KAPITEL 42

INTERSTATE-AUTOBAHN – RICHTUNG NEW YORK

Auf der Fahrt nach New York sprachen Nova und Kilian kaum ein Wort miteinander. Noch immer regnete es in Strömen, und draußen wurde es allmählich dunkel. Der Schotte hatte das Radio eingeschaltet. Angespannt verfolgten sie die neuesten Nachrichten, die von immer neuen Protestaktionen berichteten. Kilian saß kerzengerade auf der Rückbank, während Nova sich neben ihm zusammengerollt hatte, versunken in ihre eigenen Überlegungen.

Plötzlich schreckte Kilian auf und stupste Nova an. »Hör doch mal!«

… den Angaben des Justizministers zufolge wurden am Morgen in einer weltweit koordinierten Aktion von Interpol und diversen Geheimdiensten mehr als fünftausend Wohnungen verdächtiger Hacker durchsucht. Es soll sich um Personen handeln, die direkt oder indirekt zu den Unterstützern von Anonymous gezählt werden. Rund dreitausendfünfhundert Menschen wurden in den USA, Europa, Kanada und Großbritannien verhaftet. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden, die Datenauswertung der NSA sowie die lückenlose Dokumentation der digitalen Spuren hätten den schnellen Zugriff ermöglicht, sagte ein Sprecher des Ministeriums in Washington.

Nova richtete sich auf. »Großer Gott, es geht los. Die meinen es ernst. Orwells 1984 war Disneyland dagegen.«

… drohen den Inhaftierten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bis zu zwanzig Jahre Haft. Durch einen heimtückischen Virus, der mutmaßlich von Sympathisanten freigesetzt wurde, kommt es derzeit zu erheblichen Störungen im Internet. Das US-Wirtschaftsministerium bezifferte den weltweiten Schaden auf über einhundert Milliarden Dollar. Daher habe man hart durchgegriffen. Gerüchte, dass es sich hierbei um den Beginn einer Internetzensur handeln könnte, wiesen die Behörden entschieden zurück.

Mit einem Seufzer beugte sich Kilian zu Nova. »Wenn Torbens Verschwinden, die Netzzensur und der Einsatz dieser Psychowaffen zusammenhängen, müssen wir das an die Öffentlichkeit bringen.«

»Das habe ich doch gleich gesagt. Diese ganze verdammte Heimlichtuerei bringt nichts. Manchmal kommst du mir echt wie ein kleiner Hosenscheißer vor, der sich in einem Computerspiel verirrt hat.«

Kilian zuckte mit den Schultern. »Ich dachte eben, dass wir Torben schützen müssen, schon allein wegen Mister Geheimnisvoll Norris.«

»Dieser Kerl hat ein total mieses Spiel mit Torben abgezogen!«, ereiferte sich Nova. »Hat ihm einen Köder hingeworfen und sich dann einfach vom Acker gemacht. Die elektromagnetischen Waffen sind sicher nur ein Stein im Puzzle von Norris. Und jetzt hat Torben die Scheiße an der Hacke, während dieser Typ vielleicht auf Kuba sitzt und seinen fetten Bauch in die Sonne hält. Vielleicht ist er gar nicht tot.«

»Ein Grund mehr, an die Öffentlichkeit zu gehen. So ein Mist, dass mein Laptop futsch ist. Wenigstens habe ich noch einen in der Wohnung.«

Der Taxifahrer warf irritierte Blicke in den Rückspiegel, weil die beiden laut geworden waren. Da sie Schwedisch sprachen, mussten sie keine Rücksicht nehmen. Inzwischen hatte Nova ihr uraltes Handy aus der Hosentasche gezogen.

Kilian runzelte die Stirn. »Was hast du vor?«

»Das Handy ist vielleicht die einzige Chance, damit Torben mit uns Kontakt aufnehmen kann.«

Sie sagte es mit einem Blick, den Kilian nur zu gut kannte. Es würde unmöglich sein, sie davon abzubringen. Dennoch versuchte er es.

»Hör zu, das ist völlig crazy, die finden uns doch sofort, wenn du das Ding anschmeißt.«

»Keine Sorge, es ist ein Prepaidhandy.«

»Hallo?« Kilian schüttelte den Kopf. »Kannst du zur Abwechslung mal deine grauen Zellen benutzen? So ein Handy ist genauso gefährlich wie alle anderen.«

»Wie bitte?«

»Mittlerweile kann man jede Stimme nach einer gewissen Zeit einem Handy zuordnen. Was glaubst du, warum sich die Drogendealer alle paar Tage eine neue Karte holen. Du kannst das Handy ab und zu anschalten, aber du darfst auf keinen Fall telefonieren und auch keine SMS senden. Solltest du tatsächlich etwas von Torben bekommen, schaltest du es aus, und wir müssen sofort den Standort wechseln.«

»Okay, okay, big brother.« Nova ärgerte sich, dass sie nicht selbst darauf gekommen war. »Aber lass uns mal weiterdenken. Diese Verhaftungswelle gegen Anonymous kann doch nur der Auftakt für etwas Größeres sein. Aber was? Der Netzausfall gestern geht jedenfalls bestimmt nicht auf das Konto von Anonymous. Dafür fehlt denen sicherlich das technische Know-how.«

»Musst du gerade sagen. Du mit deinem genialen Prepaid Handy.«

Mittlerweile hatten sie über die Interstate 95 die Newark Bay mit ihren gigantischen Hafenanlagen erreicht. Von der Autobahnbrücke aus sahen sie die Lichter der Werften und Containerschiffe, die die Schwärze der Nacht erhellten. Kilian erinnerte der Anblick an seine Studienzeit in Hamburg, wo er oft am Elbstrand gesessen hatte, fasziniert von den illuminierten Werften am anderen Ufer.

»Entschuldigung die Herrschaften, wohin genau soll ich Sie bringen?« Der inzwischen müde wirkende Chauffeur blickte in den Rückspiegel zu Kilian.

»In die Upper East Side, 1151 Lexington Allee«, antwortete Kilian. »Sie sind übrigens super gefahren. Und da ich Sie schon um Ihr Abendessen gebracht habe, sollte das Trinkgeld reichen, um Ihnen ein Dinner im besten Restaurant New Yorks zu spendieren.«

Zwanzig Minuten später hielt der Wagen vor einem Haus, das zwischen einem Nagelstudio und einer chemischen Reinigung lag. Die Straßenbeleuchtung erhellte eine rötliche Fassade, deren Farbe fleckig wirkte, wie überhaupt das ganze Haus einen eher renovierungsbedürftigen Eindruck machte.

»Das hatte ich mir jetzt aber anders vorgestellt«, mokierte sich Nova. »Ich dachte, wir steigen in einem Luxusschuppen am Central Park ab.«

Kilian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er bezahlte den Fahrer, schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter und stieg aus.

»Mein Onkel ist alles andere als reich, wenn er auch nicht gerade Mülltonnen durchwühlt«, rief er Nova zu, die ebenfalls ausgestiegen war. »Mein Vater und er haben sich schon als Jugendliche zerstritten, weil sie komplett unterschiedlich sind. Seitdem wollte mein Onkel nichts mehr mit dem Familienunternehmen zu tun haben.«

»Ach, das schwarze Schaf der Familie. Kein Vorzeigekapitalist wie dein Vater?«

»Ohne diesen Vorzeigekapitalisten hätten wir nicht unbemerkt in die USA einreisen können, schon vergessen?«

Er ging in das Nagelstudio, das trotz der späten Stunde noch geöffnet hatte. »Sexy Nails« verkündete das Neonschild darüber, im Schaufenster hingen verblichene Poster von Hollywoodschönheiten.

Als Nova ihm folgte, sah sie, wie er von einer unförmig dicken Frau in einem rosa Kittel umarmt wurde, die Lockenwickler im Haar trug.

»Long time no see«, sagte sie mit kehliger Stimme. »Du willst bestimmt den Schlüssel, was, Sweetheart?«

»Genau, Rosie.«

Die Frau verschwand durch einen Vorhang aus Perlenschnüren im Hinterzimmer und kam mit einem altmodischen großen Schlüssel zurück.

»Hier, ihr beiden Turteltauben. Und bring deine Freundin morgen zur Maniküre vorbei, sie hat es nötig. Ich mache einen guten Preis.«

Verschämt versteckte Nova ihre Hände in den Hosentaschen ihrer Jeans. Eine Maniküre hatte sie sich noch nie geleistet. Was ihr jedoch die Röte ins Gesicht trieb, war die Tatsache, dass diese Frau sie für Kilians Freundin hielt.

»Bin nur ein Kumpel«, sagte sie hastig. »Nichts weiter.«

Die Frau grinste. »So was kann sich schneller ändern, als du denkst, Baby.«

Auch Kilian schien diese Unterhaltung unangenehm zu sein. Er umarmte Rosie noch einmal, dann ging er hinaus und schloss die Eingangstür zum roten Haus auf.

Ein Gestank nach Müll, Urin und altem Fett schlug ihnen entgegen. Der schummrige Hausflur war angefüllt mit lauter Musik und Kindergeschrei, das aus den Wohnungen drang.

»Ist’n echter Held, dein Onkel.«

»Tja, vom dem Reichtum der Familie hat er wahrlich nicht profitiert. Im Gegenteil: Er hat sogar aufs Erbe verzichtet und sich mit einem Computerhandel durchgeschlagen.«

Schweigend stiegen sie die Treppen hoch bis in den vierten Stock. Die Wohnungstür war mit Graffiti besprayt, die Klingel hatte jemand aus ihrer Verankerung gerissen. Nur die Drähte hingen noch aus der Wand.

»Ich fühl mich wie zu Hause, aber dass du hier manchmal wohnst – kaum zu glauben.«

»Du hältst mich wohl für einen unverbesserlichen Snob, was?«, sagte Kilian, während er mit dem Schlüssel erst einen massiven Metallriegel entsicherte und dann die Tür damit öffnete. »Für mich war das hier immer der Zufluchtsort, an dem ich mich wohlgefühlt habe, wenn mein Vater mal wieder einen seiner Autoritätsanfälle hatte.«

Sie traten ein. Kilian schaltete die Beleuchtung an. »Voilà, Madame.«

»Wow, sieht total gemütlich aus!«

Der lange, weinrot gestrichene Korridor mit breiten Dielen wurde von edlen Jugendstillampen beleuchtet. Neben einer antiken Holzgarderobe glänzte ein hoher Spiegel mit vergoldetem Rahmen. An den Wänden hingen Gemälde in expressionistischer Manier.

Aufmerksam betrachtete Nova die Bilder. »Malt dein Onkel?«

»Ja, und gar nicht mal so schlecht. Er selbst nennt das Dekokunst.«

»Wo ist er jetzt?«

»Die meiste Zeit in Los Angeles bei seiner neuen Frau.« Kilian ging auf einen gewölbten Durchgang zu, der mit roten Samtportieren geschmückt war. »Komm, gehen wir in mein kleines Asyl.«

Nova machte große Augen. »Klein? Nennst du das klein, du Komiker?«

Der Raum hatte gut vierzig Quadratmeter. Neben einem breiten Doppelbett, das mit einer grau-weiß gemusterten Tagesdecke überzogen war, stand ein Schrank mit hellgrauen Milchglastüren. Zwei schlichte Nachttische, ebenfalls in hellgrau, ein großer Flat-Screen-Fernseher und eine Musikanlage rundeten das Ensemble ab. Alles wirkte sorgfältig ausgewählt.

Beeindruckt sank Nova auf das Bett. »Ich habe einen Bärenhunger. Meinst du, dein Onkel hat was in der Tiefkühltruhe?«

»Bestimmt.« Kilian machte sich an der Musikanlage zu schaffen. Eine Sekunde später erfüllte eine asiatisch klingende Entspannungsmusik das Zimmer. »Nimm dir einfach, was du willst, die Küche findest du am Ende des Flurs. Und bring mir irgendwas zu trinken mit. Derweil werde ich alles, was wir wissen, in die Blogs hauen.«

Er zog die graue Samtgardine ein Stück weit auf und deutete auf den Laptop. »Das ist der sinnvollste Weg, um Torben zu helfen. Wir müssen die Behörden an einem empfindlichen Punkt treffen. Ich hoffe, dass wir so genug Anonymous erreichen, die sich an die Sache ranhängen. Ich muss schauen, ob ich TOR installiert habe.«

»Du willst mit TOR ins Netz?« Nova kniff die Augenbrauen zusammen. »TOR kannst du vergessen. Aber über Ghost teilen wir uns die IP-Adresse mit mehreren Usern, so gewinnen wir wertvolle Zeit.«

»Sorry, klar, der Punkt geht an dich. Hätte ich mir auch nicht träumen lassen, dass ich mal auf die Schleichwege von Hackern setzen muss. Du hast eine Menge von Torben gelernt, stimmt’s?«

Nova legte eine Hand auf Kilians Schulter. »Glaubst du, dass er noch lebt?«

Auf einmal spürte Kilian ein Kribbeln, das sich entlang seiner Wirbelsäule ausbreitete. Er wusste nicht, ob es an Novas Berührung lag oder an ihrer Frage. Ein Schauder durchfuhr ihn, unwillkürlich hob er die Schultern. »Es gibt keinen Grund, ihn zu töten, Nova. Sie brauchen ihn, sonst hätten sie ihn ja wohl nicht gekidnappt. Die haben mit Sicherheit auch schon mitgekriegt, dass er ein kleines Genie ist.«

»Dein Wort in Gottes Ohr.« Sie zog ihre Hand zurück und machte sich auf den Weg in die Küche.

Kilian klappte den Laptop auf, setzte sich aufs Bett und installierte das Ghost-Programm. Was dann kam, war äußerst ernüchternd: Die meisten der relevanten Blogs waren offline. »Das kann ja wohl nicht wahr sein«, schimpfte er halblaut vor sich hin. »Es war doch nur die Rede von einzelnen Störungen.«

Er schlug förmlich die IP-Adresse des IRC-Chat von Voxanon in die Tasten. Jetzt, endlich wurde er fündig. Das globale schwarze Brett von Anonymous war übervoll, es liefen die wildesten Debatten über die aktuelle Lage. Dann stutzte er. Irgendwas war merkwürdig. Einige User verschwanden unmittelbar, nachdem sie sich eingeloggt hatten. Er stopfte sich ein Kissen in den Rücken und begann, eine Warnung zu schreiben.

Achtung, Leute, unbedingt lesen und weitermailen! Unser Freund Torben Arnström wurde verhaftet, vermutlich zusammen mit Commander Zero. Wir glauben, dass das Netz bald gesperrt wird. Dann ist es zu spät, irgendwen zu warnen. Verlasst alle den New Yorker Financial District. Dort kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit elektromagnetische Waffen zum Einsatz, die alles zur Eskalation bringen könnten.

So schnell er konnte, hatte er den Text geschrieben. Er drückte die Entertaste, um ihn zu senden. Im selben Augenblick war sein Text verschwunden. Weg. Einfach weg vom Bildschirm. Kilian starrte wie vom Blitz getroffen auf den leeren Screen.

»Was ist los? Du siehst aus wie schockgefroren!«

Nova war mit einem Teller voller Pizzastücke hereingekommen.

»Scheiße, die haben wirklich Filter eingebaut«, sagte Kilian wütend. »Selbst der IRC ist tot.«

»Der Kill switch act?«

»Sieht so aus. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Provider dabei mitmachen. Anonymous versuchen Websites der Medien zu kapern, wenn ich das hier richtig verstehe.« Fassungslos zeigte Kilian auf ein Posting, das sofort wieder verschwand. Er loggte sich aus und fuhr den Computer runter. Kraftlos ließ er sich in die Kissen fallen.

»Also, erst mal gibt es lecker Tiefkühlpizza.« Nova stellte ihr Backwerk neben den Laptop ab. »Und dann heißt es bye-bye digitale Welt, willkommen in der analogen Wirklichkeit.«

»Was?« Kilian angelte sich ein Stück Pizza. »Willst du etwa mit der Hand Flugblätter schreiben und aus dem vierten Stock schmeißen?«

Die Grimasse, die Nova zog, passte zu ihrem roten geschmückten Zopf wie der Deckel auf den Topf. »Klar, und ich male auch noch Blümchen drauf!«

»Tickst du jetzt komplett aus?«

Trotz der angespannten Situation brach Nova in Lachen aus. »Mann, bist du spaßbefreit! Wir müssen zur Wall Street, Kilian. Da, wo der Kampf stattfinden wird.«