IV

Am Ende des Bahnsteigs, woher ein kalter, durchdringender Wind zog, sah man einen Fetzen des Nachthimmels und die roten Rücklichter eines Zuges. Aus einem Kiosk schwappte der Geruch von Bockwurstbrühe. So also sah Deutschland aus. So roch es. So schmeckte es. Deutschland im November. Ich stand da und zitterte. War es die Kälte? War es die Aufregung? Ich wusste es nicht.

Unsere Koffer türmten sich wie eine Wehrmauer um uns herum. Die Passagiere eilten rechts und links vorüber, verschwanden im unbeleuchteten Schlund der Unterführung. Der Ostbahnhof lag grau und schmutzig. Doch nach der Aufregung in Frankfurt wirkte der Vater gelöst. Es bedurfte mehrerer hitziger Gespräche mit dem Bahnpersonal und einiger An- und Rückrufe aus Berlin, bis klar war, wir konnten im Abteil bleiben. Jetzt drehte er sich immer wieder lächelnd um, als wollte er uns sagen: Seht ihr, ist das nicht herrlich? So schön ist Deutschland!

Die Mutter schaute unsicher. Ich sah zwischen all den Kippen und leeren Zigarettenschachteln einen angebissenen Apfel liegen. Mit der Schuhspitze schnippte ich ihn aus der Mauerecke und schoss ihn in Richtung jener Stufen, die nach unten führten. Der Apfel verschwand in der Unterführung wie eine Billardkugel im Loch. Im nächsten Moment sah man einen wütenden Mann aus dem Untergrund auftauchen. Er blieb stehen und musterte jeden auf dem Bahnsteig.

«Setz dich!», zischte der Vater; sein Körper verdeckte mich.

Ich ließ mich, wenn auch mit würdevoller Verzögerung, auf einem der Koffer nieder und tat so, als hätte ich hier schon Stunden verbracht.

Der Mann trug einen langen, wie ein Sack in breiten Bahnen herunterhängenden grauen Mantel; noch immer bemühte er sich zu ergründen, wer da gerade versucht hatte, ihn mit dem Apfelgriebs zu treffen. Der Bahnsteigwärter, die russischen Offiziere, das verfrorene Pärchen, die ältere Dame mit dem Zopf, mein Vater, meine Mutter, sie alle standen zwar in der Nähe, kamen aber nicht in Frage. Der Einzige, dem man die Sache hätte zutrauen können, das war mein Bruder. Doch Pawel schnürte sich gerade seinen Schuh, also konnte auch er es unmöglich gewesen sein. Mich nahm der Mann nicht zur Kenntnis. Zu klein. Zu brav.

Inzwischen war er in seiner ganzen Fülle aus der Unterführung aufgetaucht. Einen Augenblick schien er zu zögern, ob er den ärgerlichen Vorgang weiter verfolgen sollte, doch dann ging er sicheren Schritts auf den Vater zu, nahm den Hut ab und fragte:

«Entschuldigung, sind Sie Genosse Lorenz Lochthofen?»

Der Vater zog gleichfalls seinen Hut. Den hatte er im Moskauer Gum-Kaufhaus vor der Abreise gekauft. Die Krempe war schmaler als bei dem Modell, das der Mann trug; offenbar unterschied sich die Mode in Berlin von der in Moskau.

«Ja, ja, ich bin es! Und wie heißt du, Genosse?»

Es war nicht zu übersehen, in ihm sprühte Freude. Der Mann erwiderte die Herzlichkeit nicht.

«Ich heiße Kaden und bin Mitarbeiter des ZK. Zuständig für die Rückkehrer aus der Sowjetunion. Ich soll dich abholen.»

Er blickte ungläubig auf die Koffer:

«Ist das alles euer Gepäck?»

«Nicht alles. Nur die Koffer. Die Kisten mit dem Hausrat sind noch im Gepäckwagen. Warum fragst du?»

Der Mann schien nach den passenden Worten zu suchen:

«Wer von dort kommt, hat in der Regel nichts.»

Er schaute dem Vater ins Gesicht, als suchte er hinter den braunen Augen eine Erklärung.

«Sieben Koffer! Das habe ich noch nicht gesehen.»

Der Vater stellte «Towarisch» Kaden jetzt der Mutter vor. Da sie kaum Deutsch verstand und Pascha und ich erst recht nicht, musste er jeden Satz übersetzen. Er hatte zwar in Workuta versucht, mir ein paar Wörter seiner Muttersprache beizubringen, doch ohne sonderlichen Erfolg. Wenn er nach dem Abendessen «Es klappert die Mühle am rauschenden Bach» anstimmte, schaute der Rest der Familie, einschließlich der Hunde, betreten zu Boden. Er aber war gerührt. Ich fand das Ganze mit dem «Klipp, Klapp, Klipp, Klapp» ziemlich peinlich.

Überall in Workuta, auf dem Hof, im Kino, bei den Jungs galt der Deutsche nach dem Krieg als Unmensch, allenfalls als Verlierer. Wer wollte da schon freiwillig dazugehören? Aber beinahe hätte es mich erwischt. Auf der Suche nach einem Namen für mich war der Vater gewillt, «Erich» durchzusetzen, in Erinnerung an seinen jüngeren Bruder, der im Krieg gefallen war. Doch für einen «Erich» hätte der Hof auf dem Rudnik kein Verständnis gehabt. Ein «Erich» – das war für Petka, Saschka oder Jegorka ganz klar –, ein Erich, das konnte nur ein Faschist sein. Allein meinem Bruder hatte ich es zu danken, dass der Vater von seinem Vorhaben abließ. Als man Pawel die Neuigkeit eröffnete, dass er bald ein Brüderchen bekommen werde und dass es obendrein einen hübschen deutschen Namen erhalten solle, verballhornte er das «Erich» sofort zu «Jerka». Das ärgerte meinen Vater maßlos. Wenn schon der eigene Bruder so auf die Namenswahl reagierte, wie sollte es da erst in der russischen Schule sein? Denn wann die Verbannung in der Tundra ein Ende haben würde, ob überhaupt, das konnte niemand wissen. Aus dem «Erich» wurde nichts. Man einigte sich auf Sergej.

Inzwischen war zu unserer kleinen Gruppe auf dem Bahnsteig ein weiterer Mann gestoßen, offensichtlich der Fahrer. Ich betrachtete ihn mit tiefem Misstrauen. Auf dem Kopf hatte er genau so eine Mütze, wie sie die Folterknechte der Wehrmacht in jedem Russenfilm trugen. Der kurze Schirm, die Metallknöpfe, mit denen die Ohrenklappen zusammengehalten wurden – niemand außer den Deutschen setzte so etwas Grässliches freiwillig auf. Was fehlte, war nur der Adler mit dem Hakenkreuz. Wohin hatte uns der Vater gebracht?

Flink nahm der Fahrer die beiden größten Koffer und verschwand damit. Die anderen Gepäckstücke verteilten sich auf die restlichen Männer, wobei mein Bruder auch eines tragen durfte. Draußen auf dem Parkplatz blieben wir vor einer dunklen Limousine stehen. Einen «Wolga» kannte ich, einen «Pobeda» auch, aber ein «EMW», wie es mir mein Bruder buchstabierte, der war mir neu.

Als es endlich losging, setzte sich der Mann vom ZK nach vorn, während wir uns zu viert auf den Rücksitz pressten. Das Auto rollte durch das nächtliche Berlin. Überall sah man die Lücken, die der Krieg in die Häuserzeilen gebrannt hatte. Fast in jeder Wand waren Einschüsse, ganze Maschinenpistolengarben, zu sehen.

Pascha stupste mich mit Kennermiene:

«Das waren unsere.»

Ich nickte. «Unsere» hatten den Krieg gewonnen. Sie hatten die rote Fahne auf dem Reichstag gehisst, denn «Unsere», das waren die Guten.

Die Fahrt endete bald. Das Auto hielt an einer Häuserfront, die direkt an einem Kanal lag. Märkisches Ufer Nr. 8. Unsere erste Adresse auf deutschem Boden. Nachdem uns der Hausmeister das Zimmer im zweiten Stock angewiesen hatte, war Kaden bereits im Begriff zu gehen, doch in der Tür drehte er sich noch einmal um. Er griff tief in das Innere seiner Jacke, kramte eine speckige Brieftasche hervor und holte einige Geldscheine heraus:

«Fast hätte ich es vergessen. Vierhundert Mark. Genosse Lochthofen, du müsstest hier unterschreiben.»

Der Vater nahm das Geld, unterschrieb und blickte triumphierend zur Mutter: Siehst du, so großzügig sind sie hier. Habe ich es nicht versprochen, alles wird besser. Vierhundert Mark, mehr als der Durchschnittslohn eines Maurers in der Stalin-Allee.

Ich ging zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und schaute in die Nacht. Die Stadt funkelte. Nicht so aufregend wie Moskau, aber auch wie eine große, geheimnisvolle Stadt. Ich sah einem Auto auf drei Rädern nach, das über die Kanalbrücke zuckelte. Eine alles ergreifende Beklommenheit stieg in mir auf. Ich kam mir allein und verlassen vor. Ich wollte nach Hause.

Nach Workuta.

Vater, Mutter und Pascha sortierten in den Koffern herum. Packten die einen Sachen aus, stopften andere hinein. Keiner nahm von mir auch nur die geringste Notiz. Ich legte mich auf mein Bett, das eingekeilt zwischen Schrank und Wand stand, und vergrub das Gesicht in den Kissen. Ich war müde und hatte Sehnsucht nach Tarzan. Er hatte im Norden bleiben müssen, bei den Nachbarn. Ich glaubte nicht, dass er es gut bei ihnen hatte, bestimmt vermisste er mich auch. Kara lebte nicht mehr, ein Laster hatte sie im Frühjahr unten am Fluss überfahren. Er saß im Morast fest. Dann, nach endlosem Wippen und Gasgeben, gelang es ihm, sich wieder herauszureißen. Der neugierige Hund konnte nicht schnell genug ausweichen. Als ich die Nachricht von den Jungs auf dem Hof hörte, rannte ich zum Wasser hinunter. Schon von weitem sah ich den Vater, wie er mit der Schaufel den Sand zu einem kleinen Hügel aufschüttete. Daneben Pascha. Sie wollten die Sache unter Männern ausmachen. Ich blieb zwei Schritte hinter ihnen stehen und weinte. Konnte einfach nicht aufhören, die blöden Tränen liefen über mein Gesicht. Seitdem ich denken konnte, gehörten die Hunde zur Familie. Nun waren sie beide nicht mehr da.

Das Zuhause gab es auch nicht mehr.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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