1943

Die Sonne schien heiß. Es war einer dieser wenigen strahlenden Tage des kurzen Tundra-Sommers. In der dünnen Luft des Nordens musste man tief einatmen, um genug Sauerstoff zu bekommen. Lorenz lief auf dem Eisenbahngleis zur Arbeit. Er war zusammen mit Horst in die Werkstatt eines der beiden Baustoffbetriebe befohlen worden. Die Siege an der Front, vor allem bei Stalingrad, sorgten jetzt dafür, dass die Deutschen nicht mehr wie Aussätzige behandelt wurden.

Lorenz suchte seinen Schritt den Abständen der Schwellen anzupassen. Die Schienen der Schmalspurbahn machten einen Bogen und knickten in einer morastigen Grube nach der Seite weg. Das passierte im Sommer oft. Der Permafrostboden taute nur an der Oberfläche und verschlang das spärlich aufgetragene Kiesbett. Nun rackerte sich ein gutes Dutzend Gefangener damit ab, den Schienen wieder Halt zu geben. An der Kleidung erkannte Lorenz schon aus der Ferne, um welche Häftlingen es sich handelte: deutsche Kriegsgefangene. Feldgraue Hosen, Uniformjacken mit Metallknöpfen und Mützen, die hier kein Mensch trug, gemischt mit üblicher Lagerkleidung, ließen keinen Zweifel. Lorenz blieb stehen und schaute den dreckverschmierten Gestalten bei der Arbeit zu.

Das richtige Schaufeln mussten sie noch lernen. Das hieß die Kräfte einteilen und vor allem: keine unnötigen Bewegungen. Die Landsleute nahmen von ihm keine Notiz. So standen sie, der eine schaute, die anderen schaufelten. Lorenz war neugierig. Er wollte wissen, was die Neuen so dachten, worüber sie redeten, wem sie die Schuld an ihrer Misere gaben. Und da sie nicht ahnen konnten, dass er Deutsch verstand, versprach es eine gute Unterhaltung.

Sein Kalkül ging auf. Irgendwann setzte ein hochgewachsener Kerl die Schaufel ab, stützte sich mit beiden Händen auf den Stiel und schaute Lorenz herausfordernd an:

«Na, Iwan? Das machst du gerne, was? Dem Deutschen bei der Arbeit zugucken?»

Lorenz lächelte wortlos.

Ein zweiter Häftling, schmächtig und mit Ohren, die wie Kartoffelpuffer unter dem Mützenrand hervorstanden, gluckste, warf seine Hacke hin und schaute zu dem Fremden, der immer noch lächelte und schwieg. Die anderen folgten nach und nach, froh darüber, einen Grund gefunden zu haben, die Arbeit unterbrechen zu können. Die Wachen störte es nicht, die waren abgelenkt. Sie saßen um einen Findling und klopften Domino. Klick, klack, klick, klack, hörte man die schwarzen Spielsteine aufschlagen.

«Ich glaube, Jupp, so einer weiß noch nicht einmal, von welcher Seite er die Schaufel anpacken muss», begann der Schmächtige das Gespräch. «Auf die Idee, in so einer gottverfluchten Gegend Schienen zu verlegen, muss ja erst mal einer kommen. Der Führer hatte schon recht, wenn er beim Russen aufräumen wollte. Allein können die das doch nicht.»

«Pass auf, was du sagst, wenn der dich versteht, bist du dran», mischte sich ein Dritter ein, der Aussprache nach ein Rheinländer.

«Ach was, der Russki kann doch kein Deutsch. Sonst hätte er längst etwas gesagt. Stimmt’s, Iwan?»

Unbeirrt freundlich lächelnd stammelte Lorenz:

«Ich, Deutsch, ne ponimaju.»

«Na bitte, er versteht nichts.»

Der, den sie Jupp nannten, drehte sich zu den anderen um.

«Sag ich’s doch, dumm wie alle Russen.»

Alle lachten. Bis auf einen. Einen kleinen, etwas in die Wurzel gegangenen Kerl mit blasser Haut und fast rotem Haar:

«So dumm sind sie nun auch wieder nicht. Sonst wären wir nicht hier und müssten nicht in diesem stinkigen Morast ihre erbärmliche Bahnstrecke legen.»

Jupp reagierte verärgert.

«Quatsch. Der Führer konnte ja nicht ahnen, dass der Winter vor Stalingrad so beschissen wird …»

«Du und dein Führer. Hast du immer noch nicht genug? Der hat dich, mich, uns alle verarscht. Mit Sommerklamotten haben wir bei minus vierzig Grad in den eisigen Löchern gesessen, dazu der schöne Klang der Stalinorgeln. Schon vergessen? Und ob einer von uns den Winter hier oben übersteht, kann auch niemand sagen. Aber Hauptsache, dem Führer geht’s gut.»

Jupp hatte längst jegliches Interesse an Lorenz verloren und blickte feindselig auf den Widersacher:

«Wenn wir hier nicht unter Beobachtung wären, dann wüsste ich, was ich täte: dich an die Wand stellen!»

Ein Teil der Zuhörer nickte zustimmend. Jupp packte die Schaufel und ging auf den anderen zu. Lorenz hätte nicht geglaubt, dass aus einer harmlosen Situation ein solcher Konflikt würde. Radebrechend machte er auf sich aufmerksam:

«Ich nix sprechen. Nur Gedicht!»

Jupp drehte sich um, als müsste er schnellstens eine lästige Fliege mit der Schaufel platt schlagen. Lorenz nutzte die Pause und sprach in reinstem Hochdeutsch:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh’
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Die Deutschen blickten verdutzt. Als Erster hatte der Rheinländer seine Fassung wieder:

«Was war das denn?»

Er musterte den merkwürdigen Russen.

«Also, ich hab zwar auch irgend so ein Zeug in der Schule gelernt, aber jetzt aufsagen könnte ich nichts.»

Nach einer kurzen Pause überlegte er laut:

«Seid ihr sicher, dass der kein Deutsch versteht?»

«Na ja, so ein Gedicht kann jeder lernen.» Jupp hatte endlich seine Sprache wiedergefunden und versuchte sich an einer Erklärung.

«Irgendwann habe ich das schon mal gehört. Für Goethe war’s ja viel zu kurz. Und überhaupt, woher sollte so ein dummer Russki schon Goethe kennen?»

Ehe Lorenz auf die messerscharfe Analyse etwas entgegnen konnte, kam der Sergeant verärgert herübergelaufen:

«Dawaj, dawaj!»

Mit einer eindeutigen Geste trieb er die Häftlinge an. Offenbar hatte er das Dominospiel verloren. Auch Lorenz musste sich beeilen.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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