KAPITEL 41
WÜSTE NEVADA – BUNKER WHITESTAR
June Madlow war hochgradig angespannt. Sie musste sich zwingen, ihre Angst zu unterdrücken. Jeder Zugriff auf interne Daten wurde in Echtzeit an das Kontrollzentrum übermittelt. Dass ihr kleiner Trick mit der Umgehung funktioniert haben könnte, war eine reichlich optimistische Sicht der Dinge, auch wenn sie es inständig hoffte.
Sie prüfte die Handyverbindung. Doch die gesamte Kommunikation nach außen war tot, obwohl die Bunkeranlage mit einer speziellen Signalverstärkung ausgestattet war.
Wieder musste sie an Torben Arnström denken. Die Art und Weise, wie man mit diesem letztlich harmlosen jungen Mann umsprang, machte ihr schmerzlich bewusst, dass sie blind für die Menschenverachtung der CIA gewesen war. Es war ein gewaltiger Unterschied, ob man geldgierige Black Hat Hacker und aggressive Aktivisten hochnahm oder ob man einen Idealisten wie Arnström drangsalierte. Dessen Verbrechen bestand schlimmstenfalls im Wunsch nach mehr Transparenz. Trotzdem hatte man ihn wie einen gewaltbereiten Terroristen behandelt. Sie wusste zwar nicht genau, was mit ihm im Labor passiert war und wie Clark sich seine Bestrafung vorstellte, doch es war keine Frage, dass er dringend Hilfe brauchte.
Ratlos starrte sie auf ihr totes Handy. Den einzigen rettenden Hinweis konnte das wissenschaftliche Personal geben. Aber auch nur in die Nähe des Labors zu gelangen, ohne sofort von den Kameras erfasst zu werden, war aussichtslos. Also musste sie einen anderen Weg finden. Fieberhaft rief sie sich den Lageplan des Bunkers in Erinnerung, der in Clarks Büro hing. Wenn sie es richtig behalten hatte, befanden sich die Unterkünfte der Wissenschaftler ganz in der Nähe des Flughangars.
Es war Zeit zu handeln. Sie schnallte sich ihr Waffenhalfter um. Dann lud sie die Pistole durch, streifte einen schwarzen Blazer über und verließ ihr unwirtliches Domizil.
Während sie sich in Richtung des Hangars vorarbeitete, bedauerte sie, dass sie sich im Bunker mit ihrer abweisenden Art keine Freunde gemacht hatte. Die meisten Mitarbeiter kannte sie nicht einmal. Jemanden als Komplizen zu gewinnen oder gar eine Meuterei anzuzetteln konnte sie vergessen.
Verstohlen sah sie zu den Kameraaugen hoch, die sie im Abstand von wenigen Metern im Visier hatten. Neben den Unterkünften war der einzige Ort, an dem man sich ohne flächendeckende Überwachung bewegen konnte, die Kantine. Ob es dort aussichtsreicher wäre, jemanden von den Wissenschaftlern anzutreffen? Auf jeden Fall war es unauffälliger.
Nach kurzem Überlegen machte sie kehrt und richtete ihre Schritte in Richtung Kantine. Während ihr das Herz bis zum Hals klopfte, ging sie durch die kalten Flure des Bunkers. Das Summen der Belüftungsanlagen dröhnte in ihren Ohren. Jedes Mal, wenn sie uniformierten Soldaten oder Mitarbeitern in Zivil begegnete, grüßte sie militärisch, ohne sich ihre Aufgewühltheit anmerken zu lassen. Niemand achtete weiter auf sie. Und niemand ahnte, dass die toughe Agentin June Madlow, der Stolz der CIA, im Begriff war, sich ihren Anweisungen zu widersetzen.
In der Kantine wurde gerade das Abendessen ausgegeben, es war brechend voll. Rasch sondierte sie die Lage. An den rund dreißig Tischen saßen überwiegend Soldaten und ein paar Agenten, zwei davon hatte sie in der Kommandozentrale gesehen. Am Tisch in der hinteren rechten Ecke entdeckte sie jene blasse, zierliche Frau im weißen Kittel, die zwei Tage zuvor mit Orlando zu Mittag gegessen hatte. Völlig in sich gekehrt, widmete sie sich ihrem Dinner. Sie trug eine schwere Hornbrille, ihr dunkelblondes Haar hatte sie zu einem Knoten geschlungen. Neben ihr saß ein Soldat, der ihr allerdings keine Beachtung schenkte.
June fiel wieder ein, wie aggressiv sich Clark den zerbrechlich wirkenden Orlando vorgeknüpft hatte. Bestimmt wusste seine Kollegin, worum es dabei gegangen war. Nachdem sie sich einen Schinkentoast genommen hatte, steuerte sie die hintere rechte Ecke an.
»Hallo, ist hier noch Platz?«, fragte sie und lächelte den hageren, uniformierten Mann an, der einen doppelten Hamburger in den Händen hielt.
Bereitwillig rückte er ein Stück beiseite. »Ja sicher, Madam, bin sowieso gleich fertig.«
June atmete auf. Das gab ihr die Möglichkeit, wenigstens für kurze Zeit allein mit der jungen Frau zu sein.
Doch einen Augenblick später erhob sich die Laborangestellte, nahm ihr Tablett und ging zur Geschirrrückgabe. June konnte sich nur noch ihr Namensschild einprägen, auf dem Dr. Susan Olbraine stand. Ich muss aufs Ganze gehen, dachte sie. Jetzt ist die Gelegenheit! Hastig nahm sie einen Bissen von ihrem Toast und verzog angewidert das Gesicht.
»Nicht zu glauben, was für einen Fraß die uns hier vorsetzen«, sagte sie zu ihrem Tischgenossen, der immer noch mit seinem Hamburger beschäftigt war. »So viel zum Thema Dinner-Cancelling.«
Mit gespieltem Unmut stand sie auf und eilte zur Geschirrrückgabe.
»Mrs. Olbraine?«, sprach sie die junge Frau an. »Agent Madlow. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden.«
Verwirrt sah die Wissenschaftlerin zu June auf, die einen guten Kopf größer als sie selbst war.
»Ich – ich muss zurück ins Labor. Worum geht es denn?«
Ihre geröteten Augenlider und der flackernde Blick, mit dem sie die ihr fremde Agentin musterte, deuteten darauf hin, dass sie unter gewaltigem Druck stand.
»Eine geheime Mission, Befehl von oben«, schwindelte June.
Sie zog die Laborangestellte in den Flur zur angrenzenden Küche, um die Lärmkulisse der Spülmaschinen als Deckung zu nutzen.
»Hören Sie, ich weiß, dass Sie an einer neuartigen Strahlentechnologie arbeiten. Darüber brauche ich mehr Informationen.«
»Das … darüber darf ich, na ja, nichts sagen.« Ablehnung und Verunsicherung standen ihr ins Gesicht geschrieben.
June befürchtete, dass die Wissenschaftlerin jetzt gehen oder lauthals protestieren würde, doch sie verharrte. Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen.
»Vertrauen Sie mir«, flüsterte June beschwörend. »Ich brauche Hilfe für einen jungen Mann, der heute von Ihnen irgendwie mit einer neuen Methode verhört wurde. Ich muss wissen, was Sie mit ihm gemacht haben.«
Es war deutlich zu sehen, wie die junge Frau mit sich kämpfte. Dann sah sie June fest an.
»Folgen Sie mir in fünf Minuten. Mein Quartier ist Raum KOO1348.«
Wie vom Donner gerührt, sah die Agentin der zierlichen Wissenschaftlerin hinterher, die mit gesenktem Kopf die Kantine verließ. So viel spontane Bereitwilligkeit hatte sie nicht erwartet. Die Mitarbeiter des Labors mussten zweifellos an furchterregenden Projekten arbeiten, so niedergeschlagen, wie sie aussahen. Man konnte nur ahnen, welche Gewissenskonflikte sie durchlitten.
Fünf Minuten also. Seelenruhig nahm sich June einen Cheeseburger und kehrte an ihren Platz zurück. Der Soldat hatte seinen Doppeldecker inzwischen verspeist und sich offensichtlich Nachschlag in Form einer großen Portion Pommes frites geholt.
»Ich bin Ihrem Beispiel gefolgt, offenbar sind die Hamburger essbar«, scherzte June, während sie sich wieder zu ihm setzte.
Er grinste. »Als wir mal in Afghanistan eingekesselt waren, haben wir Ratten gegrillt, da kann mich nichts mehr erschüttern.«
»Wow, das nenne ich Patriotismus.«
Wieder grinste er. »Ich nenn’ es Kohldampf, aber wenn Sie so wollen …«
Obwohl June Hamburger aller Art verabscheute, biss sie tapfer in das lappige Brötchen. Sie gab sich den Anschein größter Gelassenheit, in Wahrheit aber lief ihr Hirn auf Hochtouren. Wie um alles in der Welt sollte sie ohne Iriserkennung in den Laborbereich kommen?
Aber selbst wenn sie es bis dorthin schaffte, war das Risiko, das sie einging, mehr als hoch. So viel Wagemut müsste sie möglicherweise mit dem Leben bezahlen. Clark hatte ihr Orlandos Reich unmissverständlich verboten, und wenn sie dennoch hinging, würde es nicht lange dauern, bis man sie als Verräterin entlarvte.
Sollte sie besser umkehren, zurück in die abgesicherte Existenz der Spitzenagentin? Einfach den Bunker verlassen und nach Hause fliegen, als sei nichts gewesen? Noch war nichts verloren. Den Zugriff auf Clarks Mails konnte sie als Versehen darstellen. Es würde einen Verweis geben, vielleicht auch einen Eintrag in ihre Akte, doch sie würde davonkommen. War es das, was sie wollte?
Sie betrachtete den Soldaten, der seine Pommes frites mit einer Cola hinunterspülte, und ihr Vater kam ihr wieder in den Sinn. Zwar hatte er es weit gebracht, doch letztlich war er nur ein kläglicher Befehlsempfänger, bereit, alles zu tun, was die Oberbefehlshaber ihm auftrugen. Und bereit, unterschiedslos zu töten, feindliche Soldaten, Zivilsten, Frauen und Kinder.
So will ich nicht enden, durchfuhr es sie. Nein, der Point of no Return ist erreicht. Aber da war noch mehr: eine gewisse Zuneigung zu Torben Arnström und eine dunkle Vorahnung.
»Also, man sieht sich«, holte der Soldat sie in die Wirklichkeit zurück. Mit einem Kopfnicken in Junes Richtung nahm er sein Tablett und ging.
Über Lautsprecher wurde eine Einheit aufgerufen, sich abmarschbereit zu machen. Die Kantine leerte sich zusehends. Die Unruhe blieb. Mit gedämpften Stimmen diskutierten die restlichen Kantinengäste über den unerwarteten Befehl.
Auch die Agentin überlegte, was das zu bedeuten hatte. Warum wurde alles hermetisch abgeriegelt? Und warum hatte man für den Rest der Mannschaft die gesamte Kommunikation gesperrt? Diese Maßnahme konnte doch nur bedeuten, dass hier eine Top-Secret-Aktion lief, die kaum legal sein konnte. Clark war dabei, alle rechtsstaatlichen Prinzipien über Bord zu werfen. Ein lange nicht erlebtes Gefühl stieg in ihr hoch: nackte, panische Angst. Sie sah auf die Uhr. Die fünf Minuten waren vorbei.
In den düster beleuchteten Katakomben herrschte Hochbetrieb. Militärische und zivile Bunkerinsassen waren mit Aluminiumkoffern, Rucksäcken und Reisetaschen unterwegs, um an den Sammelpunkten auf ihre Evakuierung zu warten. Inmitten des Gedränges erreichte June den Raum KOO1348. Die Kameras in beiden Laufrichtungen waren gut zu erkennen, doch das Getümmel auf den Gängen schützte sie, wie sie hoffte.
Auch hier wimmelte es von gepäckbeladenen Mitarbeitern. June erkannte einige hochdotierte Offiziere der Air Force, die eigentlich nicht hierhergehörten. Offenbar kamen sie direkt vom Flughangar. Stirnrunzelnd sah sie ihnen nach. Was geschah hier nur?
Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, klopfte sie an die Tür. Susan Olbraine öffnete sofort, und einen Wimpernschlag später standen sie allein in einem spartanisch eingerichteten Raum. Ein schmales Bett mit einer roten Tagesdecke, ein Schreibtisch voller zusammengepackter Ordner und ein Spind aus Metall, das war alles. Inmitten des Raums – ein brauner Koffer.
Also wird auch die Wissenschaftlerin ausgeflogen. June vergewisserte sich, dass sich hier keine Überwachungskameras befanden, dann fiel sie mit der Tür ins Haus.
»In den Laboren werden Menschenversuche mit neuen Waffensystemen durchgeführt, stimmt’s?«
Das war ein Bluff, aber er funktionierte. Susan Olbraine nickte beklommen.
Jetzt kam June in Fahrt. »Ich muss so schnell wie möglich zum Laborleiter. Können Sie mich zu ihm bringen?«
»Vielleicht«, antwortete die Frau. Wieder traten ihr Tränen in die Augen. »Wenn Sie wüssten, was da drin vor sich geht …«
»Dann helfen Sie mir bitte, in dieses verdammte Labor zu kommen.«
Orlandos Assistentin zögerte nur kurz, dann zog sie aus ihrer Handtasche eine Hornbrille hervor.
»Ist meine Ersatzbrille«, erklärte sie, »setzen Sie die auf.«
Sie ging zum Spind und holte einen weißen Kittel heraus.
»Der ist von meinem Vorgänger, besser zu groß als zu klein oder? Jedenfalls wird man Sie in diesem Aufzug für eine Wissenschaftlerin halten.«
»Clevere Idee.« June zog sich den Kittel über. »Und Sie meinen, das klappt?«
»Garantieren kann ich Ihnen nichts. Kommt drauf an, wie viel Zeit uns bleibt, bis der CIA-Direktor zurück im Labor ist. Er hat ein Treffen mit Mr. Orlando, soweit ich weiß.«
»Clark ist in einer Lagebesprechung«, erwiderte June. »Offensichtlich mit Militärs. Das dürfte eine Weile dauern.«
»Okay, dann versuchen wir’s.« Susan Olbraine straffte ihre Schultern. »Ihre einzige Chance, die biometrischen Erkennungssysteme zu umgehen, ist jemand, der die Autorisierung für den Laborbereich hat. Fragen Sie mich nicht, warum ich das tue. Die stellen mich an die Wand, wenn wir auffliegen.« Die Tränen liefen ihr jetzt über ihre Wangen.
June legte der jungen Wissenschaftlerin einen Arm um die zuckenden Schultern. »Doch, ich frage Sie.«
»Weil die hier Gott spielen!«, brach es aus ihr heraus. »Weil die Leute quälen, die ohne jede Gerichtsverhandlung in Straflagern inhaftiert sind! Ich habe es so satt! Und ich ertrage es nicht mehr!« Am ganzen Körper bebend, schluchzte sie auf. »Sie müssten mal die Schreie dieser armen Teufel hören! Sie verfolgen mich bis in meine Träume. Ich habe große Schuld auf mich geladen, weil ich mitgemacht habe.«
»Dafür tun Sie jetzt das Richtige. Muss ich noch irgendetwas beachten, bevor es losgeht?« June zog ein Tuch aus einer Kleenexbox und gab es der Wissenschaftlerin.
Sie schnäuzte sich. »Manchmal werden hinter der biometrischen Kontrolle noch die Ausweise gecheckt. Dann können wir einpacken. Aber wenn wir Glück haben …«
»Haben wir!«
In Innenspiegel der Spindtür begutachtete June ihre Verkleidung und zwirbelte ihr Haar zu einem Knoten.
Susan Olbraine gab ihr ein Haargummi. »Wie Schwestern sehen wir jetzt aus.« Sie schniefte noch einmal. »Was haben Sie denn genau vor?«
»Wenn wir drin sind, zeigen Sie mir unauffällig den Weg zu Orlando, den Rest überlassen Sie mir. Was für Kontrollen gibt es im Labor?«
»Alle paar Stunden kommen zivile Securitys und checken alles.« Die kennen eigentlich jedes Gesicht. Wir brauchen viel Glück.« Susan atmete tief durch.
June strich den Kittel glatt und überprüfte den Sitz ihres Haarknotens. Je mehr sie erfuhr, desto tollkühner erschien ihr der Plan. Doch die plötzliche Hilfsbereitschaft der Wissenschaftlerin ermutigte sie.
»Und es gibt drinnen keine Kameras?«
»Nicht im Labor, offiziell aus technischen Gründen, aber wohl mehr wegen der Geheimhaltung.«
Wenigstens das, dachte June. Sie taxierte noch einmal die Laborassistentin. Ob sie durchhalten würde, labil, wie sie war?
»Versuchen Sie, cool zu bleiben. Tun Sie das, was Sie immer tun. Sollte was schiefgehen, sagen Sie, ich hätte Sie dazu gezwungen. Ich bin bewaffnet.«
Knapp zwei Minuten später hatten June Madlow und Susan Olbraine den Eingang zum Labor erreicht. Voller Respekt beobachtete June, wie die zierliche Frau über sich selbst hinauszuwachsen schien. Nichts von ihrer eben noch herrschenden Unsicherheit war ihr anzumerken.
Wie selbstverständlich betraten sie den Bereich. June Madlow spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Ab jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie sagte keinen Ton, als sie Susan Olbraine durch die Schleuse folgte.
Als Erstes sah sie durch Glaswände getrennte Büros mit Computern, Messgeräten und merkwürdigen Apparaturen. Sechs Mitarbeiter waren so damit beschäftigt, Kurven und Diagramme auf den Rechnern auszuwerten, dass sie die beiden Frauen nicht wahrnahmen. June prägte sich alles ein. Mit ihrem jahrelang trainierten fotografischen Blick suchte sie nach Hinweisen, irgendwelche Dinge, die ihr jetzt oder später weiterhelfen könnten. Mit etwas Abstand folgte sie ihrer neuen Komplizin.
Von den Glaskabinen aus ging es weiter ins Allerheiligste, in einen Bereich, der von den Laboren nicht einsehbar war. Geräuschlos öffnete Susan Olbraine eine gepolsterte Tür, die in ein Büro führte. Es war überraschend klein und nur von einer Schreibtischlampe erhellt, die auf einem weißen Metalltisch stand. Dahinter hockte Darien Orlando und starrte auf seinen Laptop.
»Sir«, machte sich die Wissenschaftlerin bemerkbar.
»Wer ist diese Frau? Was macht sie hier?«, fuhr Orlando auf, als er neben seiner Mitarbeiterin die Agentin entdeckte.
Er wirkte noch kleiner und zerbrechlicher, als June ihn in Erinnerung hatte. Der verschreckte Ausdruck in seinem Gesicht zeigte ihr, dass ihn Furcht und Schuldbewusstsein offenbar seit Jahren zermürbten, aber da war noch etwas anderes, etwas, das sie nicht deuten konnte. Es weckte ihren Instinkt, diesem Mann keine Sekunde Vertrauen zu schenken.
June reckte sich auf und bemühte sich, einen Tonfall stählerner Autorität anzuschlagen. In ihren Augen war Orlando der geborene Untergebene, gewohnt, nahezu reflexartig auf Befehle zu reagieren.
»Sie sagen mir auf der Stelle, welche Experimente Sie mit Torben Arnström durchgeführt haben!«
Orlando zuckte zusammen.
»Ich habe zu tun.« Mit fahrigen Bewegungen begann er, auf seiner Arbeitsplatte herumzusuchen, die mit elektronischen Bauteilen, Skizzen und Plastikbechern übersät war. »In einer Viertelstunde muss ich Direktor Clark Rapport erstatten. Außerdem kenne ich keinen – Thomas … äh, wie hieß er noch?«
June Madlow registrierte, wie er sich wand. Sie zog ihre Waffe und lud sie mit einer schnellen Bewegung durch. »Ich meine den Mann, dem Sie fast das Gehirn aus dem Kopf geblasen haben. Besser Sie sagen mir gleich, was los ist, sonst passiert Ihnen dasselbe, darauf können Sie sich ein Ei backen.«
Orlando schien komplett überwältigt, als würde er gerade innerlich zerreißen und nicht wissen, wie er sich zusammenhalten könnte. Abwechselnd blickte er auf Junes Waffe und in das vorwurfsvolle Gesicht seiner Mitarbeiterin. Er hob die Hände. »Nicht schießen! Was wollen Sie wissen?«
»Was für Waffen Sie hergestellt haben und an wen sie geliefert wurden. Und dann sorgen Sie dafür, dass Torben Arnström medizinisch behandelt wird.«
Der Wissenschaftler ließ die Hände in seinen Schoß sinken. »Also gut, aber ich stelle eine Bedingung.« Er wühlte aus einem Haufen von Papieren einen Zettel hervor und schrieb einen Namen und eine Adresse darauf. »Ich möchte, dass meine Frau erfährt, dass ich lebe und dass ich ohne Verhör das Land verlassen kann.«
»Also hat man Sie erpresst?«
»Denken Sie etwa, ich mache das hier freiwillig?«
»Ich denke, dass Sie hier eine Riesenschweinerei angerichtet haben.« June musste an sich halten, um den mageren kleinen Mann nicht zu schütteln. »Aber ich verstehe, dass Sie Angst um Ihre Familie haben.«
»Wir haben hier alle Angst um unsere Familien«, ergänzte Susan Olbraine fast unhörbar. Sie band den Gürtel ihres Kittels fest. »Ich kenne keinen, der aus freien Stücken in diesem Labor arbeitet.«
June drückte ihre verschwitzte Hand. »Niemand verurteilt Sie, Susan. Okay, kommen wir zur Sache.«
Orlando reichte ihr den Zettel mit Namen und Adresse. »Wir haben elektromagnetische Strahlenwaffen entwickelt. Die eine Version ist für die Zerstreuung von großen Menschenansammlungen gedacht. Sie basiert auf emotionalem Stress, der durch niederfrequente elektromagnetische Wellen erzeugt wird.«
Jetzt ging June ein Licht auf. In den Nachrichten hatte sie die Bilder aus New York gesehen, Bilder von panischen Demonstranten, die scheinbar ohne jeden äußeren Anlass geflohen waren.
»Weiter, Mr. Orlando.«
Als erwartete er für das Kommende Schläge, zog er den Kopf ein. »Die andere Waffe – nun, Waffe, ist eigentlich nicht das richtige Wort. Die andere Apparatur kann in das Unterbewusstsein von Menschen eindringen, um ihren Willen zu brechen und ihre Gedanken zu kontrollieren. Diese Technologie soll vielleicht gegen Terroristen zum Einsatz kommen, bei Verhören zum Beispiel. Aber glauben Sie mir, mehr weiß ich nicht. Ich kenne nicht einmal einen Projektnamen, geschweige denn, was der Direktor damit plant.«
June Madlow verzog angewidert das Gesicht. Was hier ablief, verdichtete sich zu einem Albtraum. Sie musste diesen Mann dazu bringen, mehr auszupacken. Konnte sie Torben helfen?
»Ich hoffe, Sie sind nicht wirklich so naiv, Mister Frankenstein. Wenn das funktioniert, wird diese Maschine nicht nur für Verhöre eingesetzt. Dann wird man Menschen im großen Stil manipulieren.«
Schlagartig wurde ihr klar, dass diese Technologie der Auslöser für Torben Arnströms Sinneswandel war. Clark hatte ihn zu einem willfährigen Roboter machen wollen. Ihre Verachtung wuchs ins Unermessliche. Sie ging zum Schreibtisch und stützte sich mit beiden Händen darauf, während sie den Wissenschaftler anschrie.
»Sie verdammter Idiot! Ist Ihnen denn nicht klar, dass Sie mit Ihrer Wunderwaffe Armeen von willenlosen Agenten, Polizisten und Soldaten erzeugen? Abgerichtete Befehlsempfänger ohne jede Gewissensfreiheit? Und dass sich damit jeder Protest im Keim ersticken lässt? Sie wissen doch, was draußen auf den Straßen los ist! Der Staat kann die Demonstranten nicht einfach abknallen, aber wenn er sie psychisch brechen kann, umso besser!«
Orlando war zusehends in seinem Sessel geschrumpft. Sein Blick wendete sich ab.
»Im Moment interessiert mich aber vor allem, wie man Arnströms geistige Gesundheit wiederherstellen kann! Der Mann steht völlig neben sich. Dabei ist er vermutlich der Einzige, der uns helfen kann, Ihrer Frau ein Lebenszeichen zu senden. Wenn einer die Kommunikation zur Außenwelt wieder einrichten kann, dann er. Vorausgesetzt, er kann geradeaus denken.«
Jetzt hatte sie den Wissenschaftler an seiner verwundbarsten Stelle getroffen.
»Ja, ich werde alles für diesen Arnström tun«, beteuerte er. »Bringen Sie ihn her, und ich versuche, ihn wieder einzupegeln.«
June nickte grimmig. »Sonst noch Leichen im Keller? Wie oft kam Ihr Manipulationsdings schon zum Einsatz? Wie vielen Leuten haben Sie schon das Gehirn gewaschen? Zehn, hundert, tausend?«
Stöhnend stützte Orlando seinen Kopf in die Hände. »Es gibt noch ein paar Probleme mit der Reichweite und mit der multiplen Anwendung. Die kleinen Psychotronics können nur etwa vierzig Personen mit spezifischen Informationen oder Anweisungen versorgen.«
»Na, Gott sei Dank«, seufzte June. »Trotzdem muss ich schleunigst an die Daten ran, um Schlimmeres zu verhindern. Hinter diesem Projekt steht eine kapitale Verschwörung, begreifen Sie das denn gar nicht?«
Susan Olbraine ergriff beschwichtigend den Arm der Agentin. »Noch ist ja alles in der Testphase. Bisher gelingt es nicht, einen Probanden länger als eine Stunde zu ungewollten Handlungen zu bewegen, danach wissen wir nicht, was weiter geschehen kann, welche Wirkungen oder Nebenwirkungen es verursacht.
»Das habe ich auch dem Direktor versucht zu erklären«, bestätigte Orlando. »Sie sehen, die Sache ist noch nicht ausgereift.«
June Madlow überlegte. »Was ist, wenn eine Stunde reicht?«
»Für was?«, fragte der Wissenschaftler.
»Für Aktionen, zu denen man jemanden mit anderen Mitteln nicht zwingen kann. – Wie hoch ist denn eigentlich die Reichweite dieser Psychotronics?«
Der Forscher wirkte verbissen. Nur die Waffe in June Madlows Hand war ein überzeugendes Argument.
»Theoretisch unbegrenzt. Sie könnten beide Geräte sogar weltweit über einen speziellen Satelliten einsetzen, sobald Sie online sind. Wie gesagt, das alles erreicht maximal eine Gruppe von vierzig Leuten. Die große Anlage befindet sich in dem Labor neben uns. Aber ich weiß nicht, ob außer dem Prototyp schon mehr gebaut wurden und was überhaupt geplant wird.«
»Und das wollen Sie verantworten? Was würde Ihre Frau wohl dazu sagen? Meinen Sie, dass sie einen elenden Feigling wie Sie überhaupt wiederhaben will?«, provozierte sie den Mann vor sich.
Die Worte schienen ihn wie Hiebe mit einem Baseballschläger zu treffen. Es reichte Orlando offensichtlich. Plötzlich wirkte er entschlossen, wie von einem Trauma befreit, als hätte er endlich begriffen, dass es jetzt um alles ging. Er strich sich die schütteren Haarsträhnen zurück und stand auf. »Sie müssten die Satellitenanbindung unterbrechen, damit die psychotronischen Signale nicht gesendet werden können. Kommen Sie mit. Wir haben ja sowieso nur noch unser Leben zu verlieren.«
Er führte die beiden Frauen in einen Nebenraum, dessen Wände vom Boden bis zur Decke mit dunkelgrauen Stahlschränken bedeckt waren. Umständlich schloss er einen der Schränke auf und holte eine zylindrische Apparatur heraus, die metallisch glänzte.
»Das ist eine der Strahlenwaffen«, erklärte er. An der seitlich angebrachten Bedienungsoberfläche, auf der sich verschiedene Tasten, Leuchtdioden und ein streichholzschachtelgroßer Bildschirm befanden, aktivierte er das Gerät. Dann tippte er eine Zahl ein, die June sich merkte: 6,68.
»Ist das die Frequenz?«, fragte sie.
»Richtig erkannt.«
Nun ging Orlando zu einem Computer, verband ihn durch ein Kabel mit der Strahlenwaffe, und lud über eine Software Daten hoch.
June Madlow beobachtete ihn misstrauisch. Doch es blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig, als dieser armseligen Gestalt zu vertrauen.
Schließlich zog er den Stecker. »Mit diesem Gerät können Sie Ihren Freund, sagen wir mal, wieder in den Normalzustand bringen. Es überträgt keine psychotronischen Informationen, aber die eingestellte Frequenz der elektromagnetischen Wellen hilft ihm. Sie dürfen den Zylinder aber nur ein oder zwei Sekunden auf seine Augen richten, aus einer Entfernung von mindestens zwei Metern.«
Etwas unheimlich war June das Ganze schon. »Und dann passiert – was?«
»Es wirkt wie eine Art Gedankenregression«, erläuterte Orlando die Wirkung. »Damit wird das Gehirn wieder auf seine normale Frequenz gebracht.«
»Verstehe.«
Susan Olbraine ergriff Junes Hand und drückte sie fest. »Bitte, holen Sie uns hier raus und sagen Sie der Welt, was hier vor sich geht!«
So weit hatte June Madlow überhaupt noch nicht gedacht. Vorerst hatte sie den nächsten Schritt im Auge: Sie müsste an Torben herankommen, dieses unheimliche Gerät zum Einsatz bringen, und das alles, ohne aufzufallen. Die größte Gefahr drohte von Clark. Immerhin durfte sie den Bunker nicht verlassen, also hatte er noch etwas mit ihr vor. Es war nur eine Frage der Zeit, wann er sie suchen lassen würde.
»Ja, ich hole Sie hier raus«, erwiderte sie zerstreut. »Das bin ich Ihnen schuldig, Susan.«
Gedankenverloren betrachtete sie den Metallzylinder. Das nächste Problem war auch nicht kleiner: Wenn sie es überhaupt schaffte, das fatale Psychoprogramm in Torbens Hirn zu löschen, musste er heimlich an einen Rechner gelangen, um die bestens gesicherten Datenbanken zu knacken.
Wenigstens habe ich noch mein iPad dabei, dachte sie. Ihr iPad war randvoll mit Software, die sie bei ihren Einsätzen gegen Anonymous-Aktivisten gebraucht hatte.
»Ich muss hier schnellstens raus«, wandte sie sich an Orlando. »Irgendeine Idee, Superhirn?«
Der Wissenschaftler zeigte auf seinen Rechner, und June umrundete den Schreibtisch. Auf dem Monitor baute sich eine Grafik auf. »Das ist die elektronische Steuerungsanlage für das Labor. Ich werde einen Kurzschluss legen. Das wird für ausreichend Verwirrung sorgen, und Sie gewinnen Zeit.«
Unwillkürlich betastete die Agentin ihre Waffe. »Ich komm schon klar. Und wenn ich mir den Weg freischießen muss.«