KAPITEL 40

WASHINGTON D.C.

Schon seit zwei Tagen verbrachten Kilian und Nova ihre Zeit fast ausschließlich in Kilians Hotelzimmer und werteten die Texte aus, die er heruntergeladen hatte. Das Zimmer glich inzwischen einer Mischung aus Büro und Esszimmer. Überall lagen Ausdrucke von Zeitungsartikeln, dazwischen standen Kaffeebecher und Coladosen herum. Selbst das breite Doppelbett war übersät mit Bonbontüten, Pizzaschachteln und Ausdrucken, die Kilian immer wieder vom Drucker aus der Lobby anschleppte, um nicht ununterbrochen am Bildschirm lesen zu müssen. Zu offensichtlich waren seine Recherchen, und er wollte sich nicht online erwischen lassen.

Mit Hochdruck arbeiteten sie sich durch das umfangreiche Material, wenn auch die Recherche wiederholt durch den Ausfall des Internets erschwert wurde. Dann plünderten sie die Minibar und grübelten darüber, ob Torben Zuflucht bei dem mysteriösen Hacker gefunden hatte, der in der Nähe von New York verhaftet worden war. Die Art und Weise, wie die Nachricht von der Verhaftung formuliert gewesen war, ließ diesen Schluss zumindest zu.

Nova hob den Kopf, ihre Wangen glühten. »Hat sich Rogan heute schon gemeldet?«

»Ja, heute früh«, antwortete Kilian. Er holte eine Banane aus dem Obstkorb, den sie sich beim Zimmerservice bestellt hatten. »Beim FBI hat er zwar nichts herausbekommen, aber das soll nichts heißen.«

Er hockte übernächtigt an einem mahagonifarbenen Schreibtisch zwischen Fernseher und Minibar. Auch Nova, die inmitten des Chaos auf dem Bett lag, sah abgespannt aus. Kilian vermisste die lebendige Nova. Er kannte jedes ihrer Gesichter, mal spöttisch, ironisch oder schadenfroh, wenn Wallins bei seinen Mitarbeitern in ein Fettnäpfchen trat. Es war der blanke Wahnsinn, in den er sie hineingezogen hatte. Schon bedauerte er, dass er sie zu dieser Reise überredet hatte.

»Es ist völlig unlogisch, dass Torben etwas mit diesen obskuren Waffen zu tun hat, das spüre ich einfach«, sagte Nova, während sie vom Bett aufstand und ihre steifen Glieder reckte. »Für ihn ging es nicht nur um die Freiheit im Netz. Er wollte den Krieg beenden und die Hacker schützen, da ihm wohl klar war, dass sonst alle bedroht sein würden. Hätte er von diesen Waffen gewusst, er hätte es allen gesagt.«

»Ich verstehe nicht, warum Rogan sich nicht wieder meldet, er ist längst überfällig«, überspielte Kilian Novas Zweifel.

Aufgebracht schnippte Nova mit den Fingern. »Hallo? Hörst du mir überhaupt zu? Ich meine, wir sind auf der völlig falschen Spur, Kilian.«

»Ach ja? Und wie erklärst du dir dann die Nachrichten von heute? Von einem Tag auf den anderen bricht der gewaltfreie Widerstand zusammen. Die Menschen greifen die Polizei an, und das parallel in acht Ländern.«

Nova schwieg und senkte den Blick zu Boden. Sie suchte nach einer Erklärung, doch ihre Gedanken liefen hoffnungslos ins Leere, zu erschöpft war sie, um dieses Spiel zu durchschauen. Und über allem stand die quälende Frage, wie es Torben ging.

»Ich habe etwas gefunden!« Kilian schwenkte einen Ausdruck wie ein Pfadfinder seine Fahne. »Bereits 1994 bestätigte das US-Oberkommando der Air Force den Test dieser Waffen. Nach Aussage von …«, er hielt sich den Ausdruck wieder vor die Nase, »… Major Jonathan Klaaren. Und in der Zeit zwischen 2005 und 2011 sind weltweit mehrere Neurobiologen, Biophysiker und andere Grenzwissenschaftler verschwunden oder ums Leben gekommen. Sie alle haben sich mit den Wirkungen elektromagnetischer Wellen auf das menschliche Gehirn beschäftigt.«

Er gab ein paar Ausdrucke an Nova weiter.

»Darunter war ein gewisser Darien Orlando, der kurz nach seinem Verschwinden in London für tot erklärt wurde. Seine Leiche hat man aber nie gefunden. Ein Jahr zuvor das Gleiche mit einem gewissen Thomas Davis, ebenfalls aus London. Seine Ehefrau beteuert bis heute, dass ihr Mann putzmunter mitten in Nacht in einen Wagen gestiegen ist, aber nie zurückkehrte.«

Kilians Handy klingelte. Er musste es unter den Haufen von Papier und Verpackungen erst einmal suchen.

»Rogan, wo zum Henker warst du?«

»Ich bekomme ungebetenen Besuch. Ihr solltet sehen, dass ihr verschwindet, vielleicht kann Timothy Oman euch noch helfen.«

Im Hintergrund hörte Kilian lautes Krachen, als werde eine Tür eingetreten. Dann war die Verbindung unterbrochen.

»Scheiße, pack deine Sachen!« In Windeseile klaubte Kilian einige Ausdrucke zusammen, griff sich seine Jacke und sah, wie Nova, ohne Fragen zu stellen, bereits über den Flur in ihr Zimmer stürmte. Als sie wieder herauskam, stand er bereits am Fahrstuhl, der nicht weit von ihren Zimmern entfernt war.

»Halt, warte«, flüsterte Nova. »Wir gehen besser ins Treppenhaus. Dann können wir vielleicht durch einen Seitenausgang abhauen.«

Ohne auf seine Zustimmung zu warten, hatte sie ihn schon am Ärmel mitgerissen und rannte mit ihm zum Treppenhaus.

Sie hat den richtigen Instinkt, dachte Kilian, als sie das menschenleere Treppenhaus erreichten und Stockwerk um Stockwerk hinunterliefen. Über einen Nebenausgang landeten sie auf dem hinteren Hotelparkplatz und gelangten von dort aus auf die Wisconsin Avenue.

Der Himmel war rabenschwarz. Erste Blitze zuckten über die Stadt, schwere Regentropfen prasselten aufs Pflaster. In unmittelbarer Entfernung hörten sie das Aufheulen von Sirenen. Wer konnte wissen, ob sie nicht schon ihnen galten?Verschreckt rannten sie kreuz und quer durch den Dumbarton Oaks Park, der direkt neben der Wisconsin Avenue lag.

»Was jetzt?«, fragte Nova keuchend und triefend vor Nässe.

»Ich weiß es nicht!« Kilians Brille war blind, er hielt sich die schmerzenden Seiten. »Rogan hat mir noch einen Namen genannt. Ich sollte wenigstens versuchen, ihn bei der Washington Post zu erreichen. Und dann ab nach New York!«

Nova hatte in der Eile nur eine pinkfarbene Strickjacke aus ihrem Zimmer mitgenommen und fror jetzt erbärmlich. »Das ist doch viel zu gefährlich. Was sollen wir überhaupt in New York, abgesehen davon, dass wir beide da niemals unerkannt hinkommen?«

»Wir beide?« Kilian strahlte sie plötzlich an, obwohl das Regenwasser ihm über das Gesicht lief und seine Brille beschlagen war. »Wir schaffen alles! Wir gegen den Rest der Welt, ja?«

Er hat sich in den letzten Tagen wirklich gemausert, dachte Nova, fast nicht wiederzuerkennen. Aber es war mehr als sein schlechtes Gewissen, das ihn motivierte, das spürte sie. Seit sie bei Rogan Smith gewesen waren, hatte ihn offenbar seine eigentliche Leidenschaft gepackt – recherchieren, analysieren, aufdecken, so, wie er es bei der Washington Post gelernt hatte. Ihr schwirrte der Kopf. Aber es blieb ihr ohnehin nichts anderes übrig, als Kilian zu folgen.

Ohne auf die Pfützen zu achten, hasteten sie weiter durch den Park. »Ich habe genug Geld dabei«, rief er keuchend. »Zur Not fahren wir mit einem Taxi nach Manhattan!«

»Wieso Manhattan?«

Kilian blieb stehen. »Ein gewisser Robert C. Beck will herausgefunden haben, dass die Frequenzen zwischen 8,0 und 9,0 Hertz, moduliert wie in den Unterlagen, die ich gefunden habe, nicht Furcht und Panik auslösen, sondern nackte Gewalt, als würde jede Hemmschwelle ausgeschaltet werden. Und im Netz wurde für morgen eine zentrale Kundgebung der Occupys angekündigt. Vielleicht sollten wir die Leute warnen.«

»Kapiere! Wenn die Schweine das Internet filtern und die Mainstream-Medien das Thema totschweigen, bleibt den Behörden genug Zeit, die Demonstranten zum gewalttätigen Widerstand zu zwingen!«

»Um mit diesem Vorwand alles niederschlagen zu können.«

Nova wrang ihren feuerroten Zopf aus, in den sie am Morgen bunte Bänder geflochten hatte. »Und in diese Scheiße willst du dich reinreiten? Hast du sie noch alle? Ich lasse mir jedenfalls keine Strahlung verpassen!«

»So weit wird es nicht kommen.« Kilian zog sie weiter. Nova riss sich los und baute sich vor ihm auf. Ihre Brust hob und senkte sich. In einer plötzlichen Gefühlsaufwallung umarmte sie ihn.

»Ich habe Angst«, sagte sie leise, dicht an seinem Ohr.

Er spürte, wie hart ihr Herz gegen die Rippen klopfte. »Ich auch, Nova, aber wir müssen was tun. Schon wegen Torben. Am Ende werden sie sonst alles Anonymous und den Occupys in die Schuhe schieben, und die eigentlich Verantwortlichen kommen ungeschoren davon!«

Langsam löste Nova ihre Umarmung. Sie sah die Angst, aber zugleich auch Kampfeswillen in Kilians Augen, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus.

»Komm schon, wir dürfen hier nicht lange rumstehen«, sagte er ungeduldig. »In NewYork gibt es ein Appartement, das auf den Namen meines Onkels angemeldet ist. Wir müssen ins Netz und die Leute warnen. – O Scheiße! Ich hab meinen Laptop im Hotel gelassen.«

Er sah sich mehrmals in alle Richtungen um. Der Park war fast menschenleer. Doch ein Hubschrauber genügte, und sie saßen in der Falle.

Wenig später erreichten sie die Massachusetts Avenue, wo sie eine Telefonzelle entdeckten. Zu zweit zwängten sie sich hinein. In Sekunden füllte sich die Luft mit dem Geruch von nassem Haar und klammer Kleidung.

Kilian wählte die Nummer der Washington Post, die er immer noch auswendig wusste. »Guten Tag, könnte ich bitte Mr. Oman sprechen?«

Es dauerte einen Moment, bis sich auf der anderen Seite eine sonore Stimme meldete.

»Oman. Sie wünschen?«

»Hier ist Kilian Winter. Ich muss Sie dringend sprechen!«

»Ich erwarte Sie bereits. Rogan konnte mir nichts Näheres mehr sagen, worum geht es denn?«

Kilian vertraute Rogan. Dennoch war es ein Risiko, am Telefon etwas preiszugeben.

»Nicht am Telefon. Das ist mir zu gefährlich. Können wir nicht …«

Sofort unterbrach ihn der Mann.

»Sie wollen in die Redaktion kommen? Nur zu, hier sind Sie sicher, aber geben Sie mir einen Hinweis.«

Kilian legte ohne ein weiteres Wort auf.

Timothy Oman sah resigniert aus dem Fenster. Er war arabischer Abstammung, was man seinen scharf geschnittenen Gesichtszügen und der dunklen Haut unschwer ansah, und hatte seit dem 11. September 2011 mehr als einmal erlebt, was es bedeutete, unschuldig verdächtigt zu werden. Umso mehr missfiel ihm, dass er Rogans Freunden eine Falle gestellt hatte.

Doch was sollte er tun? Vor seinem Schreibtisch stand ein kleiner, stämmiger CIA-Beamter, der ein Headset zurechtrückte.

»Habt ihr sie?«, fragte er gespannt.

Im Langley Research Center, wie man den Sitz der CIA nannte, waren zwei Agenten damit beschäftigt, ein digitales Satellitenbild auszuwerten.

»Laut Satellit sind sie irgendwo im Norden Washingtons. Moment. Nein. Das war zu kurz«, sagte er einer der beiden enttäuscht. Eine Sekunde später erschien ein weiteres Signal.

»Sie waren in einer Telefonzelle, ganz in der Nähe der Wisconsin Avenue. Genauer geht es leider nicht, da stehen fünf Telefonzellen in einem Umkreis von fünfhundert Quadratmetern.«

Der Beamte vor Oman verzog das Gesicht.

»Shit. Ich hatte Sie gebeten, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, Sie Idiot.«

Der Journalist verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lächelte. »Informanten auszuliefern gehört definitiv nicht zu meinem Job.«

Griesgrämig schaute der Agent zu ihm herab. »Gut, dann nehmen Sie die Flüchtigen unten in Empfang. Wir greifen sofort zu, aber ich warne Sie: Falls Sie die Aktion sabotieren, sind Sie nicht nur Ihren Job los.«

Nova fuhr sich über das nasse Gesicht. »Was hat er gesagt?«

»Er meinte, in der Redaktion wären wir sicher.« In Kilians Augen war deutlicher Zweifel zu lesen. »Komm schnell, da ist ein Taxi.«

Vom Regen durchnässt stiegen sie hinten ein. Ein Herr in einem altmodischen grünen Cordanzug und rosa Hemd begrüßte sie freundlich. Er hatte einen schottischen Akzent.

»Oh, da haben wir zwei aber richtig was abgekriegt. Wo darf es denn hingehen?«

»Zur Washington Post, bitte.«

»Geht sofort los, wir wollen die reizende Lady doch gewiss schnell ins Trockene bringen.«

Nach zehn Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht. Der Wagen hielt direkt vor dem Eingang der Washington Post. Es schüttete wieder wie aus Eimern, doch man konnte trotz des Gusses den Schriftzug der Zeitung auf dem rosafarbenen Gemäuer sehen. Als Kilian den Wagenschlag öffnen wollte, hielt Nova ihn am Arm fest.

»Ich hab kein gutes Gefühl. Wie war der denn am Telefon?«

»Tja, irgendwie schon komisch.« Kilian blieb sitzen und überlegte. Novas Zweifel waren nicht ganz von der Hand zu weisen. Wenn sie Rogan schon hochgenommen hatten, sprach einiges dafür, dass angesichts der brisanten Lage auch die Redaktion unter Beobachtung stand. Dennoch gab er sich einen Ruck. Er hatte Blut geleckt und wollte jetzt mehr erfahren.

Er stand schon mit einem Bein auf dem Asphalt, als Nova plötzlich aufschrie. »Sieh doch mal!«

Sie waren nur etwa zwanzig Meter von dem Gebäude entfernt, in das gerade zwei schwarz gekleidete Männer und ein uniformierter Polizist hineingingen.

»Durchstarten!«, rief Kilian.

»Oh«, sagte der Taxifahrer, »hat die reizende Lady es sich anders überlegt?«

»Sir, ein Taxi hat unmittelbar vor dem Gebäude gehalten. Es sind zwei Personen drin, die aber keine Anstalten machen auszusteigen«, meldete ein Agent, der von der anderen Straßenseite aus in einem dunkelblauen Van das Verlagshaus beobachtete.

»Warten Sie. Nein! Verdammt! Zugriff, Zugriff!«, schallte es aus seinem Headset.

Mit gezogener Waffe stieß er die Autotür auf und stürmte auf das Taxi zu. Weitere Agenten rannten aus dem Gebäude.

»Wir müssen schnell zurück, ich habe im Hotel meine Geldbörse vergessen«, erklärte Kilian den plötzlichen Sinneswandel.

Ohne zu zögern, gab der Schotte Gas.

»Junger Mann, ich hoffe Sie bringen mich nicht um mein Abendessen.« Prompt fand er eine Lücke, um über die 15. Straße zügig an der nächsten Kreuzung abzubiegen.

Nova drehte sich um und sah aus dem Rückfenster. Starr vor Schreck beobachtete sie, wie gleich mehrere Männer hinter dem Taxi herrannten. Allerdings ohne Aussicht auf Erfolg. Schon nach wenigen Metern mussten sie sich geschlagen geben.

»Das war haarscharf!« Nova atmete tief aus.

Kilian presste sich in den Sitz. Im Moment gab es keinen besseren Schutz, als in einem von Hunderten Taxis zu sitzen, die bei diesem Sauwetter unterwegs waren. Er wühlte in seiner hinteren Hosentasche und zog seine Geldbörse hervor.

»Ah, da ist sie ja. Guter Mann, wir haben noch etwas vor. Könnten Sie uns auf direktem Weg zur Wall Street bringen?«