KAPITEL 21

WÜSTE NEVADA

Torben öffnete seine schweren Lider. Undeutlich sah er kleine blinkende Lichter auf einem Armaturenbrett. Davor hoben sich die Konturen zweier Männer mit großen Helmen dunkel ab. Alles um ihn herum vibrierte. Mit Schrecken stellte er fest, dass seine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. An seinen Ohren klemmten dicke gepolsterte Kopfhörer. Obwohl Torben eine lähmende Mattigkeit spürte, versuchte er mit aller Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben. Warum nur schlingerte und vibrierte alles um ihn herum? Nur langsam wurde ihm klar, dass er sich in einem Hubschrauber befand, festgegurtet auf dem Rücksitz.

Jemand beugte sich zu ihm. Torben konnte ihn nur schemenhaft erkennen. Offenbar war es ein Mann. Er gab Torben einen Klaps auf die rechte Wange.

»Sie haben es gleich hinter sich«, ertönte eine Stimme in Torbens Kopfhörern, »die Betäubung wird bald nachlassen.«

Langsam konnte er mehr erkennen. Kühle Luft wehte durch die leicht geöffnete Seitentür des Helikopters. Allmählich kehrte er in die Wirklichkeit zurück und sah neben sich das zerfurchte Gesicht eines älteren Mannes in militärischer Uniform. Wieder meldete sich die Stimme in Torbens Kopfhörer.

»Mr. Arnström, seien Sie unbesorgt, es geschieht Ihnen nichts. Sie waren sechs Stunden bewusstlos.«

»Bewusstlos, sechs Stunden?«, fragte Torben verwirrt. »Wo bringen Sie mich überhaupt hin?«

Der Mann neben ihm sah unbeweglich in die dunkle Nacht. »Das erfahren Sie früh genug. Ich kann Ihnen nur raten, so schnell wie möglich zu kooperieren.«

»Dann haben Sie die Chance, mit einem blauen Auge davonzukommen«, ergänzte jemand, der vorn neben dem Piloten saß. Er sprach so kalt und emotionslos, als sei all das hier sein Alltagsgeschäft.

Angstvoll sah Torben sich um. Er war eingeklemmt zwischen mehreren Soldaten, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Auf der anderen Seite der Rückbank glaubte er, die Beine einer Frau zu erkennen.

Er versuchte, sich mit einem Blick aus dem Fenster zu orientieren. Doch es war tiefe Nacht, und keine Lichteransammlung deutete auf eine größere Stadt oder auch nur auf ein Dorf hin. In seine Angst mischte sich Verzweiflung.

»Wer sind Sie?«, schrie er. »Und wo bringen Sie mich hin?«

»Sie werden uns noch früh genug kennenlernen«, raunzte es in seinem Kopfhörer. Es war der Uniformierte, der zu ihm gesprochen hatte. Sein finsterer Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen. Er knuffte Torben in die Rippen. »Auf Sie wartet ein interessanter Job.«

»Ein Job?« Torben zerrte an seiner Fessel. »Ich will keinen Job. Ich bin schwedischer Staatsbürger, und was Sie hier machen, ist Freiheitsberaubung. Damit kommen Sie nicht durch!«

Der Soldat lachte heiser.

»Sie sollten beim Recruiting jedenfalls nicht durchfallen.«

Jetzt entdeckte Torben am Revers des Mannes einen Ausweis. Die drei Buchstaben tanzten vor seinen Augen: CIA. Er bekam eine Gänsehaut. Die CIA war wenig zimperlich mit Gefangenen. Trotz seines benommenen Zustands wusste Torben: Er befand sich nun in einem rechtsfreien Raum, seinen Häschern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gleichzeitig wunderte er sich, dass sich gleich zwei Geheimdienste an seine Fersen geheftet hatten. Und offenbar hatte die CIA die schwedischen Kollegen ausgebootet.

Der Hubschrauber neigte sich zur Seite und verlor an Höhe. Aus der Ferne konnte Torben Positionslichter erkennen. Plötzlich schob sich der Boden unter ihnen auf, und ein hell erleuchteter Einlass strahlte in den Nachthimmel. Während sich der Hubschrauber auf die Öffnung zu bewegte, blendete ihn das Licht so sehr, dass er die Augen zusammenkneifen musste.

Wahnsinn, dachte Torben, in was fliegen wir da rein?

Im nächsten Moment setzte der Helikopter unsanft auf. Der alte Soldat hakte seinen Gefangenen unter und bugsierte ihn aus der Tür.

Torben blinzelte. Sie standen in einer weitläufigen Halle. Mehr sah er nicht. Noch bevor er sich orientieren konnte, wurde ihm ein Sack über den Kopf gestülpt. Er war zu schwach, um sich zu wehren. Wieder überkamen ihn Übelkeit und Schwindel. Dann wurde er erneut ohnmächtig.

Torben wusste nicht, wie lange er den Sack über dem Kopf gehabt hatte, als er die Augen aufschlug. Mittlerweile hatte man ihn von dem Ding befreit und auf einen Stuhl gesetzt. Seine Hände waren nach wie vor auf dem Rücken gefesselt, seine Füße hatte man an den Knöcheln zusammengebunden. Sein Kopf schmerzte erbärmlich. Er befand sich in einem kleinen Raum ohne Fenster. Wände, Boden und Decke hatten einen anthrazitfarbenen Lackanstrich. In die Wände waren Strahler eingelassen, die ein unangenehm grelles Licht verbreiteten. In der Mitte des Raums standen ein Tisch und zwei Stühle. Auf der Tischplatte sah Torben einen Bildschirm, eine Tastatur und zwei Mikrofone. Eines davon zeigte wie ein Pfeil in seine Richtung. Lauernd sah er sich um. Er spürte seine Angst. Todesangst! Allein und ausgeliefert, wie ein Käfer, der sich nicht mehr aus seiner Rückenlage befreien konnte.

Zwei Männer traten ein. Der Ältere, ein durchtrainiertes Muskelpaket mit kantigem Gesicht, hatte die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt. Ein teurer Chronometer schmückte sein Handgelenk. Der andere Mann war eher schmal. Er trug einen etwas zu groß wirkenden grauen Anzug und sah so unauffällig aus wie ein Bankangestellter.

»Willkommen, Mr. Arnström, wieder bei Bewusstsein?«, fragte der Ältere. »Was können wir für Ihr Wohlbefinden tun?«

Benommen sah Torben ihn an. Der betont freundliche Tonfall des Mannes beunruhigte ihn eher. Peter hatte ihm einiges über die Foltermethoden der CIA erzählt. Und seit der Verschärfung der Antiterrorgesetze fackelte man nicht lange mit Verdächtigen.

Das war’s, Torben. Du bist nicht mal dreißig Jahre alt. Hast keine Kinder, keine Beziehung, die in die Tiefe ging. Nichts. Nur ein konfuses Leben, das keine Zeit hatte, sich einen Platz zu suchen. Das ist nicht fair, dachte Torben. Sollte er sich jetzt in das Unvermeidliche fügen? Nein! Solange er konnte, wollte er seinen Stolz und seine Überzeugungen verteidigen. Vielleicht würde er nie wieder das Tageslicht sehen. Sein einziger Trost war, dass Nova ihm so nahe wie sonst niemand gekommen war. Aber jetzt sollte er sich besser darauf vorbereiten, mit seinem Leben abzuschließen. Hier war der Ort, an dem es bestimmt keine Gnade und kein Erbarmen gab. Wahrscheinlich war Guantanamo ein Ausflugsziel dagegen.

Er erinnerte sich an einen Song von Anonymous:

Ihr könnt meinen Herzschlag anhalten, aber nicht meine Seele brechen!

Torben nahm all seine Kraft zusammen. »Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus. Ich will einen Anwalt und einen Vertreter der schwedischen Botschaft sprechen.«

Der Mann mit dem kantigen Gesicht lachte auf. »Sonst noch was? Wir sind hier nicht im Streichelzoo!« Er wandte sich an seinen Kollegen. »Spielen Sie diesem Komiker den Soundfile vor.«

Der schmächtige Typ setzte sich auf die Tischkante. Eilig tippte er etwas in die Tastatur. Durch einen Lautsprecher an der Decke hörte Torben nun Stimmen. Offenbar war es der Mitschnitt eines Verhörs. Entsetzt erkannte er Kilians Stimme.

»…Ja er könnte es gewesen sein. Wir haben versucht, einige komplexere Probleme von Saicom zu Hause an seinem Rechner zu lösen. Es gab nie einen Zwischenfall. Ja, ich wusste, dass wir die Sicherheitsbestimmungen verletzten, aber …«

Kilian hatte ihn also wirklich ans Messer geliefert. Sein Freund hatte ihn verraten. Diese Erkenntnis traf Torben fast schlimmer als seine ausweglose Situation. Hoffentlich würden sie sich noch einmal begegnen. Er wollte ihm ins Gesicht sehen. Er soll wissen, was er angerichtet hat, dachte Torben tieftraurig.

»Feine Freunde haben Sie«, spottete der Ältere. »War offensichtlich ein Kinderspiel, Ihren guten Kilian umzudrehen.«

Torben schluckte. »Und was wollen Sie von mir?«

»Mr. Arnström«, sagte der Mann im grauen Anzug. »Sie haben sich in die Datenbanken der CIA gehackt und ein Sabotageprogramm installiert, das das gesamte Netz bedroht. Deshalb haben wir Sie hierhergebracht.«

Sie wissen alles, dachte Torben. Aber wozu dann noch dieses Verhör?

»Ganz genau«, meldete sich der andere Mann zu Wort. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefster Verachtung. »Sie kleiner Hosenscheißer halten sich wohl für besonders schlau, was? Wir werden Ihnen die Daumenschrauben ansetzen, bis Sie die Engelein im Himmel singen hören. Na, los doch: Wie haben Sie es geschafft, unseren Satelliten unter Ihre Kontrolle zu bringen?«

Er baute sich direkt vor Torben auf, sodass der zu ihm hochblicken musste.

Torben zögerte. Nein, er würde keine Details ausplaudern. Niemals! Man hatte offenbar trotz seiner Schutzmaßnahmen seine IP-Adresse zurückverfolgen können und ihn auf diese Weise gefunden. Aber das Geheimnis seines Programms würde er auf keinen Fall preisgeben.

»Ohne Anwalt sage ich gar nichts.«

Eine schallende Ohrfeige ließ ihn zusammenzucken. Der kantige Typ legte ihm eine Hand um den Hals und drückte gezielt auf den Adamsapfel. Torben schnappte nach Luft.

»Wenn Sie nicht kooperieren, müssen wir leider etwas nachhelfen«, sagte er, während er seinen Aktenkoffer öffnete und eine Gummimanschette herauszog.

Er packte Torben am Oberarm und befestigte sie daran. »Was haben Sie eigentlich erwartet, Mr. Arnström? Dass wir uns von Ihnen einfach so in die Suppe spucken lassen?« Er zog die Manschette so stramm, dass die Venen hervortraten.

Der andere Mann sah gelangweilt zu. Diese Verhörmethoden schienen ihm vertraut zu sein.

»Uns ist durchaus an einer Zusammenarbeit gelegen«, erklärte er. »Sie können sehr wertvoll für uns sein. Kooperieren Sie, und wir werden Sie gut behandeln.«

Torben schüttelte den Kopf.

»Schluss mit dem Gequatsche!«, explodierte der Ältere. »Den hier müssen wir härter rannehmen!«

Torben sah, wie der Schmächtige eine kleine schwarze Schachtel aus seinem Koffer holte und öffnete. Zwei silberne Spritzen lagen darin, eingebettet in blauem Samt.

»Damit werden Sie nichts erreichen«, presste Torben hervor.

Der vierschrötige Typ lachte dröhnend. »Das haben wir schon oft gehört, Mr. Arnström, sehr oft.«

Er nahm eine der beiden Spritzen und stach sie in Torbens Unterarm. Im nächsten Moment wurde ihm wieder schwarz vor Augen.

June Madlow war auf dem Weg in das Büro des CIA-Direktors. Sie hatte sich bisher zurückgehalten und war erst aus dem Hubschrauber gestiegen, nachdem man Torben den Sack über den Kopf gestülpt hatte.

Sie wollte nicht, dass er sie jetzt schon kennenlernte. Sie hatte die Zeit des Fluges genutzt, ihn, seine Körpersprache und seine wenigen Worte zu studieren. Um ihre Beobachtungen richtig einzuordnen, brauchte sie noch etwas Ruhe vor ihm.

Gerade bog sie in den Flur ein, in dem Clarks Büro lag, als der CIA-Boss sie schnellen Schrittes einholte.

»Na, hatten Sie einen angenehmen Flug?«

June Madlow fuhr herum. »Wo ist Arnström?«

»Den haben zwei unserer Agenten gerade ins Nirwana geschickt. Wenn er wieder aufwacht, müssen Sie endlich in Aktion treten. Sie können ja als Mutter Theresa erscheinen und ihn retten.«

»Ist diese Drogennummer nicht etwas übertrieben?«

Clark sah sie verärgert an. »Haben Sie immer noch nicht begriffen, dass die sanfte Tour bei solchen Typen nichts bringt?«

Sie verkniff sich eine Entgegnung. Es hatte keinen Sinn. Clark war schlau, sonst hätte er es nicht so weit nach oben gebracht. Aber seine Strategie war noch immer die primitive Gewalt des einstigen Soldaten. June wäre anders vorgegangen. Doch das behielt sie jetzt besser für sich.

Inzwischen waren sie beim Büro angelangt. Clark steckte seinen Sicherheitsausweis in den Schlitz des Scanners, und die Tür sprang auf.

June Madlow betrat das erste Mal Clarks Bunkerdomizil. Sie fand es überzogen und surreal. Inmitten dieser bizarren Umgebung wirkten die gutbürgerlich gefüllten Bücherregale wie eine Farce. Sicher hatte dieser Kerl nicht eines dieser Bücher gelesen. Es sah aus wie das Arbeitszimmer eines Professors. Aber darin hauste ein brutaler Machtmensch. Clark setzte sich hinter seinen Schreibtisch, während June Madlow auf dem Ledersofa Platz nahm. Die Spannung zwischen ihnen war mit Händen zu greifen. Stirnrunzelnd musterte der CIA-Chef seine Mitarbeiterin.

»Also noch mal von vorn. Sie kochen ihn weich, und ich verspeise ihn dann mit Messer und Gabel.« Er verschränkte die Arme. »Wir müssen ihn für Mindvision gewinnen. Machen Sie ihm klar, dass er im Leichenschauhaus landet, wenn ich von ihm nicht erfahre, was ich schon weiß, nämlich wozu Peter Norris ihn abgerichtet hat. Verstanden? Er muss zu uns überlaufen. Überzeugen Sie ihn davon, dass er sich nur so retten kann.«

Clark befand sich in einer Zwickmühle. Solange Miles nicht imstande war, die Kombination von Wurm und Programm zu knacken, brauchten sie diesen Hacker. Clark empfand bei dem Gedanken, dass dieser halbwüchsige Freak ihn, Mindvision und die Operation Silent Control bedrohen könnte, eine Mischung aus Furcht und unbändiger Wut, so, als stünde er selbst unter Folter.

Er musste diesen Jungen dazu bringen, klein beizugeben.

Mit wachsender Beunruhigung hatte die Agentin zugehört. Sie schlug die Beine übereinander.

»Und was machen Sie dann mit ihm?«

»Das hat Sie nicht zu kümmern. Peter Norris hat Arnström zum Agenten ausgebildet. Das ist nicht einer dieser gestörten Anonymous, das ist ein raffinierter Hund. Ich muss wissen, worauf Norris ihn angesetzt hat. Entweder er packt aus, oder ich grille ihn, bis ihm sein Gehirn wegfliegt. Aber erst mal halten Sie sich an meinen Plan, verstanden?«

»Ja, Sir, alles klar.«

Unaufhaltsam bahnte sich das Serum seinen Weg durch Torbens Venen. Er spürte die Wirkung, doch er stemmte sich mit all seiner mentalen Energie dagegen. Die Ohnmacht hatte nur kurz angehalten. Jetzt war es, als hätte er keine Knochen mehr. Er konnte nur verschwommen sehen und sehnte sich nach Ruhe. Fast hatten sie ihn so weit. Das Gefühl von Entkräftung und fehlender Willenskraft nahm überhand. Er wollte nur noch gestehen und dann endlich schlafen.

Bleib wachsam!, befahl er sich. Unhörbar zählte er von hundert an rückwärts, ein Trick, den Peter ihm beigebracht hatte. Durch die Konzentration auf die Zahlen konnte man den Einfluss psychogener Drogen zumindest ein wenig abschwächen. Alles hing jetzt davon ab, dass sein Denkapparat nicht kapitulierte.

Plötzlich flog die Tür auf, und ein grauhaariger Hüne stürmte herein. Mit einem beherzten Ruck zog er die Spritze aus Torbens Arm. Dann wandte er sich den beiden Agenten zu, die an der Wand lehnten.

»Sind denn hier nur Idioten am Werk?«, schrie er, hochrot im Gesicht. »Sie sollten mich verständigen, wenn der Mann eintrifft! Stattdessen pumpen Sie ihn mit Drogen voll!«

Überrascht blickten die beiden Männer ihn an.

»Raus jetzt, bevor ich mich vergesse!«

Ohne ein Wort schlichen sie aus dem Raum.

Der Hüne zog einen Stuhl heran und setzte sich zu Torben.

»Entschuldigen Sie bitte, das war nicht vorgesehen. Ich hoffe, man hat Sie angemessen behandelt, abgesehen von der Spritze.« Er zwinkerte ihm vertraulich zu.

»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Clark, Roy Clark. Ich bin …«

»I-ch w-weiß, wer S-sie sind«, stammelte Torben.