I

Sie rannten und lachten, und die dicken, warmen Regentropfen prasselten auf ihre Gesichter. Er hatte die Kleine, eingewickelt in seine Jacke, an die Brust gedrückt, während Lotte und Lena tanzend durch die Pfützen hüpften. Hinter ihnen, hoch über den Baumkronen, rumorte und donnerte es in den aufgetürmten Wolken, überstrahlt von einer Sonne, die keinen Zweifel ließ, dass sie den Unfug im Himmel nicht lange dulden würde. Es roch nach frischgeschnittenem Buchsbaum, nach Holunder und Jasmin. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. In einem besonders schönen Augenblick. Doch das Licht verlor an Kraft, das Donnern schwoll an, bekam einen seltsamen Klang. Wurde lauter und lauter. Plötzlich war es so nahe, als schlüge jemand direkt in seinem Kopf mit einem Stock auf einen Blecheimer.

Bomm. Bomm. Bomm.

Lorenz wachte auf. Das schwache Sperrholz der Wohnungstür schien zu splittern.

Bomm. Bomm. Bomm.

Das eine war nur ein Traum. Das andere die Wirklichkeit. Er warf die Wattedecke zurück, sprang aus dem Bett, streifte in der Dunkelheit die Hose über. Wieder und wieder donnerte es an die Tür.

Sie kommen.

Sie kommen.

Sie holen dich.

Etwas anderes konnte er nicht denken. Er wollte es wegschieben. Unsinn, einem Mann wie ihm würden sie nichts tun, würden es nicht wagen. Doch im Grunde seines Herzens wusste er es: Sie holen dich ab. Erst hatten sie Lorenz die Arbeit genommen. Dann aus der Partei ausgeschlossen. Nun kamen sie. Nun holten sie ihn.

Vorsichtig hob er den Vorhang am Fenster. Die Straße war tief in das Schwarz der Nacht versunken. Nur zwei Lichtkegel eines Autos stachen schmale Streifen aus der Dunkelheit. Die Umrisse eines Kastenaufbaus hinter dem Fahrerhaus ließen keinen Zweifel: ein «Schwarzer Rabe». So hieß in Russland seit jeher der vergitterte Wagen, mit dem die Arrestanten abgeholt wurden. Das war unter der «Ochranka» so, der zaristischen Geheimpolizei, das war unter Stalins NKWD nicht anders. Wo immer das Auto des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten auftauchte, verbreitete es Schrecken. In der Nacht war es der Rabe, am Tag ein Lastwagen mit der harmlosen Aufschrift «Brot» oder «Fleisch». Obwohl es schon lange nicht mehr genug Fleisch gab, das man ausfahren musste. Statt «Chleb» oder «Mjaso» hatte das fensterlose Gefährt Menschen geladen.

Lorenz ließ den Vorhang fallen. Er hatte diesen Moment immer und immer wieder im Kopf durchgespielt: Er ist gerade auf dem Weg in die Redaktion, da hält eine Limousine neben ihm, zwei biedere Herren in leicht zerknitterten Anzügen bitten ihn, doch einzusteigen. Oder: Er eilt nach einem Gespräch aus dem Stadtkomitee durch das Tor, froh, endlich dem ausschweifenden Gerede entronnen zu sein, da ruft ihn der Pförtner zurück. Und drinnen warten schon zwei Bewaffnete. Oder: Er steigt beschwingt aus dem Moskauer Zug, sieht Lotte mit den beiden Mädchen auf dem Bahnsteig, sie rufen und winken ihm zu, da möchte jemand in Uniform seine Fahrkarte sehen. Nur der Ordnung halber. Und während er nach dem Papier in seiner Tasche kramt, herrscht ihn der Milizionär an mitzukommen …

In vielen langen Nächten hatte er sich die Szenen wieder und wieder ausgemalt. Nachdem sie ihn aus der Redaktion der «Nachrichten» entlassen hatten, war es nur noch eine Frage der Zeit. Er wusste es. Natürlich wusste er es. Sein Verstand sagte es ihm, aber glauben, nein, glauben konnte er es nicht. Warum sollten sie ihn verhaften? Ausgerechnet ihn? Einen deutschen Emigranten, der dieses Land mit Händen und Klauen gegen jeden Angriff verteidigt hätte, der dieses Land liebte. Ein Land, in dem jetzt unfassbare Dinge geschahen. Menschen verschwanden, Freunde wurden verhaftet, Familien auseinandergerissen. Ohne Grund. Keine Erklärung. Kein Sinn. Nie im Leben hätte er gedacht, dass so etwas möglich sei. Nun wusste er es. Er glaubte, vorbereitet zu sein. Doch jetzt, wo es laut und drängend an der Tür hämmerte, packte ihn Entsetzen.

Die Schwere im Kopf war verflogen. Er hatte am Abend zuvor ganz gegen seine Gewohnheit zu viel und vor allem durcheinandergetrunken. Wodka. Portwein. Sekt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, darauf noch einige Gläschen Selbstgebrannten, «Samogon». Man wird eben nicht jeden Tag dreißig. Für einen Augenblick sah er sich, Lotte und Friedrich in der Tür des winzigen Zimmers stehen. Die letzten Gäste waren weit nach Mitternacht gegangen. Ihr lautes Gackern klang durch das offene Fenster noch lange in der von friedlichen Gärten gesäumten Straße. Es war ein ausgelassenes Fest in Lottes Häuschen. Die Kinder hatte es nicht gestört, Lena und Larissa schliefen friedlich. Lena mit ihren vier Jahren, eigensinnig und mit einem unüberhörbaren Hang zum Altklugen, Larissa gerade sechs Monate alt, noch ein wehrloses Bündel.

Sie standen da und lächelten verlegen. Lotte, umrahmt von ihrem Exgeliebten und ihrem Exmann. Das hatte schon seine Komik. Und wenn der Geliebte genauso ex war wie der Ehemann, ließ das viel Raum für Deutungen. Vor allem aber für fürchterliche Szenen. Lotte war die Frau, die Lorenz immer noch liebte. Klug, schön, zart und stark. War er ihretwegen oder sie seinetwegen oder aus ganz anderen Gründen nach Engels gegangen? So genau ließ sich das nicht mehr rekonstruieren. War auch nicht so wichtig, solange sie nebeneinander lagen, sich in den Armen hielten, das reichte. Das hätte für ein ganzes Leben reichen können, seine Liebe auf jeden Fall.

Aber so einfach war es nicht. Da gab es ein Leben davor, und in diesem Leben spielte sein Freund Friedrich Wolf die entscheidende Rolle. Der Autor von «Professor Mamlock» und «Zyankali», diesen bekannten Mann liebte auch seine Frau. Früher, vor seiner Zeit. Lotte und Friedrich kannten sich aus Stuttgart. Die Studentin war am Anfang nur die Pionierleiterin seiner Söhne Markus und Konrad, später auch Freundin der Familie. Was Friedrich wörtlich nahm: Lotte wurde schwanger.

Als die Nazis an die Macht kamen, flohen sie gemeinsam durch halb Europa bis nach Moskau. Auf dieser Reise kam in der Schweiz die Tochter von Lotte und Friedrich Wolf zur Welt. Lena. Entbehrung und Wirren der Flucht ließen zunächst keinen Raum für eifersüchtige Ränke. Später in Moskau wurde es schwieriger: eine Zwei-Hotelzimmer-Wohnung für Geliebte samt Tochter plus Ehefrau und die gemeinsamen Söhne plus Familienoberhaupt. Ein reichlich ungewöhnlicher Zustand, im prüden Moskau der dreißiger Jahre. Doch der Schriftsteller brauchte für seinen politischen Kampf die nötige Inspiration, er brauchte Muse und Ehefrau. Das verstanden selbst die sowjetischen Genossen.

Und Lotte gab eine prächtige Muse. Ihr Foto, blond, voller Lebenslust, zierte eines Tages die Titelseite des «Stürmers». Als Sinnbild deutscher Weiblichkeit. Da war sie längst nach Moskau emigriert und hatte mit dem Juden Wolf ein Kind. Doch was auf den muffigen Gängen des Hotels «Lux», in dem sich die Oberschicht der politischen Emigranten einquartiert hatte, als amüsant erschien, entwickelte sich im Leben zur Hölle. Irgendwann hielt es Lotte nicht mehr aus. Sie wollte weg, am liebsten an eine Universität. Doch in Moskau schien das unmöglich. Von Lenins Frau erhielt sie schließlich Order, nach Engels zu gehen, dort, in der Wolgadeutschen Republik, könne sie Pädagogik studieren oder irgendetwas mit Kunst, Hauptsache, sie verschwand aus der Hauptstadt. Nadeshda Krupskaja mochte die Eskapaden der jungen Leute nicht.

Trotz Lottes Flucht von der Moskwa an die Wolga blieben die Verhältnisse ungeklärt. Der Umstand, dass Lena Friedrichs Kind und Larissa das von Lorenz war, schien noch am übersichtlichsten. Lorenz, dem die schöne Frau schon in Moskau aufgefallen war, musste sie in Engels nicht lange suchen. Theater, Universität, sie begegneten sich überall, verliebten sich. Heirateten an einem Wochentag, ganz proletarisch in der Mittagspause, und suchten sich ein kleines Haus, als Larissa geboren wurde. Lotte hatte eine letzte Dollar-Reserve, so konnten sie es bezahlen.

Ihrem rauschhaften Sommer folgten ebenso leidenschaftliche Zerwürfnisse. Friedrich fand die Turbulenzen der Jungvermählten eher erbaulich, eben Ausdruck überschäumender Leidenschaft. Worüber er sich in Briefen an Freunde auch offen ausließ. Das fiel ihm umso leichter, da mit der Hochzeit seine Verantwortung für die junge Frau und seine Tochter Lena auf Lorenz übergegangen war. Dass Lotte zwischendurch nach Moskau zu Friedrich abdampfte, um dann geläutert nach Engels zurückzukehren, trug bei Lorenz nicht gerade zur Vertrauensbildung bei. Wenn man ihr zuhörte, wollte man gerne glauben, dass in der Tat nichts passiert sei. Wenn man Wolf kannte, fiel einem das deutlich schwerer.

Lorenz war ein durch und durch romantischer Mann. Aber nicht blöd. Der schnellen Hochzeit folgte die eilige Scheidung. In Sowjetrussland machte man um derlei Formalitäten nicht viel Aufhebens. Keine Fragen, keine Erklärungen, ein amtlicher Stempel beglaubigte die Trennung. Lorenz verließ türenknallend das Haus, nahm sich ein Zimmer, um dann jeden Tag wie ein braver Ehemann mit Blumen zur Familie zu eilen. Wenn schon nicht Lottes Temperament, so hielten ihn doch Larissas blaue Augen.

Deine, meine, unsere. War das die freie Liebe? Die freie Liebe, von der die Revolutionäre immer träumten? Vor allem die männlichen. Selbst ein Lenin hatte eine Schwäche dafür. Der Bruch mit aller bürgerlichen Tradition des Zusammenlebens? Die Absage an alles, was einengte, auf Dauer band, erpressbar machte? Und doch nur Verantwortung hieß. Freie Liebe? Lorenz hätte sich da auf nichts festlegen wollen. Es hatte sich so ergeben. Das komplizierte Knäuel ihrer Beziehungen sah aus der inneren Sicht weniger aufregend aus. Zumal die Scheidung ganz praktische Vorteile bot, redete er sich ein. Falls einer verhaftet würde, konnte sich der andere um die Kinder kümmern. Ein naiver Gedanke.

 

An diesem Abend hatten sie feiern wollen. Die Einheimischen, die Kollegen, sie mochten den jungen Redakteur aus Deutschland. Das passierte nicht oft. Das Verhältnis zwischen den Deutschen von der Wolga und den Zugereisten war nicht gut, die «Reichsdeutschen» galten als überheblich. Wer von der Komintern, der kommunistischen Weltzentrale, aus Moskau kam, besaß meist Anspruch auf die guten Posten. Das konnte den Alteingesessenen in Engels nicht gefallen. Auch wenn die Neuen vielleicht zehnmal gebildeter waren, mit ihren Universitätsabschlüssen glänzten. Warum ihnen nun gerade Lorenz als willkommen galt, darüber konnte auch er nur spekulieren. Vielleicht gefiel ihnen die offene Art, seine Herkunft aus einer Bergarbeiterfamilie im Ruhrgebiet. Gesagt hat es ihm keiner, offiziell gab es das Thema nicht. Jedenfalls wussten seine Kollegen, dass sich der einstige Schlosser vor dem Studium an der Moskauer Westuniversität auf den Baustellen im Kohlerevier des Donbass und im Kaukasus nicht geschont hatte. Manchmal erzählte Lorenz vom Brückenbau am Kuban, wie sie in der Höhe hingen, notdürftig von Seilen gesichert, unter ihnen der reißende Fluss.

So kamen sie am Abend, um einen der Ihren zu feiern. Kollegen, Freunde aus dem Theater, Mitarbeiter des Verlages, in dem Lotte eine Arbeit gefunden hatte. An der langen, mit weißen Bettlaken bedeckten Tafel saß fast die gesamte Redaktion. Das war nicht selbstverständlich. Lorenz galt nach seiner Entlassung als Aussätziger. Wer zu ihm kam, riskierte einiges.

Die «Nachrichten», die deutschsprachige Zeitung der Wolgarepublik, war für die meisten Einheimischen die einzige Möglichkeit, täglich etwas in ihrer Muttersprache zu lesen. Wohltuend in einer Welt, die ihnen zunehmend mit Misstrauen begegnete. Ganze Generationen hielten es für einen Segen, dass Katharina die Große einst Bauern aus der Pfalz, aus Baden oder Hessen ins Land geholt hatte, die Steppe urbar zu machen. Jetzt schlug die Wertschätzung in Neid und Hass um. Hatte man die Hungersnöte der Kollektivierung noch gemeinsam mit den Russen erlitten, bei der nicht nur die Großbauern enteignet wurden, sondern oft genug die letzte Kuh der Witwe in Staatsbesitz überging, bröckelte jetzt das Gemeinschaftsgefühl. Die deutschen Dörfer galten als reich und aufgeräumt. Angesichts des heraufziehenden Krieges mit Hitler-Deutschland gerieten die Wolgadeutschen unter Generalverdacht. Es begann ein Exodus biblischen Ausmaßes. Wer nicht sofort erschossen wurde, füllte die endlosen Menschentrecks nach Sibirien, nach Zentralasien. Viele überlebten den Todesmarsch nicht.

Doch an diesem Abend waren weder Krieg noch die katastrophale Versorgung ein Thema. Die Gastgeber hatten vorgesorgt. Über Wochen sparten Lotte und Lorenz für das Fest Lebensmittel auf, manches kauften sie zu Wucherpreisen auf dem Basar. Der Tisch bog sich unter der «Sakuska», der typischen Mischung von Speisen, die bei keinem russischen Trinken fehlen durfte. Der Volksmund war davon überzeugt, ohne Sakuska verkommt jede Feier zum Besäufnis. Selbst die härtesten Säufer fanden es unter ihrer Würde, allein und ohne etwas «zum Zubeißen» eine Wodkaflasche zu leeren. Trinken hieß in Russland immer Trinken in Gemeinschaft und mit etwas dazu. Sakuska konnte alles sein: eine saure Gurke, ein Kanten Schwarzbrot oder der Klassiker schlechthin, ein Hering. Bei Lotte und Lorenz gab es an diesem Abend mit Dill und Zwiebellauch dekorierte Teller voller Blini, marinierter Pilze, Tomaten und scharf gebratener Frikadellen. Und über all dem thronte der König aller russischen Flüsse: ein fetter Wolga-Stör. Am Ende blieb kein einziges Stück übrig. Nur die lange Gräte erinnerte daran, dass es ihn gegeben hatte. Selbst der Kopf war verschwunden. Bobik hieß der Dieb, der ansonsten treue Haushund, eine Mischung aus Schäferhund und erster oder zweiter Gasse.

 

Doch das war gestern. Oder zumindest vor dem Schlaf. Jetzt hämmerte es wie verrückt an die Tür. Man hörte dumpfe Flüche und das Scharren schwerer Stiefel. Lorenz drehte den Schlüssel um, zog den Eisenriegel zurück. Die Tür flog unter einem Fußtritt auf.

«Was zum Teufel …», schnauzte es ihm ins Gesicht.

Vor ihm standen zwei Rotarmisten mit dem vertrauten rubinfarbenen Stern auf der Budjonny-Mütze. Diesen wundersamen olivgrünen Tüten auf dem Kopf, die zum Symbol der siegreichen Roten über die Weißen, samt ihren deutschen oder englischen Verbündeten, wurden. Die Soldaten hatten, wütend vom langen Warten, ihre Gewehre im Anschlag. Zwischen ihnen stand ein schwarz gekleideter Mann. Er hielt seine Hand an der offenen Pistolentasche. Auch ohne die schwarze Lederjacke, die Stiefel und die ebenfalls mit einem roten Stern versehene Schirmmütze wäre klar gewesen, um welchen Besuch es sich handelte.

«Grashdanin Longofen?», fragte der Mann in Schwarz und schob Lorenz beiseite, ohne die Antwort abzuwarten.

«Bürger Lochthofen», übersetzte Lorenz automatisch im Kopf. Allein diese Anrede zeigte ihm, dass er nicht mehr Teil eines großen Ganzen, sondern ausgestoßen war. Das Kollektiv der «Genossen», das den Rhythmus des Lebens im Land bestimmte, hatte sich von ihm abgewandt. Um diesen «Bürger» wehte es jetzt kalt und teilnahmslos.

Der Mann in der Lederjacke trat festen Schritts in das Zimmer. Auf dem Korridor blieb es still. Der Hausmeister, der offenbar die Außentür aufgeschlossen hatte, hielt sich im Hintergrund. Kein Mitbewohner schaute aus der Tür. Alle wussten Bescheid. Ab morgen war ein Zimmer zu vermieten.

«Packen Sie ein paar Sachen und kommen Sie mit.»

Der Geheimdienstler sprach die Worte gereizt und herablassend aus. Jede Bewegung ließ erkennen, der Vorgang war Routine. Er musste den Soldaten nichts befehlen, sie mussten ihn nichts fragen. Der eine schob Lorenz mit dem Gewehrkolben tiefer ins Zimmer, der andere schloss die Tür.

Lorenz fragte mit gepresster Stimme, was gegen ihn vorliege, ob er den Haftbefehl sehen könne.

«Das erfahren Sie in der Zentrale.»

Die Antwort des NKWD-Offiziers kam prompt und klang wie einstudiert: «Wir halten nichts von dieser bürgerlichen Zettelwirtschaft!» Sicher wusste der Mann nur den Namen und die Adresse dessen, den er mitbringen sollte. Den Rest übernahmen die Genossen vom örtlichen NKWD-Quartier. Das Kommissariat für Inneres hatte die Nachfolge der Staatlichen Politischen Verwaltung (GPU) und der Außerordentlichen Kommission, der Tscheka, des ersten Staatssicherheitsdiensts der Sowjetmacht, angetreten. Diese Tradition sollte später der KGB ungebrochen fortsetzen.

Der Geheimdienstler riss die Tür des einzigen Schranks im Zimmer auf, nach und nach flog dessen Inhalt auf den Boden. Hemden, Hosen, Jacken … Lorenz schaute stumm zu. Er dachte daran, dass Lotte ihn zum Frühstück erwartete, ihn und Friedrich. Doch das würden sie wohl jetzt allein einnehmen müssen. Lotte und Wolf.

Lorenz holte den Koffer unter dem Bett hervor, packte Wäsche und einen dicken Pullover ein. Auf die Frage, für wie lange die Sachen reichen sollten, kam die trockene Antwort:

«Sie brauchen nur das Nötigste. Dort, wohin wir Sie bringen, ist für Sie gesorgt.»

Der Mann in der Lederjacke schaute nun das Bücherbord über dem Bett durch. Lorenz wusste, was er suchte. Und einiges davon stand auf dem Brett. Lenin, Marx und Luxemburg bedeuteten keine Gefahr. Aber Kautsky? Dazu noch in deutscher Sprache? Irgendwie hätte man es vielleicht erklären können. Lenin hatte sich viel mit dem «Renegaten» herumgeschlagen, Quellenstudium wäre also eine Begründung, etwas schlicht zwar, aber immerhin. Bei Sinowjew und Bucharin, zwei überführten «Abweichlern», der eine zu «links», der andere zu «rechts», gab es dagegen nichts zu erklären. Den einen erschossen sie nach einem Schauprozess, obwohl er Stalin bei seinen Intrigen gegen Trotzki tatkräftig unterstützt hatte, der andere wartete darauf, dass mit ihm das Gleiche geschah. Wer Bücher von beiden in seinem Haus hatte, konnte kein guter Genosse sein.

Einen Band nach dem anderen warf der Mann vom Bücherbrett. Doch weder Bucharin noch Sinowjew schienen ihn zu interessieren. Lorenz konnte das nicht verstehen. Für einen Moment vergaß er fast die Bedrohlichkeit der Situation, gebannt schaute er zu, wie seine Bücher bewertet wurden. Nur ein einziges dünnes Heft blieb in den Händen des Geheimdienstlers und wurde für wichtig genug befunden, um mitgenommen zu werden: Reden und Aufsätze J. W. Stalins aus den zwanziger Jahren.

Ungläubig sah Lorenz den NKWD-Mann an. Stand jetzt auch Stalin auf dem Index? Das passte nicht zusammen. Hatte seine Verehrung nicht längst alle bis dahin bekannten Dimensionen gesprengt, ja religiöse Formen angenommen? Nun sollte also selbst der Führer aller friedliebenden Völker ein verbotener Autor sein? Vielleicht war der NKWD-Mann ja übergeschnappt. Stalin verdächtigen? Unmöglich. Lange genug hatte er selbst zu jener kritiklosen Masse gehört, die, wenn es um die Schuld an all den grausamen Vorgängen ging, sie namenlosen Funktionären zuschrieb, aber nicht doch «Väterchen» Stalin. Das war vorbei. Dennoch konnte sich Lorenz das Verhalten des NKWD-Mannes nicht erklären.

Erst viel später sollte er begreifen, warum gerade dieses unscheinbare, in grauen Umschlagkarton gepresste Büchlein unbedingt aus der Öffentlichkeit zu verschwinden hatte. Es stammte aus der Zeit, als Stalin öffentlich Buße tun musste. Nach Lenins vernichtender Kritik in seinem als «Testament» bekannten Brief, in dem er die Grobheit und den Machtmissbrauch des Georgiers offen anprangerte, gelobte dieser Besserung. Stalin gestand Fehler ein, schwarz auf weiß. Davon konnte in der Sowjetunion des Jahres 1937 keine Rede mehr sein.

Als Lorenz sich angezogen hatte, drängten ihn die Wachleute zum Ausgang. Sie wollten offensichtlich weg sein, noch ehe die ersten Hausbewohner zur Arbeit gingen. Zeugen, Fragen, Aufsehen, das mochten sie nicht. Kaum traten sie aus der Haustür, ließ der LKW-Fahrer den Motor heulen. Doch in keinem Fenster der umliegenden Häuser flackerte Licht auf. Neugier konnte in diesen Zeiten tödlich sein. Auch so wusste jeder, was da gerade geschah. Lorenz wandte sich zögernd an den Offizier.

«Sie haben mich den Geburtstag seelenruhig feiern lassen und sind erst am Morgen gekommen. Warum?»

«Wir sind doch keine Unmenschen!»

Der NKWD-Mann grinste, die Soldaten bedeuteten dem Gefangenen, endlich in den vergitterten Kasten zu steigen.

Der «Schwarze Rabe» setzte sich knatternd in Bewegung.

Eine kurze Fahrt. Das Auto bog ein letztes Mal ab, dann hörte man die Flügel eines Eisentors aufeinanderschlagen. Die Soldaten sprangen aus dem Wagen. Lorenz fand sich auf einem von Scheinwerfern grell erleuchteten Hof. Obwohl sich der Tag gerade erst zaghaft über den Dächern andeutete, herrschte aufgeregte Geschäftigkeit. Er war offensichtlich nicht der Einzige, den sie in dieser Nacht geholt hatten. Am «Empfang», wo man die wenigen Habseligkeiten der Ankömmlinge durchkämmte, ihnen Gürtel, Schnürsenkel und Taschenmesser abnahm, gab es Gedränge. Die Wachen hatten Mühe, die Gespräche zwischen den Gefangenen zu unterbinden. Ihr «Schnauze halten!» beherrschte den Raum.

Als die Personalien aufgenommen waren, verlangte Lorenz, die Anklage zu hören und einem Richter vorgeführt zu werden. Der diensthabende Offizier schaute ihn erst verwundert an, dann belegte er ihn mit einem derben Fluch. Auch die Frage nach dem Namen des Staatsanwalts, der den Haftbefehl unterschrieben hatte, blieb unbeantwortet. Stattdessen rief der Diensthabende einen Wachmann.

«Nimm den Intelligentik mit, sonst vergesse ich mich!»

Der Wachmann packte Lorenz am Ellenbogen und schob ihn auf den Gang hinaus.

«Wenn du nicht willst, dass sie dir die Zähne gleich hier ausschlagen, dann halt das Maul.»

Er führte ihn über dunkle Korridore, Treppen hinauf und wieder hinunter. Dann endlich standen sie vor der gesuchten Tür. Das Schloss knarrte. Lorenz trat ein.

Die Tür schlug zu.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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