KAPITEL 37

WÜSTE NEVADA – BUNKER WHITESTAR

Torben kauerte zusammengerollt in einem weitaus weniger komfortablen Raum als nach seinem ersten Zusammentreffen mit der CIA. Genauer gesagt, war es eine Gefängniszelle: ein simples Bett, ein stählerner Schrank, sonst nichts. Die Toilette befand sich in der vorderen Ecke neben einer schweren Stahltür, eine nackte Neonlampe setzte ihn ohne Pause grellem Licht aus. Er wusste nicht, ob Tag oder Nacht war, aber er konnte ohnehin keinen Schlaf finden.

Auf dem Tisch lagen seine Jeans, ein Shirt, Sneakers und Socken, die er im Hotel zurückgelassen hatte. Offenbar hatte man alles fein säuberlich hierhergebracht und akkurat übereinandergestapelt.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er hier schon ohne Kontakt zu irgendjemandem eingesperrt war. Unablässig zermürbte er sich sein überreiztes Hirn mit Überlegungen, was ihm jetzt drohen würde.

Nach Clarks Demonstration, wie weit die CIA bereits die digitale Überwachung und Kontrolle vorangetrieben hatte, war ihm klar geworden, welch ein erschreckend totalitäres Potenzial die digitale Zukunft enthielt. Sein Programm war ein netter Versuch, die Welt zu retten, mehr nicht. Er fühlte sich wie ein Idiot, der auf naive Illusionen hereingefallen war. Langsam, aber sicher konnte er für Norris nur noch Wut empfinden. Peter hätte ihn nie in diese Sache hineinziehen dürfen. Aber letzten Endes war er ganz allein dafür verantwortlich, dass er nun ein entrechteter Gefangener der CIA war.

Fröstelnd zog er die graue Decke von seinen Schultern, stand auf, streifte endlich das weiße Hemd ab und entledigte sich der Anzughose. Es war, als würde er eine fremde Haut abziehen. Schnell zog er sich sein Shirt und die Jeans an und legte sich wieder auf das Bett. Die Leichtfertigkeit bedrückte ihn, mit der die User das Netz so lange genutzt hatten. Arglos hatten sie ihre Träume, ihre Ideen und Visionen preisgegeben. Nun würde eine raffinierte Software sie analysieren, um sie bis auf die Knochen zu durchleuchten.

Er war so vertieft in seine Gedanken, dass er vor Schreck zusammenfuhr, als sich die Tür öffnete. June Madlow trat ein. Ihr Blick war alles andere als ermutigend, sie wirkte aufgewühlt und traurig. Ihre Ausstrahlung hatte sich seit seiner Flucht aus dem Per Se völlig verändert. Hatte sie etwa doch Skrupel?

Torben hätte es gern erfahren, aber hier in dem Bunker waren in jeder Ecke Kameras und Mikrofone installiert. Das hatte er schon registriert. Deshalb vermied er es, sie mit seinen Fragen zu konfrontieren.

»Folgen Sie mir bitte.«

Alarmiert schlug er die Decke zurück. »Was ist los? Was ist mit dem Programm? Habt ihr es geknackt?«

Sie schwieg. Doch kurz nachdem Torben aus der Zelle getreten war, vernahm er ein geflüstertes »Halten Sie die Klappe.«

Irritiert klebte er an ihrer Seite. Sie sah starr geradeaus. Nach ein paar Schritten begann sie leise, ohne die Lippen zu bewegen, zu sprechen.

»Ich habe keine Ahnung. Hier geschehen Dinge, die ich auch nicht verstehe. Ich werde versuchen, etwas rauszubekommen. Dafür müssen Sie allerdings tun, was Clark Ihnen sagt, verstanden?«

»Nein, das heißt – ja.« Täuschte er sich, oder reichte ihm June Madlow einen kleinen Finger? Aus ihrer versteinerten Miene ließ sich jedenfalls nichts ablesen, weder Sympathie noch Ablehnung. »Ich befürchte zwar, dass ich nichts mehr zu geben habe, aber ich werde es versuchen«, versicherte er, ebenfalls flüsternd.

Den Blick unverwandt nach vorn gerichtet, schritt June durch die düsteren Gänge. Zwei Soldaten kreuzten ihren Weg. Sie wartete ab, bis sie die nächste Kamera passiert hatten.

»Sie wären längst in einer Bundesstrafanstalt, wenn Sie keinen Nutzen mehr hätten.«

Vor der Bunkertür zu den Labors blieben sie stehen. Zwei Kameras tasteten ihre Iris ab. Nichts tat sich, woraufhin June Madlow einen Code eintippte. Jetzt öffnete sich die Tür. Ein kantiger Typ in Uniform nahm sie in Empfang.

»Danke, Agent Madlow. Sie können jetzt gehen«, sagte der Soldat, nahm Torben am Arm und führte ihn in den Eingangsbereich.

Neugierig spähte sie über seine Schulter und konnte in einiger Entfernung Clark erkennen, der mit den Labormitarbeitern diskutierte. Er schien ihren Blick zu spüren. Als er sich umdrehte, fixierte er sie für einen Moment.

June Madlow hatte sich immer loyal verhalten, jetzt aber gab sie unverhohlen ihrer Missbilligung Ausdruck. Sie hob die Augenbrauen und schüttelte provozierend den Kopf. Im selben Moment schloss sich die Tür. Die Agentin stand regungslos da. War es zu spät?

Torben wurde in einen schwach beleuchteten kleinen Raum gebracht, wo er sich auf einen Stuhl setzen musste. Der Soldat fesselte Beine und Oberkörper an den Stuhl. Alles ging rasend schnell. Torben hatte ohnehin keine Kraft zu protestieren. Eine zierliche Frau im weißen Kittel mit einer auffällig großen Brille kam herein und klaubte ein paar Kabel zusammen, die auf dem Betonboden lagen. Kommentarlos legte sie Elektroden an seine Schläfen, ihre fahrigen Bewegungen machten es ihr schwer. Über den linken Zeigefinger stülpte sie eine Metallkappe. Mrs. Olbrine las Torben auf ihrem Namensschild.

»Was soll das werden? Ist das ein Lügendetektor?«, fragte er zitternd. Schon in der Zelle hatte er gefroren, jetzt war ihm eiskalt.

»Ich fürchte ja.« Mrs. Olbrine verließ den Raum.

Sollen sie doch messen, was sie wollen, dachte er trotzig, dann werden sie endlich erfahren, dass ich nicht gelogen habe.

Der Raum war kalt und feucht. Von der Decke hing eine Lampe mit einem Metallschirm, die einen kreisförmigen Lichtkegel auf die Tischplatte warf, den übrigen Raum aber im Halbdunkel ließ. Jetzt erst entdeckte Torben den Spiegel, der die gesamte gegenüberliegende Wand ausfüllte. Schemenhaft erkannte er sich selbst darin sowie den Soldaten hinter ihm.

Es war nicht gerade beruhigend, mit diesem unnahbaren Kraftpaket allein zu sein. Mit aller restlichen Energie versuchte er, seine Beklommenheit zu bezwingen.

Nach ein paar Minuten kam Clark herein. Kommentarlos legte er Torben ein dickes Buch auf den Schoß und signalisierte dem Soldaten zu gehen.

Torben schielte zu dem Buch. Auf dem Cover war das Symbol der Vereinten Nationen zu sehen und darunter der Titel: Secret Annual global Security Report.

»Lesen Sie das«, befahl Clark. Mit Freundlichkeiten hielt er sich offenbar nicht mehr auf.

»Wieso?«, fragte Torben, aber Clark hatte sich schon abgewandt, um die schummrige Kammer zu verlassen.

»Tun Sie es einfach, vielleicht geht Ihnen dann noch ein Licht auf.« Und weg war er.

Orlando hatte im Nebenraum den Wellensender aufgebaut, direkt vor der Glasscheibe, die auf Torbens Seite als Spiegel getarnt war. Die Strahlenkanone war auf einem Stativ befestigt und auf Torben gerichtet. Seit gut zehn Minuten wurde er mit einer Frequenz von 7,83 Hertz bestrahlt.

Mittels des Rechners und der psychotronischen Waffe übertrug Orlando die immer gleichen Gedankenphrasen, die den Probanden umstimmen sollten. Sie korrelierten nach Annahme Clarks mit Torben Arnströms Weltbild. Nun würde sich zeigen, ob er durch die grundsätzliche Übereinstimmung, die Arnström nach Annahme des Direktors bei diesem Dokument erreichen würde, empfänglich für die Botschaften in seinem Unterbewusstsein sein würde.

Vergeblich hatte er versucht, seinen Chef von diesem Experiment abzubringen. Doch Clark hatte ihm zu verstehen gegeben, dass ein tödlicher Ausgang des Versuchs für ihn nichts weiter als ein Kollateralschaden wäre. Ihn interessierte nur, dass man bei einer erfolgreichen Manipulation zukünftig alle Verhöre weitaus schneller und effektiver durchführen könnte als bisher.

»Also, haben Sie alles wie besprochen eingerichtet?«, riss der CIA-Direktor Orlando aus seinen Gedanken.

»Ja, Sir. Wir bombardieren ihn mit Nachrichten, die sein kritisches Weltbild bestätigen, zugleich aber auch Angst vor der Zukunft auslösen, wenn er sein Programm nicht löscht und hier, wie Sie es wollen, mitarbeitet.«

»Das heißt, Sie machen sein Unterbewusstsein aufnahmefähig?«, fragte Clark, stolz, die komplexen neurobiologischen Vorgänge verstanden zu haben.

»Genau, Sir.« Der Wissenschaftler ließ seine Apparatur nicht aus dem Blick. »Wir bringen ihn im wahren Sinn des Wortes auf gleiche Wellenlänge, und somit wird sein Unterbewusstsein frei für implantierte Gedanken. Die erscheinen ihm dann wie seine eigenen.«

»Fantastisch!« Gegen seine Gewohnheit zeigte der CIA-Chef, wie begeistert er war. »Wir drehen ihn also um?«

Darien Orlando lächelte schief. »Es müsste gelingen, die negativen Affekte seines Bewusstseins in positive zu verwandeln. Dann erst formt sich nämlich der implantierte Gedanke in eine Handlungsanweisung um.«

»Dann lassen Sie mal die Puppen tanzen«, lachte Clark.

Auf einem Laptop dokumentierte Orlando den Verlauf des Experiments. »Sehen Sie, das ist schon passiert.«

Protokolleintrag

Zeit

09:53 Uhr Bestrahlung beginnt/erste Anzeichen erhöhter Aktivität im Cortex
09:55 Uhr Photonen werden geladen/Herzfrequenz normal

»Sie wissen doch, Details langweilen mich zu Tode«, sagte Clark herablassend. »Machen Sie Ihren Job, ich mache meinen.«

Nach einigem Zögern schlug Torben mit Mühe das Buch auf, das Clark zurückgelassen hatte. Solche Schriften der Vereinten Nationen hatte er einst während des Studiums gelesen, doch dieser Band unterschied sich dadurch, dass er auf dem Vorsatzblatt den Stempel »Geheim – vertraulich – nur zum internen Gebrauch bestimmt« trug.

Was Torben dem Vorwort des UN-Generalsekretärs entnahm, war die schonungslose Zusammenfassung der globalen Ereignisse, die in der Prognose gipfelten, der Zusammenbruch der Weltwirtschaft stehe spätestens im Jahre 2013 bevor.

Irritiert blätterte er zum Vorsatzblatt zurück. Bei diesem Bericht handelte es sich um eine alte Prognose, wenn sie auch ohne Frage prophetische Qualitäten hatte.

Die billionenschweren Rettungspakete für die Banken, so das Vorwort, würden wirkungslos verpuffen, weil die Kreditinstitute die Gelder horteten, statt sie in Form von günstigen Krediten an die Wirtschaft weiterzugeben. Dies werde die Krise weiter verschlimmern. Erst Deflation, dann Inflation.

Obwohl er nicht wusste, warum man ihn ausgerechnet zu dieser Lektüre verdonnert hatte, las Torben aufmerksam weiter. Ein Geheimdossier der UNO war viel zu verlockend, auch wenn es schon älteren Datums war. Nach Beginn einer Hyperinflation, ausgelöst durch die Zentralbanken, würde der völlige Kollaps der Weltwirtschaft, so das Vorwort weiter, nach der Pleite des Handels und dem Konsumeinbruch, zu Massenarbeitslosigkeit, Armut, Revolten und Verelendung weiter Bevölkerungsschichten in Europa und den USA führen. Besonders dramatisch werde sich auswirken, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung keine Ersparnisse mehr habe – anders als in der Großen Depression der 1930er-Jahre. Deshalb drohe eine Hungersnot. Erschwerend komme hinzu, dass die industrielle Lebensmittelproduktion ebenfalls zum Erliegen kommen werde.

Torben fasste es nicht. Wenn Clark das alles wusste – warum diente er dann weiter diesem System? Was wollte er mit diesem Bericht bezwecken? Ihn weiter provozieren? Oder wollte er beweisen, dass der vorhergesagte Kollaps bisher nicht eingetreten war, weil er es verhindert hatte? War Clark am Ende größenwahnsinnig?

Bevor er weiterlas, versuchte er, eine bequemere Haltung einzunehmen, was wegen der engen Fesselung jedoch unmöglich war.

Der UN-Generalsekretär schloss sein Vorwort mit einer Mahnung an die Adresse der Medien. Es sei ihre Aufgabe, jede Panikmache zu vermeiden und stattdessen für Ruhe zu sorgen. Es dürfe nicht geschehen, dass sich die Situation durch oberflächliche Sensationslust weiter verschlechtere. Daher sei es auch unumgänglich, das Internet zu zensieren, um zersetzende Äußerungen und fahrlässig in Umlauf gebrachte Verschwörungstheorien zu verhindern.

Torben seufzte tief. Was er hier las, empfand er als die längst wahr gewordene Horrorvision eines untergehenden Systems. Der Bericht hatte etwas Glaubwürdiges. Auf einmal spürte er ein merkwürdiges Gefühl in seinem Kopf. Es war, als schwebe er in Watte oder in einem Tagtraum. Verwirrt schüttelte er den Kopf und versuchte, sich wieder auf den Text zu konzentrieren.

Auf der anderen Seite des Spiegels strich sich Orlando die weißen Haarsträhnen aus dem Gesicht und verfolgte unruhig das Verhalten seiner Versuchsperson. Die Messungen ergaben tatsächlich ein völlig anderes Bild als bei den psychisch gebrochenen Strafgefangenen.

09:59 Uhr Arnström wird langsam unruhig, erhöhte Aktivität im Hippocampus
10:01 Uhr Puls steigt/unruhige Reaktionen des Stirn- und des unteren Scheitellappens
10:04 Uhr Hirn wird mit der Frequenz 7,78 bestrahlt

Währenddessen dachte Torben über die Konsequenzen des Berichts nach. Die Situation erschien aus der Perspektive dieser eindringlich warnenden Darstellung weitaus komplexer, als er angenommen hatte. Er blätterte sich mühsam weiter durch die knapp tausend Seiten. Unzählige Statistiken begleiteten den Text. Sie belegten, dass nur eine Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und eine Währungsreform das Schlimmste, nämlich Hungersnöte, Bürgerkriege und den kompletten Zusammenbruch, verhindern könnten. Gerade weil zwei Drittel der Menschheit durch einen unkontrollierten Ressourcenverbrauch nicht wiedergutzumachende Schäden hinterlassen habe, müssten sich die Menschen auf harte Zeiten einrichten, und dafür brauche es stabile Regierungen. Außerdem gab es eine Tabelle, in der das Ansteigen von Vandalismus, Sabotage und Terroranschlägen aufgelistet war.

Zusehends verstand er, wie in Clarks Welt gedacht wurde. Die CIA, wie auch andere offizielle Institutionen, trugen eine schwere Last, bemüht, das labile Gefüge nicht völlig auseinanderfallen und ins Chaos versinken zu lassen.

Unvermittelt hatte er wieder das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Sein Geist schien frei im Raum zu schweben. Er war nicht mehr fähig, eine klare Position einzunehmen. Hatte Clark vielleicht doch recht? Wie sollte man Menschen bändigen, die unter Armut und Hunger litten? Wie sollte man Plünderungen und Lynchjustiz verhindern, wenn alle auf die Straße gingen?

Clark hatte recht! Wie konnte er sich das mit Spygate anmaßen? Occupy oder Anonymous hatten selbst keine Antworten auf die völlig verworrene Lage. Die Welt war so komplex geworden. Schwarmintelligenz. So ein Schwachsinn, dachte Torben. Langsam wurde ihm klar, dass die Strategie, den Menschen ihre völlige Selbstbestimmung, die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zu lassen, zu einem unkontrollierbaren Chaos führen würde.

Orlando schaute auf den Bildschirm. Der Hirnscan belegte an der Ausschüttung bestimmter Neurotransmitter, dass Arnström nun reif war. Zudem waren jene Hirnbereiche hochaktiv, die die negativen Affekte tatsächlich in positive verwandeln würden. Der Zweifel des Probanden an seiner eigenen Sichtweise stand bildhaft vor Orlando. Es funktionierte offenbar.

Nicht alle können in diesem Luxus leben, hatte Clark in dem New Yorker Restaurant gesagt. Als Torben darüber nachdachte, spürte er einen stechenden Schmerz in der vorderen Stirn. Seine Gedanken beschleunigten sich. Er hatte das Gefühl, dass etwas in ihn eindrang. Die Angst vor der Zukunft, die Clark und dieser Bericht nur zu treffend prognostizierten, baute sich wie ein Berg vor ihm auf. War es am Ende keine Frage von Moral und Ethik mehr, die Zügel in der Hand zu behalten? War die Sicherheit – auch die Sicherheit der Menschen – nicht oberstes Gebot? Wenn es ums reine Überleben ging, wurden dann nicht Werte wie Demokratie und Gerechtigkeit zu einem gefährlichen Luxus?

Wie eine Flutwelle überrollten Torben die Thesen und Folgerungen. Es wollte gar nicht mehr aufhören, so, als würde seine Festplatte neu programmiert, um alle Überlegungen auszuwerten.

Orlando verließ sich selten auf seinen Instinkt, aber der junge Mann im Versuchsraum sah aus, als wäre er umgeschwenkt. Er sah, wie Arnström mit einem abschließenden Nicken den Bericht zusammenklappte. Unablässig hatte er Gedanken und Befehle über die Photonen in sein Bewusstsein manövriert. Sie brachten ihn nun dazu, zu akzeptieren, dass nur eine totale Kontrolle der Menschen den kompletten Untergang verhindern könne und auch er dafür Verantwortung trage. Er ging an einen Rechner und lud die Trägerwelle erneut mit Daten auf, alles Befehle, die Clark ihm vorgegeben hatte. Doch im gleichen Augenblick geschah etwas völlig Unerwartetes: Der Proband bäumte sich auf.

10:09 Uhr Vorbereitung für die Induktion der Photonen
10:10 Uhr Psychotronische Signale werden induziert

»Okay!«, schrie Torben. »Holt mich hier raus!« Er zerrte an seinen Fesseln. »Ich muss an einen Rechner!«

10:11 Uhr Arnström gerät aus dem Wirkungsradius/Überreaktion im Hypothalamus
10:12 Uhr Psychotronische Welle unterbrochen

Auf den Ausbruch folgte vollkommene Leere. Torben hatte das Gefühl, als hätte ihm jemand einen Eisblock ins Gehirn gelegt. Er verlor fast das Bewusstsein. Es war wie verrückt: Etwas in ihm wollte ihn davon abhalten, was er eben noch beschlossen hatte. Er konnte sich auch nicht mehr erinnern, wann Clark von ihm gefordert hatte, für Miles ein Programm zu schreiben. Sein Gedächtnis war ein schwarzes Loch.

Jetzt sah Orlando bestätigt, was er befürchtet hatte. Arnström war der Gehirnwäsche zu lange ausgesetzt gewesen. Zwar schien er sich wieder zu fangen, doch die Daten zeigten etwas anderes an: tiefe Verstörung.

Niedergeschlagen druckte Orlando den Versuchsverlauf aus. Diese Panne wird den Jungen vermutlich seinen Verstand kosten, dachte er schuldbewusst, aber immerhin habe ich nun alle Komponenten, die ich brauche.

Minutiös checkte er noch einmal die einzelnen Stadien des Experiments. Bei zukünftigen Einsätzen konnte er nun alles so einrichten, dass die Empfänger der Trägerwellen keinerlei Widersprüche, körperliche Symptome oder Sinneseindrücke erleben würden, die Zweifel an ihren manipulierten Entscheidungen aufkommen ließen. Schon nach kürzester Zeit würden die implantierten Gedanken mit dem Langzeitgedächtnis kohärent sein. Wenn es bei diesem zähen Jungen gelingen würde, wie einfach wäre es mit einigen Modifikationen, leicht zu beeinflussende Persönlichkeiten abzurichten.

Orlando schaute in den Versuchsraum. Mit wirrem Blick starrte der junge Mann vor sich hin. Vermutlich wurde gerade seine gesamte Persönlichkeit auf den Kopf gestellt. Solche Komplikationen hatte er vorhergesehen, doch er hoffte inständig, dass ihm etwas einfallen würde, wie der Zustand des Jungen wieder stabilisiert werden könnte.

Im alltäglichen Leben war es doch so leicht, mit Widersprüchen umzugehen. Täglich waren sich Menschen im Unterbewusstsein über die negativen Auswirkungen ihres Handelns im Klaren, und dennoch taten sie nichts dagegen. Nicht zuletzt betraf es auch ihn selbst. Er wusste, dass er das Leben seiner Probanden aufs Spiel setzte, trotzdem machte er weiter.

Noch einmal überflog er den Ausdruck. Was Clark jetzt in der Hand hielt, stellte alle bisherigen Manipulationstechniken in den Schatten.

Eine abgrundtiefe Angst verstärkte Torbens Verunsicherung. Die unerträglichen Einsamkeitsgefühle steigerten sich zu blanker Verzweiflung. Niemand war für ihn da. Wie sehnlich wünschte er sich jetzt, dass Nova ihn in den Arm nahm. Nur für einen Moment wollte er Geborgenheit spüren, einfach ihre Nähe fühlen und mit ihr zusammen sein.

Der frühe Verlust seiner Eltern hatte ihm lange schwer zu schaffen gemacht. Nova war für ihn wie eine Schwester geworden – irgendwie auch mehr. Aber die Angst, sie zu verlieren, wenn er ihr seine Liebe gestand, hatte ihn nie den letzten Schritt gehen lassen. Erging es ihr vielleicht ebenso? War er zu furchtsam gewesen?

Ein durchdringender Kopfschmerz ergriff ihn. Stöhnend wand er sich auf seinem Stuhl. Eine fast unerträgliche Schmerzgrenze war erreicht. Er litt, körperlich und seelisch. Wie komme ich hier nur raus? Nova, verdammt, wo bist du? Es waren die einzigen Fragen, die er sich noch stellen konnte.

Er versuchte es mit einer Atemübung, die Nova ihm beigebracht hatte. Langsam sog er die Luft ein, hielt sie drei Sekunden an und ließ sie dann wieder heraus. Nachdem er die Übung ein paarmal wiederholt hatte, beruhigte er sich ein wenig. Seine Gedanken ordneten sich. Im nächsten Augenblick sah er den einzig logischen Ausweg aus seiner desolaten Situation. Verblüfft zwinkerte er mit den Augen. So kannte er sich nicht. Noch nie war er so schnellen Gefühlsschwankungen und Gedankenflüssen ausgesetzt gewesen.

10:14 Uhr Psychotronische Übertragung vollständig/Puls normalisiert sich
10:15 Uhr Kurz andauernde panische Reizüberflutung
10:19 Uhr Ende des Versuchs – Datenauswertung folgt

Orlando verringerte die Strahlendosis, nachdem er ein letztes Mal die höchste Frequenz auf seinen Probanden abgefeuert hatte. Nun schien doch alles seinen geplanten Verlauf zu nehmen.

Wie wild versuchte Torben, sich die Dioden von der Stirn zu schütteln. Er spürte dumpfe Schläge in seinem Schädel.

»Hey, verdammt, kann ich mit jemandem reden?«

Ein Soldat tauchte auf und nahm ihm die Fesseln und Dioden ab.

»Ich will mit dem Direktor sprechen«, verlangte Torben.

Der bullige Soldat schaute ihn mürrisch an. »Sie werden gleich abgeholt.«

Torben spürte keine Schmerzen mehr. Im Gegenteil. Aber es blieb etwas in seinem Hinterkopf, das an ihm zog, als würde es ihn festhalten oder hinauswollen. Das mulmige Gefühl, dass er all seine früheren Überzeugungen verloren haben könnte, wich der Sicherheit, dass er eine richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war sogar plötzlich eine Erleichterung, die Perspektive gewechselt zu haben. Nun würde er Miles helfen, er musste nur die Schnittstellen einer Auswertungssoftware verbinden. So würde er am schnellsten wieder nach Hause kommen, der Rest war nicht mehr seine Sache – oder? Ein Zerren lief durch seine Schläfen, als würde sich im Schädel Druck aufbauen. Es war kein wirklicher Schmerz, aber ein Druck, der zudem panische Angst auslöste. Er fühlte sich wie in einer völlig fremden Welt.

»Verdammt, was ist nur mit mir los?«, murmelte er, während er darauf wartete, sich endlich sein Ticket in die Freiheit zu erarbeiten.

Unablässig, geradezu zwanghaft, ging Orlando seine Daten durch. Letztlich gab es keinen Anlass zum Zweifel, aber ein Schatten blieb. Hatte er etwas übersehen? Fahrig packte er ein paar Unterlagen zusammen. Dann verließ er die Versuchsstation.

Der CIA-Chef war unterdessen in sein Büro gegangen, wo er das Ergebnis abwarten wollte. Torben Arnström habe seine Schuldigkeit getan, hatte er dem Wissenschaftler noch zugerufen, June Madlow würde den Rest erledigen.

Genau über diese letzten Worte dachte Orlando nach, während er mit hängenden Schultern in sein Labor zurückging. Dort angekommen, sah er mit Schrecken, dass bereits ein Dutzend der kleinen Psychotronics in Säcke verpackt wurden. Er presste die Lippen zusammen. Was mit den Waffen geschah, solle ihn nicht kümmern, gab man ihm zu verstehen. Es ist zu früh, durchzuckte es ihn, oder ist Clark bereit, über Leichen zu gehen?

June Madlow sah auf die Uhr. Schon viel zu lange war dieser Arnström in dem Versuchsbereich verschwunden. Die Gewissheit, dass man ihn gefoltert hatte, quälte sie. Mit den schlimmsten Befürchtungen ging sie zum Eingang des wissenschaftlichen Bereichs. Clark hatte ihr befohlen, Arnström in das Rechenzentrum zu bringen und am nächsten Tag zurück nach Langley ins CIA-Hauptquartier zu fliegen. Ihr Job sei erledigt, hieß es kategorisch.

Als sich die Tür öffnete, sah sie zu ihrer Erleichterung einen äußerlich unversehrten Arnström. Also hatte man ihn weder geschlagen noch sonst wie gefoltert. Doch dann wurde ein anderer Verdacht von einer Sekunde zur anderen zur Gewissheit.

Arnström ging auf sie zu und sagte mit sachlicher Selbstverständlichkeit: »Sie können mich zu diesem Robert Miles bringen. Wir haben eine Menge Arbeit vor uns.«

Einen solchen Sinneswandel hatte sie nicht erwartet, und er war auch nicht plausibel. Wie hatte Clark es geschafft, sein Opfer umzudrehen? Eine Erinnerung stieg in ihr hoch, mit der Macht eines Déjà-vus. So sahen die Hacker aus, nachdem Clarks Spezialisten sie zwölf Stunden lang in die Mangel genommen hatten. Damals hatte man reihenweise harmlosen Hackern Strafen von fünfzehn Jahren Haft angedroht, falls sie nicht bedingungslos in den Dienst der CIA traten und in der Abteilung vom Assistent Director arbeiteten.

Doch Arnström war gegen diese Opfer ein tapferer Kämpfer. Seine Motive waren politischer Natur, ziemlich sicher sogar, und er hatte nie seine persönliche Zukunft berücksichtigt, obwohl man ihm mehrmals Folter und sogar die Hinrichtung angedroht hatte. Was also war geschehen? Warum war er umgekippt? Enttäuscht blickte sie in sein Gesicht.

»Was soll das? Warum starren Sie mich so komisch an? Es ist alles in Ordnung. Ich starte durch. Tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Ärger bereitet habe, aber es ist für alle das Beste, wenn ich mich jetzt auf die Arbeit konzentriere.«

June Madlow war sprachlos. Arnströms Worte wirkten, als würden sie von einem Tonband kommen.