren das Netz, weil sie die Hosen voll haben. Deswegen sind wir ja hier.«
»Ja, super, damit ihr direkt in die Falle geht«, erklärte Nova genervt. »Wir haben nicht viel Zeit. Kennst du jemanden, der hier was zu sagen hat?«
Inzwischen hatten die Polizisten eine Seitenstraße geräumt, aus der immer mehr Militärfahrzeuge mit Soldaten auf den Ladeflächen heranrollten. Die Atmosphäre war geladen wie vor einem Gewitter. Die wogende Menschenmenge, die Anspannung der Soldaten, die es nicht gewohnt waren, bewaffnet gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen. Auch Polizisten strömten zunehmend aus der geräumten Straße und bildeten einen Ring um die Demonstranten. Wie eine schwarze Wand bauten sie sich auf.
»Ich kenne ein paar Anonymous hier in der Nähe«, sagte der Junge schließlich. »Ich bin übrigens Danny.«
Nova knuffte ihn ungeduldig in die Schulter. »Herrgott, Danny, dann bring uns hin!«
Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, hörten sie in einiger Entfernung Menschen aufkreischen. Die Schreie kamen aus der Nähe des Trinity Place. Entsetzt sahen die drei, dass Fackeln, Steine, Transparente und Flaschen auf die Polizeiketten flogen.
Auf einmal geriet die Menge in Bewegung. In den vorderen Reihen entstand panisches Gedränge. Während die Demonstranten hinter ihnen vor dem Gewaltausbruch zurückwichen, rückten immer mehr Polizeistaffeln und Militäreinheiten nach und versperrten die Fluchtwege.
Kilian war kreidebleich geworden. »Ach, du elende Scheiße. Sind wir etwa zu spät gekommen?«
Im Situation Room des Weißen Hauses hatte sich ein Krisenstab versammelt. Es war eine illustre Runde, die Vizepräsident Brian Epstein einbestellt hatte. Am blank polierten Mahagonitisch saßen die Leiter von State Department, Polizeibehörde, Justizministerium, Pentagon und Heimatschutzbehörde.
Stumm verfolgten sie die Nachrichtenbilder, die simultan auf acht Bildschirmen liefen.
Die aktuelle Entwicklung in der Wall Street war schockierend. Man sah Steine fliegen, Verletzte am Boden liegen, prügelnde Polizisten.
Ein schmaler, dunkelhaariger Mitarbeiter des State Departments riss die Tür auf und lief atemlos auf den Vizepräsidenten zu.
»Sir, an der Wall Street gerät die Situation völlig außer Kontrolle! Die Demonstranten gehen gewaltsam auf die Polizei und die Nationalgarde los. Deshalb war man gezwungen, das Feuer zu eröffnen.«
»Ein absolutes Desaster«, bestätigte der Vizepräsident. »Wir sehen es gerade auf den Nachrichtenkanälen.« Er seufzte tief. »Da bleibt mir wohl nicht anders übrig, als den Präsidenten einzuschalten. Er ist auf dem Weg nach Europa.«
Er griff zum Telefon. Alle Köpfe wandten sich ihm ruckartig zu. Jeder hier wusste, dass der Präsident nun darüber entscheiden musste, mit welcher Härte der Staat auf die entfesselten Demonstranten zu reagieren hatte.
»Sir, das hat keinen Sinn!«, sagte der junge Mann vom State Department, der vor Aufregung schwitzte. »Die Air Force One wurde kurz nach ihrem Start durch eine Virusattacke von der Kommunikation abgehängt. Der Präsident ist bis zu seiner Landung nicht mehr handlungsfähig.«
»Verdammt, Brian! Laut Verfassung müssen Sie jetzt handeln«, meldete sich Justizminister Alexander Hoover, ein schmaler, feingliedriger Mann, der unablässig mit seinem rechten Bein wippte.
Brian Epstein hob die Hände. »Das würde der Präsident niemals genehmigen!«
»Und wie lange wollen Sie warten, Brian?«, fragte der Leiter der Polizeibehörde entrüstet. »Bis da draußen alles in Schutt und Asche liegt? Und meine Polizisten von diesen Chaoten niedergeknüppelt werden? Das hier ist jetzt Ihr Job. Sie sind jetzt der Präsident!«
Der Vizepräsident atmete einmal kräftig durch, blickte in die Runde und nochmals auf die Flat Screens, die die Bilder von Verletzten und Toten zeigten.
»Gott steh uns bei«, sagte er und griff wieder zum Hörer.
»Sieh dir das an!«, brüllte Nova in dem ohrenbetäubenden Lärm aus Schreien, Alarmsirenen und dem Geknatter von Hubschraubern, die über dem Geschehen kreisten.
Kilian entdeckte einen großen Lastwagen, der sich rückwärts aus der geräumten Seitenstraße auf die Menge zubewegte. Unter einer Plane verborgen, stand auf der Ladefläche etwas, das der Form nach wie eine Rakete aussah. Nur das äußerste Ende ragte unter dem Stoff hervor, ein Metallzylinder, auf dem kreisförmig Punkte glühten.
»Weg hier, so schnell wie möglich. Wir müssen in ein Gebäude, das uns schützt.« Panisch sah er sich um. »Scheiße, wo ist der Typ?«
Er hatte den Jungen aus den Augen verloren. Das Geschiebe und Gedränge der hysterischen Masse hatte ihn verschluckt.
Nova kniff ihn in den Arm. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf zwei kleine Flugkörper, die etwa drei Meter über ihnen schwebten. Sie waren mit Scheinwerfern bestückt, die die Menge ausleuchteten.
»Was ist das? Wieso leuchten die?« Kilian zog seinen Kopf ein.
»Keine Angst, die schießen nicht. Das sind Drohnen, die filmen uns. Ich hab solche Dinger schon mal auf einer Demo in Kopenhagen gesehen.«
Blitzartig setzten sie wieder ihre Masken auf und schoben sich geduckt in Richtung Gehsteig. Während sie Schulter an Schulter vorwärtshasteten, sah Nova plötzlich eine pinkfarbene Wollmütze.
Der Jugendliche hatte den Mund weit aufgerissen und starrte fassungslos auf die Drohnen, während die wogende Menge ihn fast umriss. Schüsse fielen irgendwo. Immer mehr Menschen versuchten, vor dem Polizeiaufgebot und den Soldaten zu fliehen.
»Hey, Pink Panther, wo können wir uns verstecken?«, brüllte Nova.
»In der Trinity Church. Die ist heute Nacht für uns geöffnet. Schnell!«
Mit eingezogenen Köpfen wühlten sie sich durch die Menge in Richtung Rector Street. Kurz bevor sie den Broadway erreichten, rempelte ein Polizist Nova zu Boden. Er hatte seinen Gummiknüppel schon erhoben, als Danny dazwischenging.
»Nova!« Kilian stürzte herbei.
»Du Arschloch, dir werd ich’s geben!« Danny zog eine Dose Pfefferspray aus seiner Tasche und warf sich auf den Beamten. »Da, du Mistkerl.«
Der Polizist ließ seinen Gummiknüppel fallen, um sein Gesicht zu schützen. Doch Danny war schneller, er verpasste ihm eine volle Ladung des ätzenden Sprays. Taumelnd wich der Ordnungshüter zurück. Die drei rannten weiter.
Außer Atem erreichten sie die schwarzen, verschnörkelten Metallgitter, die den Vorplatz der Kirche von der Straße trennten. Kilian drückte das Tor mit seinem Körpergewicht auf.
Als sie die Stufen zur verglasten Kirchentür hochhasteten, dröhnte über Lautsprecher eine Ansage durch die Straßen. Unwillkürlich blieben sie stehen.
»Hier spricht General Dover von der Nationalgarde. Mit der Inkraftsetzung des Kriegsrechts durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten verhänge ich für den gesamten Bundesstaat New York den Ausnahmezustand sowie eine Ausgangssperre. Alle Teilnehmer der verbotenen Demonstrationen werden nun einer Kontrolle unterzogen. Sollten Sie den Anweisungen des Militärs nicht Folge leisten, wird von der Schusswaffe Gebrauch gemacht.«
»Die Schweine«, schnaubte Nova. »Die wollen Krieg? Dann bekommen sie Krieg!«
»Ach, und wie? Mit Fäusten und Pfefferspray?«, höhnte Kilian.
Der junge Farbige zog sich die Wollmütze vom Kopf. »Kommt erst mal mit rein. Surprise, surprise!«
Mit beiden Händen drückte er die Klinke der schweren Eisentür hinunter und schob sie auf. Es war, wie in ein anderes Zeitalter zu treten. Der Pfarrer verließ gerade gemessenen Schrittes den Altar und wandte sich den Menschen zu, als würde er versuchen, ihre Angst aufzufangen. Die Luft war stickig und von Weihrauch und dem Geruch brennender Kerzen erfüllt. Die Menschen redeten leise miteinander, weiter vorn waren Schluchzer zu hören. Jeder freie Platz auf dem Boden war belagert. Wieder öffnete sich die Tür, und weitere Demonstranten strömten in die Kirche, die schon jetzt zum Bersten gefüllt war.
Diese Kirche hat Symbolkraft, dachte Kilian. Eingeklemmt und winzig zwischen den Wolkenkratzern, trotz ihres beinahe hundert Meter hohen Turms, strahlte sie die Würde einer heileren Zeit aus.
Danny zog Kilian und Nova weiter mit sich. Was sie nun sahen, ließ sie an ihrer Wahrnehmung zweifeln. Da saßen mindestens ein Dutzend Typen mit Laptops und Festplatten, die untereinander mit Kabeln und Handys verbunden waren, und droschen wie in Trance auf die Tastaturen ein. Inmitten dieser Arche hatte sich die ganz alte Welt mit der neuen virtuellen verbunden!
»Hammer«, sagte Nova andächtig.
»Normalerweise ist die Kirche zu, wenn Demos laufen«, erklärte Danny. »Aber der Bischof ist einer von uns. Voll der Occupy-Mann. Der hat sogar schon mal ein paar Anonymous versteckt. Sie hacken das Netz frei.«
»Genial!« Nova war Feuer und Flamme.
Kilian wirkte weniger begeistert. »Das sind nur die BGP-Router. Sie sind wieder aktiv. Aber damit das Ganze wieder funktioniert, müssten die Provider jetzt die Zugänge wieder freigeben – entgegen der staatlichen Anordnung natürlich.«
Nova schob seinen Einwand beiseite. »Wenn die jetzt Krieg gegen ihr eigenes Volk führen, dann werden sie ihr blaues Wunder erleben. Wer gehorcht denn einem Staat, der auf seine eigenen Leute schießt?«