VII

Lena wusste es nicht. Die Kinder auch nicht. Wie hätte er es ihnen auch erklären können? Als Lorenz an diesem schönen, von goldenem Herbstlicht durchströmten Tag mit den Kindern endlich aufbrach, würde es nicht sein erstes Wiedersehen mit Lotte sein. Er hatte sie schon einmal besucht und blieb bis in den Abend bei ihr. Es war der zweite Tag der Rückkehr nach Deutschland. Schneller ging es nicht, auch wenn sie die Verzögerung, selbst um einige wenige Stunden, nicht verstehen konnte. Erst musste er die Dinge im Zentralkomitee auf den Weg bringen, dann dieser Auftrag mit dem Paket. Da war der Tag schon zu Ende. Deshalb konnte er auch Lenas Wunsch, mit den Kindern die Stadt anzuschauen, vorerst nicht erfüllen.

Er musste Lotte sehen.

Er wollte von ihr wissen, wie Larissa starb und wie es ihr all die Jahre im Lager ergangen war. In einem Brief konnte man nichts davon schreiben. Noch in Workuta hatte Lorenz von seiner Mutter die Nachricht erhalten, dass Lotte lebte und in Ostberlin auf ihn wartete. Dann kam ihr erster Brief. Voller Hoffnung, voller Zukunftspläne, voller Zärtlichkeit. Sie schrieb, dass er bestimmt auch bald frei sein werde, dass er zurück nach Deutschland komme und sie gemeinsam all das Schreckliche hinter sich lassen würden. Sie schrieb, wie sehr sie ihn liebte. Gemeinsam würden sie es schaffen. Gemeinsam würden sie leben. Lange zögerte er die Antwort hinaus. Aus ihren Zeilen sprach so viel Freude und Zuversicht, dass er es nicht über sich brachte, sie zu enttäuschen. Wochen trug er den Brief mit sich herum und konnte sich nicht entschließen, ihr zu sagen, dass es eine gemeinsame Zukunft nicht geben würde.

Jahre zuvor hatte man ihn aus der Baracke gerufen. Er erhielt ein amtliches Schreiben: Seine Frau sei tot. Gestorben in Nischni Tagil im Ural. Todesursache Typhus. Am Fußende des Blatts prangte ein violetter Stempel mit den Insignien des Sowjetstaates. Es konnte keinen Zweifel geben. Lotte lebte nicht mehr. Erst das Kind, dann die Frau. Lorenz sprach tagelang kein Wort. Alles sinnlos. Warum sollte er sich weiter quälen? Eines Tages wäre sowieso alles zu Ende …

Als Jahre später ihr Brief kam, wusste er, es war eine Lüge. Eine amtliche Lüge. Warum ihm die «Organe» die Schreckensnachricht schickten, er konnte es nicht begreifen. Wollten sie ihn damit endgültig brechen? Hatten sie keinen Überblick mehr über die Gefangenen in den Lagern? Denn ob ein Mensch lebte oder schon tot war, was spielte das für den Gulag-Apparat angesichts der Millionen für eine Rolle? Wer noch nicht tot war, konnte es bald sein. Und hatte ein «Feind des Volkes» überhaut Anspruch auf eine korrekte Auskunft? Nach der inneren Logik des Geheimdienstes nicht.

Lotte lebte. Sie lebte hier, in dieser Stadt. War er in der S-Bahn noch ruhig, so spürte er auf dem Weg zu ihrem Haus, wie nahe ihm das Wiedersehen ging. Er blieb stehen, um seine Aufgeregtheit zu unterdrücken. Hatte er sich nicht immer wieder gesagt, dass zwischen ihnen alles aus war und vorbei, dass nichts mehr so sein konnte, wie es war? Dass es bei dieser Begegnung lediglich darum gehen konnte, sich Gewissheit über die eigene Geschichte zu verschaffen? Ein Zurück, zurück in die Zeit vor jenem Oktober 1937, gab es nicht. Schon wegen der beiden Jungen nicht. Aber die Gefühle widersetzten sich der Vernunft.

Als die Tür aufging, war alles, was Lorenz sich auf dem Weg im Kopf zurechtgelegt hatte, wie ausradiert. Er stand da, und noch bevor sie beide etwas sagen konnten, wusste er, dass seine Entscheidung richtig war. Eine Rückkehr gab es nicht. Es war nicht mehr die Lotte, die er kannte: jung, lebenslustig, voller Übermut. Vor ihm stand eine seltsam vertraute, aber zugleich unbekannte Frau. Vor allem ihre graugrünen Augen, die ihn einst mit ihrem Strahlen und Spott so verzaubert hatten, waren matt und müde.

Diese Augen lachten nicht mehr.

Der Tod von Larissa, die schrecklichen Jahre der Haft, das Elend der Verbannung, all das hatte tiefe Spuren in ihr Gesicht geschnitten. Um diesen Leidensweg zu überstehen, brauchte ein Mann schon sehr viel Glück, für Frauen war es fast unmöglich. Lorenz wusste das nur zu gut. Er kannte ihre von dem endlosen Marsch in den arktischen Norden ausgezehrten Gestalten, er kannte die Brutalität der Wachen, ihren hechelnden Geifer, wenn neue Gefangene im Lager eintrafen. Sie hatten beide überlebt, dafür war er dankbar. Dankbar, sie wiederzusehen, ihr Gesicht zu streicheln. Doch er war nicht mehr der Lorenz, den sie kannte, und sie nicht die Lotte, an die er nachts auf seiner Lagerpritsche dachte. Die Jahre im Lager waren über ihre Liebe hinweggegangen. Sein Herz war erfroren.

Sie sah ihm aufmerksam, fast beschwörend in die Augen und konnte doch das, was sie erhoffte, nicht entdecken. Er war froh, sie endlich umarmen zu können, doch auch das gelang nur linkisch. Er blickte über ihre Schulter in den Flur – keiner da. Ihr Sohn war in der Schule. Sie waren ungestört.

«Es ist schön, dass du endlich hier bist.»

«Früher ging es wirklich nicht.»

Lotte führte ihn in die Küche. Sie setzten sich an die Ecke des Tischs, rückten die Stühle zusammen, sie legte ihr Gesicht in seine Hand. Sie weinte. Lorenz schnürte es die Kehle zu. Schweigend saß er vor ihr und wusste, dass jedes Wort zu viel war.

Plötzlich stand sie auf, ging ins Nebenzimmer und kam mit einer Plastik zurück. Eine Pieta. Sie hatte sie im Lager heimlich, in der Nacht, modelliert, wenn die anderen Frauen in der Baracke erschöpft von dem Vierzehn-Stunden-Arbeitstag auf ihren Holzpritschen dahindämmerten. Wie ein Wunder hatte das zerbrechliche Kunstwerk den langen Weg von Karaganda nach Berlin unbeschadet überstanden. Es waren drei kleine Figuren, die in einem Moment der Ruhe und Einkehr verharrten. In der Mitte saß eine Frau, an sie schmiegte sich stehend ein Mädchen; ein zweites, klein und zerbrechlich, schlief auf ihrem Schoß. Er wusste, Larissa schläft nicht.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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