KAPITEL 2
STOCKHOLM
Tausend Gedanken wirbelten auf dem Weg nach Hause durch Torbens Kopf. Der Tag fing nicht gut an. Was wusste Wallins wirklich? Bluffte er, oder hatte er tatsächlich verstanden, was Torben ausheckte? Er ballte die Fäuste in den Taschen seines Parkas. Irgendetwas hatte er übersehen. Etwas Entscheidendes. Doch sosehr er sich auch sein Gehirn zermarterte, er kam nicht darauf.
Bevor er in sein Büro ging, machte er halt bei dem Coffeeshop, der fast sein zweites Wohnzimmer geworden war. Hier konnte er abschalten, wenn er es allein nicht mehr aushielt. Torben mochte den schummrigen kleinen Laden mit den blank gescheuerten Stehtischen und den kitschigen Blumengirlanden unter der Decke.
Als er den Coffeeshop betrat, stand seine heiße Schokolade bereits auf einem der Stehtische. Wenn die Kellnerin ihn um die Ecke biegen sah, wusste sie, dass jetzt Schokolade angesagt war. Am Tresen wählte er einen der gelben Kuchen, die für ihn nur hier den Geschmack von echter Vanille hatten.
Geistesabwesend schlürfte er sein Lieblingsgetränk in sich hinein und biss ein Stück Kuchen ab. Was war mit Nova los? Wieder tippte er ihre Nummer ins Handy, diesmal funktionierte es.
»Nova, wir müssen dringend reden. Kannst du in mein Büro kommen? Du bist schon unterwegs? Perfekt.«
Er ließ sich den Kuchenrest einpacken, trank die heiße Schokolade aus und legte ein paar Münzen auf den Stehtisch.
Als er die Tür zu seinem Büro aufschloss, erschien auch schon Nova auf dem Hinterhof. Sie hatte ihren Businesslook abgelegt, trug bunt gestreifte Strumpfhosen, einen braunen Rock und kniehohe schwarze Stiefel, dazu eine dunkelbraune Lederjacke. Große, gelbe Plastikohrringe baumelten fast bis auf ihre Schultern. Sie sah aus wie Pippi Langstrumpf. Nur die Wut, die ihr noch ins Gesicht geschrieben stand, passte nicht so recht zu ihrem fröhlich bunten Outfit.
»Nova, mein Gott, was war denn das für eine Szene? Du …«
Mit einer aggressiven Geste brachte sie ihn zum Schweigen. »Das fragst du noch? Du siehst doch, was aus Saicom geworden ist. Die Firma wurde mal gegründet, um die User zu schützen. Aber dieses miese Arschloch Wallins macht uns zu einem reinen Spionageunternehmen. Wie konntest du nur diese Scheißvereinbarung unterschreiben?«
Beschämt schaute Torben zu Boden. Natürlich war es ihm unangenehm, dass er sich so ohne Weiteres gefügt hatte.
»Ich weiß auch nicht. Es ging alles so schnell. Komm doch erst mal rein.«
»Gewissenloser Freak.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Auf einmal sah sie richtig weiblich aus. Fast hübsch, fand Torben. In sentimentalen Momenten hatte er schon öfter mit dem Gedanken gespielt, dass da mehr zwischen ihnen sein könnte als Freundschaft. Sobald sie unter sich waren, konnte er sich öffnen, er, der Schüchterne und Introvertierte. Er fühlte sich einfach wohl in ihrer Nähe, auch deshalb, weil sie nicht nur den kauzigen Computerfreak in ihm sah. Manchmal hatte er den Eindruck, sie hielt ihn für Thron, den legendären Kämpfer der User, aus dem wohl bekanntesten Film über die Verschmelzung von Mensch und Maschine, der Wächter des Internets, der über all die Bits und Bytes herrscht.
Vor Kälte zitternd, betraten sie das kleine Büro. Torben warf sich auf den Drehstuhl hinter seinem Schreibtisch, Nova hockte sich auf einen Schemel davor. Herausfordernd sah sie ihn an.
»Und? Was war es dir wert, deine Seele zu verkaufen?«
»Jetzt mal langsam.« Torben packte den Kuchen aus und hielt Nova das angebissene Stück hin. »Okay, der Alte hat mir ein Angebot gemacht.«
Sie nahm ihm den Kuchen ab, so eine Verköstigung war typisch Torben.
»Womit ködert er dich? Eine Million Dollar?«
»Ich habe mir das Angebot noch nicht mal angesehen.«
Er zog den Umschlag aus der Innentasche seines Parkas und fand darin zwei Schreiben. Das eine war seine Kündigung. Als er das andere überflog, pfiff er überrascht durch die Zähne.
»Das kann doch nicht wahr sein! Der Kerl bietet mir tatsächlich 200.000 Kronen jährlich plus Bonus, plus Firmenwagen und wahrscheinlich diverse Bordellbesuche. Letzteres steht natürlich nur zwischen den Zeilen.«
Nova fing laut an zu lachen.
»Du in einem Puff? Guter Witz. Bekomme ich einen Kaffee?«
»Ja, klar.«
Im Aufstehen zog Torben seinen Parka aus und ging zu seiner strapazierten Kaffeemaschine, die rund um die Uhr in Betrieb war. Er spülte einen Becher aus und füllte ihn mit der schwarzen, bitteren Brühe.
Nova nahm einen Schluck. Angewidert verzog sie das Gesicht. »Was ist denn das für ein Höllenzeug?«
Torben reagierte nicht. Er setzte sich vor seine Rechner. Sie waren wie immer hochgefahren, wenn auch im Ruhezustand. Wie gewohnt, drückte er auf die Entertaste, um sie zu wecken. Sein Blick wanderte über den Schreibtisch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es fehlte etwas. Der rote Ordner! Der Ordner mit seinen Recherchen und seinen neuen Skripts. Er erinnerte sich genau daran, wo er ihn hingelegt hatte. Hier hatte alles seine unsichtbare Ordnung. Doch sein Allerheiligstes war verschwunden. Panik erfasste ihn.
»Was, zum Teufel, ist hier los?«
Nova hörte auf zu kauen. »Was meinst du?«
»Ich habe hier heute Morgen einen Ordner hingelegt. Mit Skripts für den Crawler. Jetzt ist er weg.« Er sah sie misstrauisch an. »Hast du Wallins etwas über mein Programm erzählt?«
Entrüstet tippte sich Nova an die Stirn. »Spinnst du? Warum sollte ich das tun?«
Torben ärgerte sich über seine dumme Unterstellung.
»Entschuldige. Ich werde nur das Gefühl nicht los, das Wallins Dinge über mich weiß, die ihn nichts angehen.«
»Du Schlaumeier hast doch selbst in der Firma mit mir darüber gesprochen, als Wallins nur wenige Meter entfernt stand. Vermutlich hat er was aufgeschnappt. Aber keine Sorge, im schlimmsten Fall hat er gedacht, du wolltest ihm Konkurrenz machen. Für alles andere ist der doch viel zu blöd.«
Zu blöd? Seit dem Gespräch am Morgen war sich Torben da nicht mehr so sicher. Das Blut schoss ihm ins Gesicht. Er spürte, wie seine Wangen glühten.
»O Gott, ich Idiot. Ja, das wird es gewesen sein. Genau deswegen hat er mich heute vor die Wahl gestellt. – Wo ist dieser verdammte Ordner?«
»Wow, Mr. Wichtig hat ein Problem. Schade, jetzt kannst du die Welt nicht mehr retten.«
»Du hast ja keine Ahnung.« Torben startete ein Programm, das seine Festplatten scannte. »Wenn es mir darum ginge, Mr. Wichtig zu sein, hätte ich das Angebot von Wallins angenommen. Hier steht weit mehr auf dem Spiel. Weißt du noch, wie ich dir vor ein paar Wochen erklärt habe, was passieren wird, wenn die Attacken wieder losgehen? Das ist der Auftakt zu einem …«
»Ja, ja – alles ein abgekartetes Spiel«, fiel Nova ihm ins Wort. »Hab’s kapiert.«
Torbens Unruhe steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Alles machte ihn jetzt nervös. Wallins Informationen, der verschwundene Aktenordner, Novas ironische Bemerkungen.
»Nichts hast du kapiert. Demnächst drehen sie das Netz ab. Stell dir das mal vor! Ich glaube langsam, dass Anonymous eine ganz andere Rolle spielen, als man es uns glauben machen will. Woher wissen wir denn, ob Anonymous nicht längst von Geheimdiensten unterwandert wurden?«
Nova wischte sich einen Kuchenkrümel von der Unterlippe. »Die gute, alte Verschwörungstheorie. Meinst du, es ist wirklich was dran?«
»Nova, wach auf! Es geht nicht um Verschwörung. Im Grunde genommen kannst du mit diesem Wort alles totschlagen. Es geht um Interessen und Macht. Und das Internet bedroht die alten Machtstrukturen. Aber worüber sich die wenigsten Gedanken machen, ist, welche Art von Kontrolle das Netz den alten Machthabern bietet. Kannst du dich an die Geschichte in Bahrain erinnern? Deutsche Spionagesoftware wurde geliefert, und einige Tage später wurden wie aus dem Nichts Hunderte Regimegegner verhaftet, und das war nichts gegen das, was jetzt droht.«
Hochkonzentriert starrte Torben auf seine Rechner. Sie waren sauber. Gott sei Dank. Keine Spur von einem ungebetenen Besucher. Er atmete auf. Als er zu Nova blickte, wedelte sie mit dem vermissten Ordner herum.
Er sprang auf. »Wo hast du den jetzt her?«
»Ich habe drauf gesessen, du paranoider Nerd.«
Hastig nahm er ihr den Ordner ab und blätterte darin. Es schien nichts zu fehlen. Erleichtert sank er auf seinen Stuhl zurück. Dennoch, hier stimmte was nicht. Er legte nie etwas auf dem Schemel ab. Nie. War etwa jemand in seinem Büro gewesen? Fieberhaft erwog er diese Möglichkeit. Das Türschloss war leicht zu knacken, eine Kleinigkeit für einen Profi. Aber wer interessierte sich schon für seine Arbeit? Grimmig schlug er den Ordner zu. »Verspotte mich ruhig. Ich bin fast fertig mit dem Programm, und dann ist Schluss mit lustig.«
Nova war sichtlich neugierig geworden und versuchte, ihm den Ordner zu entwinden.
»Untersteh dich!«
»Hey, jetzt mach mal nicht auf geheimnisvoll. Wir kennen uns lange genug. Du kannst mir vertrauen. Und ich glaube, es wäre ganz gut, wenn dir jemand ab und zu auf die Finger schaut. Sonst stellst du vielleicht noch einen Riesenblödsinn an.«
Torben presste den Ordner an sich. »Vielleicht mache ich uns alle arbeitslos.«
Nova kommentierte seine Worte mit einem ungläubigen Grinsen. Doch als sie ihm in die Augen schaute, verlosch ihr Grinsen. Eine ungewohnte Entschlossenheit, ja Härte, lag in seinem Blick.
»Meinst du das etwa ernst?«
»Was sonst?« Torben hatte seine Fassung wiedergewonnen und begann das Prinzip seines Programms Spygate zu erläutern. »Es funktioniert zusammen mit einem Wurm, der sich frei durch das Netz bewegt. Selbst im Fall seiner Entdeckung werden sich alle die Finger wund tippen, sollten sie versuchen, ihn zu löschen. Der Wurm erschafft sich wie ein Perpetuum mobile so lange wieder selbst, bis der Code irgendwann entschlüsselt wird.« Torben war aufgestanden und schritt auf und ab. »Aber bis sie das geschafft haben, arbeiten Wurm und Spygate im Netzwerk unzertrennlich zusammen.«
Nova sah ihn ungläubig an. Was er hier gerade auftischte, war ungeheuerlich. »Ich ahne, worauf du hinauswillst.«
»Helles Köpfchen! Der Wurm wird sich zunächst in den Nervenzellen des Internets schlafen legen, um erst mit einer gewissen Zeitverzögerung aufzuwachen. Er funktioniert wie ein unsichtbarer Agent, wie ein Antikörper, der Grippe, Aids und Ebola auf einmal erkennt«, fuhr Torben mit blitzenden Augen fort. »Wenn es so läuft, wie ich es mir vorstelle, haben in zwei Wochen etwa 80 Prozent aller Rechner im Netz Spygate.« Torben schlug die Hände zusammen, als wollte er untermauern, welcher Geniestreich ihm gelungen war. »Spygate hängt dann an alle gesendeten Daten so was wie eine Signatur, und der Wurm erkennt an den neuralgischen Punkten des Netzes die Daten anhand der Signatur wieder. Danach werden Facebook und Google ziemlich viele User verlieren. Wenn die Menschen endlich mal vor Augen haben, wie ihre Daten gleichzeitig bei der CIA und anderen Geheimdiensten zur Auswertung landen.«
Wie er das Ganze programmiert hatte, behielt Torben vorsichtshalber für sich. Längst bewegte er sich auf illegalem Terrain, und es war besser, wenn Nova nicht zu viel wusste. Er steckte sich ein Stück Lakritz in den Mund.
»Ich kann es kaum fassen, was du da zaubern willst, und das soll funktionieren?«, fragte Nova mehr rhetorisch als skeptisch. Sie hatte genug Ahnung von der Materie, um zu verstehen, was Torben plante.
»Wart’s nur ab. Es gibt noch ein paar Probleme, die ich lösen muss. Dann starte ich die Testphase.«
Nova stellte ihren Kaffeebecher ab. »Sag mal, bist du völlig bekloppt? Wenn du das wirklich zum Laufen bringst, könnte das ziemlichen Ärger auslösen. Was glaubst du, wer du bist? Robin Hood? Das heißt ja, du enttarnst den Staat!«
»Nova. Es sollen endlich einmal alle sehen, was jeden Tag im Netz mit unseren Daten passiert. Wir haben bei Saicom lange an dieser Lösung gearbeitet. Warum wohl werden diese Lösungen immer wieder systematisch unterdrückt, obwohl sie zum Greifen nahe liegen? Wallins verdient an seinen zahlenden Regierungskunden, und die anderen haben ihren Spaß am Hacken. Ich will, dass die Menschen erfahren, wer ihre Daten abfängt, analysiert und auswertet und wie Internetprovider über ihre Hintertüren die Behörden füttern.«
Nova schnaubte einmal aus.
»Wenn ich dich richtig verstehe, willst du jeden Versuch, Daten abzusaugen, sichtbar machen. Damit bringst du nicht nur den Staat gegen dich auf, sondern auch alle Hacker.«
»So ähnlich. Aber mein Gott, ich werde sie warnen, wenn es so weit ist. Die werden sich halt eine Weile zurückhalten müssen. Das alles ist ja nur ein erzwungener Waffenstillstand auf Zeit.«
»Du bist größenwahnsinnig, das klappt nie. Sie werden das irgendwie unterbinden.«
»Nova, wenn Anonymous zumindest für eine Zeit nicht aufhört, landen die alle im Knast. Ich will mich … ja, vielleicht bin ich verrückt … mit dem Programm stelle ich mich eine Zeit lang zwischen die Fronten, was ist so falsch daran?« Nova sah ihn besorgt an. »Ich glaube, du brauchst mal eine Pause, siehst total fertig aus. Was ist, wollen wir ins Kino gehen?«
»Jetzt? Am Vormittag?«
»Warum nicht?«
Zweifellos meinte sie es gut. Und eine Pause war in der Tat keine schlechte Idee. Seit drei Tagen hatte Torben durchgearbeitet, ein Film würde ihn auf andere Gedanken bringen. Er fuhr die Rechner herunter und bückte sich, um die Sneakers zu suchen, die er sich unter seinem Schreibtisch von den Füßen gestreift hatte.
»Hast recht, time for a break. Was läuft denn eigentlich …«
Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er riss die Augen auf. Das Spielzeugauto! Zertreten unter dem Schreibtisch. Mit zitternden Händen hob er die Plastikteile auf.
Irritiert sah Nova ihm zu. »Was hast du denn?«
Torben konnte nur noch flüstern. »Es war doch jemand hier. Jemand ist hier eingebrochen. Erst der Ordner, jetzt das hier. Mein Gott, Nova, irgendjemand ist hinter mir her. Und nenn mich jetzt bloß nicht paranoid. Ich weiß genau, wo der Ordner gelegen hat, ich weiß genau, wohin ich dieses Spielzeugauto heute früh gelegt habe. Jemand hat meine Sachen durchwühlt!«
»Und du irrst dich auch bestimmt nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Irrtum ausgeschlossen.«
Wieder starrte er auf das zertretene Spielzeugauto. Plötzlich spürte er Angst in sich hochkriechen. Ganz egal, wer hier eingedrungen war, er würde Torben genauso zertreten wie das kleine Auto, wenn ihm jetzt noch ein einziger Fehler unterlief.