KAPITEL 46

NEW YORK – TRINITY CHURCH – WALL STREET

Nova stand vor der Kirche, um ein bisschen Luft zu schnappen. Drinnen war es heiß und stickig durch die vielen Demonstranten, die dort Zuflucht gesucht hatten. Sie lehnte sich an die schwere Kirchentür. Der Broadway bot ein ungewohntes Bild. Wo sonst dichter Verkehr herrschte und die Menschen ineinanderströmten, war alles wie leer gefegt. Nur ein Armeewagen donnerte vorbei, und ein paar Soldaten hatten sich in Dreiergruppen postiert. Das gesamte Gebiet um die Wall Street war inzwischen geräumt worden. Nur die Kirche war wegen ihres Asylrechts verschont geblieben.

Gerade hatte hier noch die machtvollste Demonstration in der Geschichte New Yorks stattgefunden. Nun wehte der Wind Müll, Plakate und Transparente durch die Luft. Ein graues Pappschild mit einer Kinderzeichnung, einer Blume und der Aufschrift »We don’t move« landete vor Novas Füßen.

»Ziemlich deprimierend, was?« Kilian war Nova gefolgt und sog die frische Luft ein.

Sie hob das Pappschild auf. »Ist das nicht abgefahren? Bei Saicom haben wir jahrelang gegen die Hacker gekämpft. Und jetzt, wo wir auf der anderen Seite stehen, ist vielleicht schon wieder alles vorbei.«

Nachdenklich steckte Kilian die Hände in die Hosentaschen. »Die Hacker sind ein großes Risiko eingegangen. Ihre Aktionen können trotz aller Vorsichtmaßnahmen aufliegen. Aber sie sind wirklich gut. Einige Provider haben das Netz entgegen staatlicher Anordnung wieder freigegeben. Bis eben wurden alle Versuche, Infos auf gekaperten Websites der New York Times und der Washington Post abzusetzen, gelöscht, aber jetzt lassen sie uns gewähren.«

»Klar«, Nova ließ das Schild fallen, »die haben ja das Kriegsrecht ausgerufen. Damit sind die Medien eigentlich unter staatlicher Kontrolle.«

Ein paar junge Leute kamen aus der Kirche und rauchten. Die Stimmung war gedrückt. Niemand hatte damit gerechnet, wie brutal der Staat Zähne zeigen würde.

»Wenn wir wenigstens wüssten, wie es in Europa aussieht«, sagte Kilian. »Dort müssten noch ein paar Provider aktiv sein. Im Gegensatz zu China und Russland, die haben sich schon vor Tagen komplett vom Internet verabschiedet und die Handynetze abgeschaltet.«

Wieder rollte ein Armeewagen über den Broadway. Auf dem Dach war ein Lautsprecher angebracht.

»Alle Bürger sind angehalten, den Anordnungen der Heimatschutzbehörde und der nationalen Katastrophenschutzbehörde Folge zu leisten!«, hallte es durch die menschenleere Straße. »Der Justizminister hat erlassen: Jeder, der den Staat angreift, durch Gewalthandlungen, mündliche Äußerungen oder Statements im Internet, wird als Terrorist und damit als Staatsfeind eingestuft.«

Nova und Kilian hatten schweigend zugehört.

»Merkwürdig, dass bis jetzt keine Stellungnahme vom Präsidenten zu hören war«, wunderte sich Kilian.

»Finde ich auch. Ich dachte immer, der kapiert wenigstens, was Occupy will.«

Mit aufheulendem Motor raste ein Bus vorbei. Sie konnten Festgenommene darin erkennen, die von bewaffneten Soldaten in Schach gehalten wurden. Nova spürte ein Frösteln. Die Arme um den Körper geschlungen, erhaschte sie den leeren Blick eines jungen Mädchens, das seinen Kopf an die Scheibe gelehnt hatte.

Erschöpft setzte sich Nova auf die Treppenstufen und vergrub ihr Gesicht in den Händen.

Hinter ihr war eine ältere Frau aus dem Gotteshaus getreten. Sie setzte sich neben Nova und bot ihr einen Schluck von dem Tee an, der in der Sakristei ausgeschenkt wurde.

»Trink mal was, wir sind hier alle total runter.«

Während Nova zu dem Pappbecher griff, öffnete sich die Kirchentür ein zweites Mal. Ein Typ in Tarnhose mit einem Ziegenbart sprang auf die Stufen.

»Wir sind wieder online«, rief er überschwänglich.

Nova entfuhr ein kurzer Aufschrei. Wie elektrisiert, nestelte sie ihr Handy aus der Tasche und schaltete es mit zitternden Händen ein.

»Komm, bitte, bitte«, murmelte sie.

Jede Sekunde, die sie warten musste, war eine Qual. Doch dann hatte sie ein Signal. Die Handynetze funktionierten auch wieder. Sie erblickte die Mail mit einer Menge von Dateianhängen.

»O mein Gott, das ist Torben, der verdammte Hund! Kilian, Kilian!«

Kilian war sofort in die Kirche zurückgegangen, als er gehört hatte, dass das Netz wieder aktiv war. Jetzt hockte er sich zu einigen Anonymous in die Kirchenbank, die alle einen Laptop auf dem Schoß hatten.

»Was geht ab?«, fragte er.

Der junge Mann, neben dem er saß, sah ihn fassungslos an.

»Da ist eine Info im Darknet! So krass, dass es einen umhaut. Geheimpläne von der CIA!«

Kilian strahlte. Was auch immer da draußen geschah, die größte Last war ihm genommen, denn die Botschaft im Darknet war von Torben.

Von hinten stürmte Nova auf ihn zu. »Ich habe eine Mail von Torben! Er sitzt in einem CIA-Bunker irgendwo in der Wüste!« Sie fiel Kilian um den Hals. »Er lebt!«

»Das ist ja irre!«

»O Gott, ich bin so froh.«

»Was ist das für ein Bunker, in dem er gefangen ist?«

Nova spürte, wie ihr vor Aufregung das Herz an die Rippen schlug.

»Weiß ich nicht, aber er hat Datenpakete ins Darknet geschickt, die absolut brisant sind. Es ist viel schlimmer, als wir beide dachten.«

»Habe ich auch gerade gehört«, sagte Kilian, während er sich vorsichtig von Nova losmachte. Obwohl diese Umarmung sich nicht gerade unangenehm angefühlt hatte.

Der junge Typ, den er angesprochen hatte, zeigte auf seinen Laptop. »Wir bereiten eine Warnung vor. Die schicken wir ab, sobald alle Netze frei sind.«

Kilian setzte sich zu ihm. »Vielleicht kann ich euch helfen. Ich bin zwar kein Hacker, aber so was Ähnliches.«

»Außerdem hat er fachliche Unterstützung von einem echten Profi«, grinste Nova, die sich neben Kilian in die Bank zwängte. »O Mann, wenn Wallins uns jetzt sehen könnte, würde er tot umfallen.«

DAVOS – SCHWEIZ

Das Kongresszentrum in Davos war seit Tagen von Mitarbeitern der CIA, des Secret Service und der einheimischen Geheimdienste nach Sprengstoff abgesucht worden. Außerdem hatte man alle sicherheitsrelevanten Details durchgecheckt – vor allem das Personal. Jeder Koch und jeder Kellner war durchleuchtet worden.

Greg Williams, ein durchtrainierter Agent des Secret Service mit einer unübersehbaren Narbe auf der Wange, betrat den ovalen Konferenzraum. In wenigen Stunden wurde die Ankunft der Staats- und Regierungschefs erwartet. Er kroch unter den monumentalen Konferenztisch.

Drei Stunden hatte er auf diese Gelegenheit gewartet. Früher wäre es zu riskant gewesen, das kleine unscheinbare Gerät unter dem Tisch zu platzieren. Der Spähtrupp für Sprengstoff und eventuelle Wanzen hatte seine Arbeit längst abgeschlossen. Dennoch blieb ein gewisses Risiko. Man hatte die Schutztruppe des Präsidenten darauf geschult, die Kollegen im Auge zu behalten. Er konnte jederzeit durchsucht und überprüft werden.

Zielsicher klebte er das kleine Gerät unter die Tischplatte und robbte zur anderen Seite des Tisches. Der Apparat sollte die Signale verstärken, die von einer als Lautsprecher getarnten Box an der Decke ausgingen. Alles andere hatte sein mächtiger Auftraggeber über Satellit im Griff.

Greg lächelte zufrieden. Er war als einfacher Soldat mit Clark in Afghanistan gewesen, woran er durch seine Narbe täglich erinnert wurde. Bei einem Anschlag der Taliban hatten sich Granatsplitter in sein Gesicht gebohrt. Clark hatte ihn damals höchstpersönlich aus dem Inferno herausgeholt und dabei Kopf und Kragen riskiert. Seitdem verehrte Greg ihn glühend. Auf seine Loyalität konnte sich der CIA-Direktor blind verlassen.

Vorsichtig kroch der Agent unter dem Tisch hervor und spähte zur Tür. Als er sah, dass er noch immer allein war, stand er auf. Er rückte sein Sakko zurecht und verließ den Saal. Auf dem Vorflur kam ihm ein Kellner in Begleitung eines jüngeren Agenten entgegen.

»Alles sauber, der Präsident ist hier so sicher wie in einem Bunker«, meldete er. »Ich habe extra noch mal nachgesehen.«

Der junge Agent runzelte die Stirn. Es war Vorschrift, dass sie mindestens zu zweit arbeiteten. Das wusste auch Greg.

»Das heißt, wir haben nachgesehen«, fügte er rasch hinzu. »Mein Kollege ist schon vorgegangen, musste mal für kleine Jungs.«

Dann marschierte er mit durchgedrücktem Kreuz an den beiden vorbei. Draußen auf dem Hof, wo er außer Hörweite war, zückte er sein Handy.

»Sir. Ich habe alles installiert.«

Die Stimme von Roy Clark vibrierte vor Genugtuung. »Gut gemacht, Greg. Sie sind einer meiner besten Männer.«

Der CIA-Direktor stand in einem Trümmerfeld. Die zweite Sprengung hatte einen Teil der Türverankerung sowie Putz und Mörtel weggerissen, doch offen war die Schleuse noch nicht. Er zog das Mikrofon seines Headsets nah vor den Mund und senkte die Stimme.

»Ich werde mich persönlich für eine Gehaltserhöhung einsetzen, Greg.«

Nachdem er die Verbindung getrennt hatte, rief er Miles an. »Wie weit sind Sie? Wir müssen so rasch wie möglich das Internet und das Handynetz wieder lahmlegen. Jede Kommunikation nach außen bringt uns in Teufels Küche. Sie übrigens auch, Miles. Wenn Sie nicht spuren, wird es eng für Sie.«

Unter großem Polizeiaufgebot traf der Konvoi der Staats- und Regierungschefs vor dem lang gestreckten überdachten Haupteingang des Kongresszentrums in Davos ein. Der Bau hatte gewaltige Ausmaße. Die Veranstaltungsfläche fasste 12000 Quadratmeter, 34 Säle waren erst vor Jahren neu erbaut worden, für 20 bis 5000 Personen. Ein moderner kantiger Klotz mit einer kompletten Holzfassade inmitten eines beliebten Alpenkurorts.

Es war ein sonniger, kühler Tag. Auf den Berggipfeln schimmerte der Schnee. Einige Schaulustige hatten sich vor dem Kongresszentrum zu den wartenden Journalisten gesellt. In dicke Daunenjacken verpackt, sahen sie neugierig zu, wie die schwarzen Limousinen im Minutentakt vorfuhren.

Anders als bei sonstigen offiziellen Terminen, bei denen die Politiker bereitwillig in Kameras lächelten und kurze Statements abgaben, stiegen hier alle eilig aus und verschwanden im Eingang des Kongresszentrums. Ihre finsteren Mienen verrieten, dass sie höchst angespannt waren.

Der Präsident der Vereinigten Staaten traf ein. Wie immer, war er elegant gekleidet. Er trug nur Maßanzüge, bevorzugt in Dunkelgrau. Da er fast zwei Meter groß war, konnte er ohnehin keine Konfektion tragen. Er wirkte jungenhaft, obwohl er Ende vierzig war. Das hatte ihm vor allem bei den Wählerinnen Stimmen eingebracht.

Ein Security-Mann öffnete den Wagenschlag, doch der Präsident blieb noch einen Moment im Fond sitzen, um sein Telefonat zu beenden. Um kurz nach zehn Uhr Ortszeit war die Air Force One in Zürich gelandet, und erst dort hatte er von den Unruhen in New York erfahren. Umgehend hatte er eine telefonische Krisenkonferenz einberufen.

Geistesabwesend betrachtete er seine Manschettenknöpfe, während er sein Handy umfasst hielt und einem hohen Beamten der CIA zuhörte, der ihn über den aktuellen Stand der Dinge informierte. Nur widerwillig hatte der Präsident der Ausrufung des Kriegszustands zugestimmt. Es waren die Bilder von den gewalttätigen Ausschreitungen gewesen, die ihn schließlich überzeugt hatten.

Bevor er ausstieg, wandte er sich niedergeschlagen an seinen Berater. »Halten Sie mich auf dem Laufenden. Ich will über jede weitere Entwicklung im Viertelstundentakt unterrichtet werden.« Er schluckte. »Dies ist der traurigste Tag meiner Amtszeit.«

Das Gelände rund um das Kongresszentrum wurde permanent von Sicherheitspatrouillen kontrolliert. Man hatte bei ähnlichen Veranstaltungen unliebsame Erfahrungen mit Demonstranten gemacht. In den letzten Jahren waren sie mehrmals gewaltsam fast durch die Absperrungen gelangt. Ein Albtraum für jeden Sicherheitsexperten. Mit einem enormen Polizeiaufgebot war der Bahnhof abgeriegelt worden, wo jeder Anreisende erst einmal überprüft wurde. Nur wer durch einen Buchungsbeleg einen längeren Hotelaufenthalt nachweisen konnte und seinen Pass dabeihatte, wurde als Tourist durchgelassen. Alle anderen wurden sofort näher untersucht und nicht selten verhaftet, in Busse verfrachtet und bis zum Ende des Kongresses festgesetzt.

Vom Tross seiner Mitarbeiter umgeben, durchschritt der Präsident die Gänge, die zum kühl beleuchteten Konferenzsaal führten. Die Agenda lag bereits auf dem ovalen Konferenztisch an den Plätzen. Sie war äußerst umfangreich, und jeder der Gipfelteilnehmer wusste, dass man zu raschen Ergebnissen kommen musste. Allerdings waren heiße Diskussionen zu erwarten. Schon im Vorfeld hatte der amerikanische Präsident darauf hingewiesen, er wolle mit einem ungewöhnlichen Vorstoß Bewegung in die Debatte bringen. Die weltweite Währungsreform, die bevorstand, sollte nicht von der Bevölkerung getragen werden. Auf diese Weise wollte der Präsident den Menschen ein versöhnliches Zeichen geben, die sich an den friedlichen Protesten beteiligten. Er war das Gegenteil von einem Hardliner. Seine Bereitschaft, sich mit den Lobbyisten anzulegen, die ihm teilweise sogar Wahlspenden hatten zukommen lassen, machte ihm jetzt das Regieren fast unmöglich. Er versuchte, standhaft zu bleiben, wusste aber auch, dass er nicht nur die nächsten Wahlen verlieren würde. Nein! Darum ging es ihm schon nicht mehr. Er hatte den Widerstand unterschätzt, den seine Maßnahmen zur Eindämmung der Krise bei den Geldeliten auslösen würden. Es war nicht möglich, selbst als angeblich mächtigster Mann der Welt, den Wirtschaftslenkern ohne Folgen die Stirn zu bieten, dafür hatten sie zu viele Druckmittel, wie Abbau von Arbeitsplätzen, Erhöhung von Zinsen, Verweigerung von Krediten und vieles mehr. Innerlich hatte er schon längst Verständnis für die Demonstranten, doch wenn er etwas für das Volk durchsetzen wollte, blieb ihm nur die diplomatische Salamitaktik.

Mit erhobenem Kopf steuerte er seinen Platz an. Das Stimmengewirr wurde leiser. Die Politiker, die in kleinen Grüppchen gewartet hatten, starrten ihn an, manche flüsterten nur noch. Er wusste, dass er aneckte mit seinem Argument, zu viele hätten sich zu lange am Selbstbedienungsladen der Finanzmärkte bereichert. Damit forderte er den Widerstand der Banken und Konzerne heraus.

Aber schlimmer noch: Durch die plötzliche Eskalation der gewaltigen Proteste war die Agenda so gut wie hinfällig. Niemand glaubte mehr daran, dass die Demonstranten mit politischen Maßnahmen zu beruhigen wären. Alle politischen Führer, die nach Davos gereist waren, sahen vor allem ihre Macht und die Sicherheit ihrer Nationen gefährdet.

Jetzt stand der Präsident sehr allein da. Die Begrüßungen waren frostig, die Stimmung äußerst angespannt. Er setzte sich an die Stirnseite des Konferenztischs und ordnete seine Unterlagen.

Dann begann er mit belegter Stimme in das Mikrofon zu sprechen, das an seinem Platz stand.

»Meine Damen, meine Herren, die jüngsten Nachrichten sind erdrückend. Ob in Deutschland, Italien oder Spanien, ob in den USA oder Japan, überall wird nun mit scharfen Waffen und mit Massenverhaftungen reagiert. Wir mussten vor meiner Ankunft auch über New York das Kriegsrecht verhängen. Und ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis auch die europäischen Kollegen den Notstand ausrufen. Ausrufen müssen!«

Du klingst schon wie einer dieser Hardliner, schoss es ihm durch den Kopf. Er seufzte unhörbar. Politik ist ein schmutziges Geschäft, hatte sein Vater immer gesagt, der sein Leben lang einen Handwerksbetrieb geführt hatte. Stets hatte er seinem Vater widersprochen. Jetzt hätte er es nicht mehr getan. Politik wurde gerade zu einem sehr dreckigen Geschäft.