KAPITEL 25

BUNKER WHITESTAR – WÜSTE NEVADA

Torben erwachte auf einer dicken Matratze in weißer, sauberer Bettwäsche. Ihm fehlte jedes Gefühl für Zeit und Raum. Die Tablette von Clark hatte die Wirkung des Serums zwar gemildert, doch sein Orientierungsvermögen hatte deutlich gelitten. Auf einer Uhr über der Tür sah er, dass es sieben war. Morgens? Oder doch schon abends?

Gähnend streckte er sich. Dann musterte er den Raum. Er war grau getüncht und fensterlos. Auf dem Nachttisch neben dem Bett stand ein Glas Wasser. Gegenüber entdeckte er einen kleinen Kühlschrank.

Er tappte auf nackten Füßen hin und öffnete ihn. Ein paar Flaschen mit Säften und einige Sandwiches lagen darin. Torben griff sich eins und biss hinein.

Während er sich zurück aufs Bett setzte, nahm er den Raum näher in Augenschein. In die Stirnwand war ein Flat Screen eingelassen, und neben der Tür stand ein stählerner Schreibtisch mit einer kleinen Halogenlampe und ein paar Schreibutensilien.

Seine Gedanken schweiften ab. Die Agentin ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. June Madlow. So einer Frau war er noch nie begegnet. Er musste sich eingestehen, dass er sie ziemlich attraktiv fand, auch wenn sie auf der falschen Seite kämpfte. Die Frage war nur, ob sich hinter der coolen Fassade ein Mensch aus Fleisch und Blut verbarg. Sei vorsichtig, dachte Torben, lass dir bloß nicht den Kopf von ihr verdrehen.

Nachdem er das Sandwich verspeist und das Glas Wasser ausgetrunken hatte, ließ er sich wieder auf die Matratze fallen. Ein Gefangener der CIA zu sein, das war der Super-GAU. Dennoch verspürte er in diesem Augenblick keine Wut mehr auf Kilian. Wenn es hart auf hart kam, hatte Kilian sich immer ins Lager der Mächtigen geschlagen. So war er nun mal erzogen. Und wer weiß, wie sehr man ihn unter Druck gesetzt hatte.

Torben schrak zusammen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde. Mit einem provokanten Blick schritt June Madlow auf ihn zu. Sie trug eine dunkelgrüne Hose, ein eng anliegendes weißes Trikot und eine goldene Kette, an der ihre CIA- Erkennungsmarke hing. Ihr Haar hatte sie mit einer Pilotenbrille nach hinten geschoben, und an der rechten Hüfte trug sie eine Pistole in einem schwarzen Halfter. Irgendwie erinnerte sie Torben an Lara Croft. So sportlich, so entschlossen. Und so sexy.

Ohne zu zögern, setzte sie sich auf seine Bettkante und legte ihm einen Overall hin. Torben rappelte sich auf.

»Wow, darf ich jetzt mit Lara Croft spielen gehen?«

June grinste. »Das hätten Sie wohl gern. Kommen Sie, ziehen Sie sich an. Wie ich weiß, wollten Sie schon immer mal auf einen dieser roten Felsen in Arizona.«

Meinte sie etwa Mount Valley? In der Tat war das immer Torbens Traum gewesen, diese Tafelberge einmal live zu sehen. Aber woher wusste sie das?

»Ich denke, Sie können ein wenig frische Luft gebrauchen. Draußen wartet ein Hubschrauber. Wir machen einen kleinen Abstecher, bevor es dann nach New York geht.«

Misstrauisch betrachtete Torben ihre fröhliche Miene.

»Denken Sie bloß nicht, Sie könnten mich mit so was beeindrucken. Ich werde nicht kooperieren. Und wenn Sie mit mir nach Feuerland fliegen.«

June Madlow war aufgestanden und zur Tür gegangen. Sie drehte sich noch einmal um. Ihr heiterer Gesichtsausdruck war verschwunden. Herablassend sah sie zu ihm hinüber.

»Nebenan finden Sie eine Dusche. In zehn Minuten werden Sie abgeholt.«

Die Tür schloss sich. Verwirrt stand Torben auf. Warum Arizona? Warum New York? Jetzt erst sah er, dass neben dem Bett eine weitere Tür zu einem Bad führte. Dort lagen auf einem Hocker ein paar weiße T-Shirts, Socken, eine Jeans und Waschutensilien. Im Spiegel erblickte er sein müdes Gesicht mit der verschorften Stirnwunde.

»Zehn Minuten, na toll«, murmelte er missmutig vor sich hin. Nachdem er in Windeseile geduscht hatte, zog er die Jeans und ein T-Shirt an und streifte den engen Overall über.

Kurze Zeit später wurde er von einem jungen Soldaten in den Hangar gebracht. June Madlow saß bereits in einem schwarzen Tarnkappen-Helikopter. Und zwar am Steuer, wie Torben mit einigem Respekt feststellte. Über dem Hubschrauber öffnete sich lärmend die Hangarluke. Heller Sand wurde hereingeweht und bohrte sich nadelfein in Torbens Haut.

Mit gemischten Gefühlen stieg er in den Hubschrauber und setzte den Helm auf, den June ihm hinhielt. Anschließend gurtete ihn der Soldat fest. Bis auf seinen Flug zum Bunker hatte Torben noch nie in einem Helikopter, geschweige denn in einem Kampfhubschrauber, gesessen. Die Menge von Instrumenten, Computern und kleinen Bildschirmen war ziemlich verwirrend.

»Auf nach Arizona!«, lachte die Agentin.

Merkwürdig, dachte er. Wieso wird mir mein alter romantischer Traum erfüllt? Er erinnerte sich, dass er mal in einem Chat vom Mount Valley geschwärmt hatte. Aber das war Jahre her. Seit wann war man ihm auf den Fersen? Ihm schwindelte bei der Vorstellung, dass man hier alles über ihn wissen könnte. Leider sah es ganz danach aus.

Als June Madlow den Motor startete, schloss der Soldat die Tür und lief geduckt weg.

Der Helikopter gewann in einem atemberaubenden Tempo an Höhe. Eine Minute später schoss die Agentin über eine ausgedörrte Wüstenlandschaft. Kleine Ortschaften zogen wie Playmobilspielzeug unter ihnen vorüber.

Nach einer knappen Stunde konnte Torben die ersten Felsformationen des Mount Valley erkennen, bis sie schließlich die East and West Mitten Buttes im Navajo-Nationalpark erreichten. Die Buttes waren Teil einer Gebirgsformation, wie es sie kaum ein zweites Mal auf der Erde gab. Jeder der beiden Berge war gut dreihundert Meter hoch. Sie wirkten vor allem deshalb so imposant, weil sie aus der flachen Wüste derart unvermittelt und steil in den Himmel ragten, als ob ein Riese sie dort zufällig abgesetzt hätte.

Mit voller Geschwindigkeit flog June Madlow den East Mitten Butte an und zog den Kampfhubschrauber ruckartig in die Höhe. Torben spürte seinen Mageninhalt. Ein äußerst unangenehmes Gefühl.

»Hey, hey, was wird das?«

Die Pilotin verzog keine Miene. Auf ihrer Sonnenbrille spiegelten sich die Lichter der Armaturen. Sie brachte den Helikopter in eine waagerechte Position und setzte dann auf einer der wenigen ebenen Stellen des monströsen Felsturms auf.

Mit gehobenem Daumen signalisierte Torben seine Anerkennung für die geglückte Landung, während er sich mit der anderen Hand immer noch den Magen hielt. Jetzt wusste er wenigstens ungefähr, wo man ihn gefangen gehalten hatte. Nevada oder Utah? Irgendwo dort also musste dieser ominöse Bunker liegen.

Ein lautes Klicken verriet, dass June Madlow die Türen entriegelt hatte. Sie lösten ihre Sicherheitsgurte. Mit dem rechten Bein half Torben nach, die schwere Tür neben sich zu öffnen. Die Agentin stellte den Motor ab, und sie stiegen aus.

Überwältigt stand Torben auf dem Felsplateau und schaute in die Weite. Die Aussicht war grandios. Die East and West Mitten Buttes waren für ihn die schönsten Felsmonumente des Mount Valley. Unzählige Westernfilme, die er als Kind geliebt hatte, waren hier gedreht worden. Für einen Moment fühlte er sich von allem losgelöst.

Die Rotoren waren fast völlig zur Ruhe gekommen, und Torben setzte den Helm ab.

»Da kann man doch alles andere vergessen, oder?«, sagte June, die zu Torben getreten war.

»Schön wär’s. Ich bin Ihr Gefangener, das kann ich kaum vergessen.«

»Jedenfalls können Sie mir hier nicht weglaufen«, grinste June. Sie musterte Torben von oben bis unten. »Für einen Hacker haben Sie eine ziemlich gute Figur. Wer hat Sie trainiert? Der schwedische Geheimdienst? Schlechte Tarnung für einen angeblich harmlosen Mitarbeiter einer Computerfirma.«

»Der Trainer hieß Wuan Li. Ich kam mit acht Jahren in Stockholm in seine Kung-Fu-Gruppe und blieb, bis ich achtzehn war. Seither halte ich mich mit Liegestützen in Form. Das können Sie zu Protokoll nehmen.«

June sah Torben direkt in die Augen. Ihr Blick wurde hart.

»Okay, dann bleiben wir beim Protokoll. Sie haben sich in unsere Datenbank gehackt und ein Sabotageprogramm installiert. Sie haben fünf Agenten angegriffen und ausgetrickst. Sie sind mit einem falschen Pass in die Staaten gereist. Das allein reicht aus, um Sie lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Also, für welchen Geheimdienst arbeiten Sie?«

Solch einen Frontalangriff hatte Torben nicht erwartet. Mit einem Schlag wurde ihm wieder bewusst, in welch einer hilflosen Lage er sich befand. Die CIA hatte ihn in der Hand. Und June Madlow würde ohne Zweifel ihre Waffe gebrauchen, falls er das Falsche tat. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.

»Blödsinn. Es war alles ein bisschen anders …«

June Madlow unterbrach ihn scharf. »Unser Team hat in Ihrer Wohnung Unterlagen gefunden, die für eine Anklage wegen Spionage ausreichen. Die Spur führt zu Peter Norris, einem Todfeind der CIA. Mit welcher Mission hat er Sie beauftragt?«

Torben wusste nicht mehr, was er sagen sollte. Verzweifelt suchte er nach einer glaubwürdigen Erklärung. Leugnen war ohnehin zwecklos. Aus den Unterlagen gingen nicht nur Peters Geheimpläne hervor, sondern auch einige seiner Quellen. Und Torben steckte tief mit drin, das war nicht zu übersehen.

»Norris war mein Professor in Hamburg, mehr nicht«, wiegelte er ab. »Ich war nur sein Student. Und am Ende sein Freund.«

June Madlow fing an zu lachen. »Ist ja rührend. Richtig herzerwärmend, Ihre kleine Geschichte. Aber die können Sie Ihrer Großmutter erzählen.« Sie trat ganz dicht an Torben heran und fasste ihn grob am Kinn. »Wenn Clark Ihre Verbindung zu Norris erfährt, sind Sie erledigt. Der reißt Ihnen die Eier ab, verlassen Sie sich drauf.«

Torbens Puls raste. Die Sonne wurde von Minute zu Minute heißer. Mit dem Ärmel seines Overalls wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Nein, dies war kein netter kleiner Ausflug, dies war ein knallhartes Verhör. Er musste jedes Wort auf die Goldwaage legen.

»Peter hat mir etwas klargemacht: Der Schutz vor Terrorismus rechtfertigt keine Gesellschaftssysteme, die auf Unterdrückung beruhen. Im Gegenteil. Diese Systeme provozieren den Terror ja erst.«

Er hatte wenig Hoffnung, dass sein Gegenangriff etwas bewegen würde. Dennoch hatte er das Gefühl, June sollte wissen, was ihn antrieb.

Nachdenklich sah die Agentin in die Wüste hinaus. Ihr Haar wurde vom warmen Wind aufgewirbelt. Torben konnte eine kleine Narbe an ihrem Hals erkennen.

»Ich habe keine Ahnung, wofür Norris Sie benutzt hat. Aber wenn Sie wirklich so naiv waren, aus idealistischen Gründen mitzumachen, haben Sie nur noch eine Chance: Arbeiten Sie mit Clark zusammen. Dann kommen Sie einigermaßen ungeschoren davon.«

Wütend kickte Torben ein paar Steine über die Felskante.

»Und Sie?«, fragte er herausfordernd. »Sind Sie nicht mindestens so naiv wie ich? Haben Sie mal darüber nachgedacht, wofür Sie sich benutzen lassen?«

June blitzte ihn böse an. »Wie meinen Sie das?«

»Na ja, Sie denken, Sie schützen eine Demokratie. Das ist doch lächerlich. Sie wissen selbst, dass Banken und Unternehmen die Politik bestimmen. Wem nützt denn das tolle Überwachungsprogramm, das Clark mir gezeigt hat? Ihnen? Mir? Bullshit. Es nützt denen, die an stabilen Verhältnissen interessiert sind. Damit sie seelenruhig ihre Geschäfte abziehen können.«

Die Agentin machte keinen besonders erschütterten Eindruck. Sie faltete die Hände, und Torben entdeckte ihre keltischen Tattoos an den Handgelenken. Es waren Schlangeneier, die aus der Entfernung wie Adleraugen aussahen.

»Ihre billige Gesellschaftskritik können Sie sich sonst wohin schieben. Fakt ist: Norris hat versucht, Sie zu rekrutieren. Und offenbar ist ihm das auch gelungen. Das können Sie nicht bestreiten. Niemand wird Ihnen etwas anderes glauben.«

Plötzlich begriff Torben, dass er nicht mehr viele Optionen hatte. Auf die eine oder andere Weise würde er sich auf Clark zubewegen müssen. Doch vielleicht gab es noch einen dritten Weg. June Madlow war loyal, aber nicht dumm.

»Wie oft sind Sie eigentlich in Ihrem eigenen Land unterwegs?«, fragte er.

Sie blickte Torben entnervt an. »Was soll die blöde Frage? Ich lebe hier.«

Er stemmte die Hände in die Hüften. »Ich erwarte ja nicht, dass Sie wissen, was die Weltbank und der IWF in der Dritten Welt angerichtet haben. Aber waren Sie schon mal in Washington? Haben Sie schon mal die Schwarzenviertel gesehen? Die heruntergekommenen, dreckigen, zerfallenen Häuser? Die hoffnungslosen Gesichter, ausgezehrt von Crack, Alkohol und Armut. Warum gibt es dort wohl Bandenkriminalität?«

Statt einer Antwort rollte June nur mit den Augen.

»Dort könnten Sie sehen, dass das Elend dieses Systems schon bis ans Weiße Haus reicht. Peter hat mir schonungslos die Augen geöffnet. Doch das macht mich längst nicht zu seinem Werkzeug.«

Kaum hatte Torben den letzten Satz ausgesprochen, überkamen ihn Zweifel. War er am Ende genau das gewesen? Ein Werkzeug? Er wusste es nicht.

Währenddessen war June Madlow zum Hubschrauber zurückgegangen und bedeutete ihm, einzusteigen. Das Verhör in luftiger Höhe war beendet.

»Wenn Sie den Helden spielen wollen, kann ich nichts mehr für Sie tun«, sagte sie, während sie sich anschnallte. »Aber ich gebe Ihnen einen letzten Rat. Vertrauen Sie sich Clark an, bevor er die Sache mit Norris von Dritten erfährt. Und löschen Sie das verdammte Programm.«

Torben hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Das Schlimmste war, dass er befürchtete, ohne seine Daten aus Stockholm keine Chance zu haben, Spygate zu stoppen. Bevor man ihn ins Jenseits beförderte, könnte er aber vielleicht den Countdown abwürgen. Dann würde sein Wunder der Technik zwar als Datenmüll im Netz umherschwirren, aber das wäre immer noch besser als der sichere Tod. Aber was drohte ihm wegen seiner Beziehung zu Peter?

»Wann erfährt er davon?«, fragte Torben alarmiert.

»Der Bericht liegt morgen früh auf seinem Tisch. Heute Abend beim Essen wäre eine gute Gelegenheit, den Direktor einzuweihen.«

»Bei welchem Essen?«

»Lassen Sie sich überraschen.« June Madlow lachte überlegenen und ließ den Motor des Helikopters an.

Torben schnallte sich ebenfalls an.

»Was wusste Norris? Warum kann er der CIA nach so langer Zeit noch gefährlich werden?«

»Sagen Sie es mir doch!«, gab June Madlow die Frage zurück. Sie zog den Helikopter hoch und ließ ihn dann im Steilflug sinken, bis er dicht über dem rötlichen Wüstensand dahinflog.

Das waghalsige Flugmanöver machte Torben schwindelig. Er schloss die Augen.

»Angenommen, ich erzähle Ihnen alles. Woher weiß ich, dass Sie mich nicht einfach lebenslänglich einsperren?«

Madlow schaute Torben abschätzig von der Seite an, als würde sie ihn für seine Angst verachten.

»Gibt es für irgendwas im Leben eine Garantie? Allerdings kümmert sich Clark meist gut um Überläufer. Sie müssen nur ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen.«

»Ehrlich gesagt, hat mir Peter gar nicht gesagt, wonach ich suchen soll«, versuchte er, sich zu verteidigen.

Resolut neigte die Agentin den Helikopter und änderte die Richtung. Dann warf sie ihm einen warnenden Blick zu. »Das glaubt dir keiner, Kleiner! Fang schon mal an zu beten.«

Eine Stunde später landeten sie auf einer abgelegenen Militärbasis. Die Agentin stieg aus und deutete auf einen Learjet, der gut hundert Meter entfernt auf dem Rollfeld wartete.

Das Mount Valley ist über zweitausend Meilen von New York entfernt, überlegte Torben, aber mit dem Geschoss sind wir bestimmt in wenigen Stunden in New York. Wie in Zeitlupe schnallte er sich ab. Er fühlte sich müde und ausgebrannt. Nahm diese Tortur denn gar kein Ende mehr?