VIII

Auf keinen Fall wollte er länger warten. Sicher war es ein denkbar ungünstiger Tag, um etwas Neues zu beginnen. Ein Freitag. Die Woche ging zu Ende, die Menschen hatten bereits anderes als Arbeit im Kopf. Aber sie waren erst am Donnerstag in Gotha angekommen. Nun klopfte Lorenz in der Kaderabteilung genau jenes Betriebs an, der ihn vor dreißig Jahren nicht haben wollte. Obwohl die Flugzeuge aus Gotha guten Absatz fanden, gab es damals auch hier keine Arbeit. Den Autobau in Eisenach musste das Unternehmen sogar abstoßen. Die Konkurrenz aus Bayern griff zu: Der erste BMW war kein Bayer, sondern ein Thüringer.

Nach dem Krieg hatte sich in Gotha vieles verändert. Über die verkohlten Trümmer der Produktionshallen, in denen die Bomber gebaut wurden, wucherte Unkraut. Statt mehrerer tausend zählte das Werk nur wenige hundert Mitarbeiter, statt Flugzeugen baute man Waggons und Straßenbahnen, statt Kunden in aller Welt belieferte man vor allem die sozialistischen Brüder.

Lorenz musste einige Zeit auf den Kaderleiter warten, aber dann ging es schnell. Am Montag sollte er im Waggonbau als Schlosser zur Frühschicht antreten. Das roch nach schwerer körperlicher Arbeit. Davor fürchtete er sich nicht, doch das Herz beunruhigte ihn, die Schmerzen, der Druck auf der Brust, das machte ihm Sorgen. Er wirkte deutlich jünger als fünfzig. Kaum eine Falte im Gesicht, scherzte er, dass ihn die Kälte der Arktis wie einen Mammut im Dauerfrostboden konserviert hätte. Aber in den Augen sah man die Wahrheit. Die Toten, die Gequälten, die Entmutigten: Diese Augen hatten viel Schreckliches gesehen und konnten es nicht vergessen. Auch wenn er es immer glaubte, er war nicht unverwundbar. In diesem nasskalten Deutschland wusste er das mit einem Mal.

Nie hätte er jemandem von seiner Bedrängnis erzählt. Auch Lena nicht. Sie war zwanzig Jahre jünger und würde die Schwäche kaum verstehen, im Gegenteil. Er konnte gern darauf verzichten, erneut darüber zu streiten, ob die Krim nicht der bessere Ort wäre, um sich niederzulassen. Natürlich wusste er, dass der Rest der Familie den Wechsel nach Deutschland ablehnte. Die unfaire Rechnung lautete, einer gegen drei. Die Gewissheit des einen war die Ungewissheit der anderen. Aber die Kinder würden sich mit Sicherheit schnell an die neue Heimat gewöhnen. Sie spielten ihre wilden Spiele am Rande des Lagerzauns, sie würden sich auch hier zurechtfinden. Und Lena? Lena würde sich fügen. Das Leben in Deutschland war leichter und angenehmer. Das würde sie überzeugen. Ohnehin, die Entscheidung war gefallen. Er hatte gewonnen, so schnell sollte es eine Revanche nicht geben. Da wollte er lieber die schweren Gussteile in der Waggonhalle allein hin und her schleppen.

So stieg Lorenz an einem grauen Montagmorgen in die Straßenbahn, die sich quietschend hinter dem Hotel einen ungewöhnlich steilen Berg hinaufquälte. Das Hotel «Zum Mohren», in dem sie in Gotha vorübergehend unterkamen, galt als erstes Haus am Platze, man war stolz darauf, den Gästen in Zeiten von Buttermarken überhaupt eine Speisekarte bieten zu können. Wie lange sie dort bleiben würden, war ungewiss. Die Anweisung aus Berlin an die «örtlichen Genossen» klang eindeutig: so lange, bis der Genosse aus der Sowjetunion eine annehmbare Wohnung gefunden hatte. Das konnte bei der Wohnungsknappheit Monate dauern.

Die Bahn ratterte Richtung Ostbahnhof, dorthin, wo das Werk und seine Arbeit warteten. Lorenz hatte sich eine neue Schlosserjacke zugelegt. Blau, mit mehreren Taschen, in denen man Papiere und Taschenmesser verstauen konnte. An Schnitt und Stoff hatte sich in den letzten dreißig Jahren nichts geändert. Damit die Jacke nicht ganz so neu aussah, bat er Lena, sie zu waschen. Sie tat es, sogar zweimal, obwohl ihr seine Marotte reichlich albern vorkam. Er dachte an den entscheidenden ersten Eindruck. Und bei einem, der aus Russland kam, war der besonders wichtig. Vom ersten Tag an wollte Lorenz keinen Zweifel zulassen, dass er zu denen da unten und nicht zu denen dort oben gehörte.

Ein Arbeiterstaat. Der Gedanke gefiel ihm, auch wenn er bereits ahnte, dass sein verklärter Blick mit der Wirklichkeit wenig zu tun hatte. Die kurze Zeit in Berlin hatte einen schalen Nachgeschmack hinterlassen. Noch hatte er Hoffnung, dass draußen im Land, weit genug weg von der Zentrale und den «Apparatschiki», der andere, der bessere Entwurf lebte. Er wollte es einfach nicht glauben, dass das stalinistische Geschwür bereits in so kurzer Zeit den ganzen Körper befallen hatte.

Zum wiederholten Mal sagte sein Verstand: Es ist so.

Zum wiederholten Mal erwiderte sein Herz: Halt die Klappe.

Einzugestehen, dass er auf einem Irrweg marschierte, hätte geheißen, für immer heimatlos zu bleiben. Und das wollte er nicht.

Beim Verlassen des Hotelzimmers hatte er flüchtig in den Spiegel gesehen. War er wirklich einer von ihnen? Gewiss, einige seiner neuen Kollegen hatten wie er vor dem Krieg ausgelernt, lagen dann in einem Schützengraben, hatten überlebt und sich nach dem Krieg in die neuen Verhältnisse eingepasst. Doch Emigration, Universität und Lager waren etwas ganz anderes. Eine Erfahrung, die sie nicht teilten. Mehr noch: Es war eine Erfahrung, die sie trennte. Er hatte nicht mitgemacht. Weder hier noch dort. Und er wusste: Die Gemeinschaft der «Mitmacher» mochte keine Verweigerer. Das war schon früher so, das war jetzt nicht anders. Er roch einfach fremd. Und das lag nicht an seinem russischen Eau de Cologne.

Er grinste in den Spiegel. Ein Graf Besuchow war denen in der Werkhalle völlig unbekannt. Und man konnte sicher sein, dass sie von einem Raskolnikow nie gehört hatten. Im Grunde ging sie weder Tolstoi noch Dostojewski etwas an. Hatte für ihr Leben nicht die geringste Bedeutung. Er war schon auf dem Flur, da drehte er sich noch einmal um, ging zurück und zog eine Krawatte aus dem Schrank. Dunkelrot mit leichten Streifen, fiel sie auf dem tiefblauen Hemd fast nicht auf. Und doch wusste er, ein einfacher Arbeiter, der täglich mit Schlips zur Arbeit kam, einer Arbeit, wo Funken flogen, wo geschwitzt und geflucht wurde, der war nicht zu übersehen.

Der Empfang fiel genau so aus, wie es Lorenz erwartet hatte. Dass ein «Russe» in die Brigade kam, hatte sich herumgesprochen. Wer da geschwatzt hatte, blieb unklar. Jedenfalls versuchte der Brigadier alles, die Sache noch umzubiegen. An einen Zufall wollte er nicht glauben. Das konnte nur ein Aufpasser sein, den ihnen die Partei in den Pelz setzen wollte.

Doch es blieb dabei. Dann standen sie sich gegenüber, der eine groß und kräftig, mit schwarzem, abgewetztem Einteiler, der unten an den Beinen etwas zu kurz geraten war, so dass die schlabberigen Socken hervorschauten, und der Neue, nicht groß, mit akkurat geschnittenem Haar und Brille. Hinter dem Brigadier hatten sich seine Männer aufgebaut und warteten. Lorenz lächelte tapfer, reichte jedem die Hand.

«Das Schlipsel!», rief einer.

Die anderen lachten.

«Ach, daran musst du dich nicht stören», antwortete Lorenz, als hätte er den feindseligen Ton überhört. «Entscheidend ist nicht, wie einer aussieht, sondern was er kann. Stimmt’s?»

Nun, der Brigadier war genauso, wie er aussah. Ein «Zwölfender». Einer, der sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatte und schon beim Einmarsch in Polen dabei war. Nichts, was im Werk vor sich ging, schmeckte ihm. Längst wäre er fort gewesen, aber er hatte auf dem Dorf einen kleinen Hof. Der Vater lebte noch, alles aufzugeben kam für ihn deshalb nicht in Frage. Außerdem, es hätte ihn arg gegrämt, wenn einer der Roten in seine Stube eingezogen wäre. So lebte er von der Hoffnung, dass der Sozialismus bald die Grätsche machte und im Werk wieder klare Verhältnisse herrschten.

Als die Arbeit verteilt war, hatte Lorenz die dreckigste und gefährlichste abbekommen, bei der man außerdem so gut wie nichts verdienen konnte: Er sollte die Eisenpuffer an die Waggons schweißen. Das kam ihm bekannt vor.

«Eine feine Arbeit habt ihr da für mich aufgetan!» Lorenz ließ die diplomatische Zurückhaltung fallen. «Gut, ich mache die Sache. Aber die Puffer sind schwer; damit sich keiner den Bruch hebt, brauch ich zwei Leute, die halten. Das Schweißen erledige ich.»

«Nur einen! Zwei gibt es vielleicht in Russland! Hier, Karlchen, der dürfte zu dir passen.»

Der Brigadier griff aus der Reihe der Rumstehenden ein mickriges Kerlchen heraus und schob den Mann Richtung Lorenz.

«Ansonsten, wenn dir das nicht passt, such dir eine andere Arbeit. Das Werkzeug liegt da drüben in der Kiste. Fangt an. Wir haben schon genug Zeit vertrödelt.»

Lorenz sagte nichts. Er begann, im Werkzeugkasten zu kramen und fluchte. Russisch. Das verschaffte etwas Luft. Mit den rostigen Krücken konnte man nichts anfangen. So ging ein halber Tag dafür drauf, brauchbares Werkzeug herzurichten. Anfänglich schien Karlchen nicht sehr gesprächig – alle hatten zur Vorsicht mit dem «Russen» gemahnt –, dann sprudelte es aus ihm heraus:

«Mensch, du kannst ja sogar Deutsch!?»

«Was soll das denn?» Lorenz wusste nicht, ob er sich über die dumme Frage empören sollte oder ob es unter seiner Würde sei, überhaupt zu reagieren.

«Na, du kommst doch aus Russland! Oder nicht?»

«Ja. Aber ich bin Deutscher wie du. Geboren in Dortmund.»

«Wie? Im Westen?! Und was machst du dann hier?»

«Euch helfen, den Plan zu erfüllen.»

«Wenn ich aus dem Westen käm, da wüsste ich, wo ich jetzt wäre!»

«Siehst du, das unterscheidet uns.»

Als sie endlich den ersten Puffer in Position gebracht hatten und Lorenz gerade ansetzte, die Schweißnaht zu ziehen, sah er das lauernde Gesicht des Brigadiers. Lorenz hieß Karlchen den Puffer absetzen und ging mit dem Schweißbrenner in der Hand auf den Mann zu. Sofort ließ der Rest der Brigade die Arbeit fallen. Das versprach eine gute Unterhaltung zu werden.

«Was grinst du? Hast du Angst, dass du für mich mitarbeiten musst?» Er machte eine Pause. «Weil du meinst, du kannst es besser? Wenn du dich da nicht täuschst.»

Lorenz bebte vor Empörung. Doch seine Aussprache blieb deutlich und hart. Der Brigadier grinste:

«Was soll ein Russe schon können, was ich nicht kann?»

«Nun, was ein Russe ist oder nicht, davon verstehst du nichts. Außer dass du und deinesgleichen schon einmal von denen die Hucke voll bekommen habt. Schon vergessen?»

Das Grinsen gefror.

«Ich habe dort genauso viele gute Kerle und miese Typen getroffen, wie es sie auch hier gibt. Und was mein Können betrifft, so kannst du beruhigt sein, ich kann einiges mehr als du.»

Lorenz war schon im Begriff, sich umzudrehen, da hörte er den Brigadier:

«Und was soll das sein?»

«Zum Beispiel das.»

Lorenz war klar, dass es hier nicht um geistreiche Argumente gehen konnte. Flink streckte er dem Mann die Zunge raus, allerdings nicht wie üblich, sondern gedreht, dass sie hochkant zwischen den Zähnen stand.

«Ich wette, du kannst nicht einmal das.»

Die anderen feixten und gingen an die Arbeit. Einer versuchte, es nachzumachen – ohne Erfolg. Der Brigadier schnaubte:

«Genug geschwatzt. Am Ende des Tages wird abgerechnet.»

Lorenz kehrte zu Karlchen zurück. Nach all den Wochen und Monaten freute er sich, wieder etwas mit seinen Händen zu tun. Als jemand aus der Brigade «Feierabend» rief, hatten sie trotz aller Hindernisse ihre Tagesnorm geschafft. Die Kollegen schauten ungläubig.

Am dritten Tag war die Vorgabe für die ganze Woche erfüllt, sie hätten noch mehr machen können, wenn ihnen das Material nicht ausgegangen wäre. Karlchen, der ein Übererfüllen der Norm so nicht kannte, weil ihn der Brigadier immer dorthin steckte, wo es nichts zu holen gab, ging beschwingt von einem Kollegen zum anderen, klopfte ihnen auf die Schulter und fragte, ob er vielleicht helfen könne.

«Ich und Lorenz, äh, ich meine, der Russe und ich, wir haben unser Soll im Kasten, aber bei euch da sieht’s ja nicht gut aus …»

Routiniert überhörte er den Hinweis, er möge sich sonst wohin scheren und ging zum Nächsten. Lorenz war vom Verlauf der Ereignisse sichtlich amüsiert. Er saß auf dem Werkzeugkasten und machte eine Skizze. Auch wenn ihnen die Arbeit ganz gut von der Hand ging, es blieb eine Viecherei. Das ließ sich ändern: mit Hilfe der riesigen Krane an der Hallendecke, mit denen früher die Flugzeugteile bewegt worden waren und die jetzt vor sich hin rosteten. Man brauchte sie nur anzupassen, dafür musste man das und das und das tun. Er war so vertieft in seine Aufzeichnungen, dass er den Brigadier erst bemerkte, als sein Schatten auf das Papier fiel.

«Du, hör mal», begann der Mann. Jedes Wort ging ihm schwer über die Lippen. Von dem dümmlich grinsenden Kerl des ersten Tages war nichts übrig. Selbst seine Glatze glänzte nur noch matt.

«Dass du arbeiten kannst, hab ich verstanden. Und sicher war es nicht gerade freundlich, dir gleich die beschissenste Arbeit zu geben. Aber das mit deinem Tempo, das geht trotzdem nicht.»

«Bin ich zu langsam?»

«Nein, das gerade nicht», brummte der Brigadier, «aber du versaust die Normen. In der Brigade sind genug Leute, die schaffen dein Pensum nicht. Und die müssen auch leben. Die haben Kinder und brauchen das Geld. Die Bezahlung ist schlecht genug. Also, schalt einen Gang zurück.»

Die Situation hatte sich völlig gewandelt, der Herrenmensch war auf sein natürliches Maß geschrumpft. Lorenz nickte.

«Gut.» Er richtete sich auf, immer noch war er einen Kopf kleiner als der Zwölfender. «Aber nur, wenn du mir hilfst. Ob ich das nun bin oder andere, diese Plackerei muss ein Ende haben.»

Er drehte sein Papier um.

«Ich hab da so eine Idee.»

Schnell machte die Geschichte in der Halle die Runde, aus dem herablassenden «Russe» wurde ein anerkennendes «Lorenzowitsch». Lorenz dachte an die ersten Tage in der Bahnwerkstatt von Workuta. Die Deutschen hatten mit den Russen weit mehr gemeinsam, als sie je zugeben würden.

 

Derweil stieg in der Parteileitung des Werks die Unruhe. Von dem angekündigten Genossen aus der Sowjetunion fehlte jede Spur. Dessen Ankunft hatte man bereits vor zwei Wochen aus Berlin avisiert. Fritz, der Parteisekretär, den man in den Werkhallen nur «Fritze» nannte, mochte diesen Zustand des Ungewissen nicht. Was beschlossen war, musste umgesetzt werden. Wenn die Genossen aus der Zentrale meinten, dem Mann aus Russland solle in Gotha auf den Zahn gefühlt werden, so war Fritz bereit, sich der Sache mit vollem Einsatz zu widmen. Schnell wurde er sich mit den Berlinern einig, dass die Aufgabe eines Lehrmeisters dafür am besten in Frage käme. Da würde man sich den Mann ungestört ansehen und dann in aller Ruhe weitere Entscheidungen treffen, ohne dass der in der Belegschaft Unruhe oder krumme Debatten anzetteln konnte. Der Genosse vom ZK hatte angedeutet, dass der Spätheimkehrer nicht freiwillig beim Aufbau des Kommunismus im hohen Norden mitgewirkt hatte.

Feierabend. Fritz hatte schon seine Aktentasche in der Hand, als ihn die Sekretärin in ein endloses Gespräch über die Versorgungslage verwickelte, die wie immer zugespitzt war. Wenigstens zu Weihnachten könnten doch ein paar schöne Sachen wie Apfelsinen und Nüsse in den Handel geworfen werden. Fritz gab ihr ermüdet recht. Da stand plötzlich ein Mann in der Tür. Schon vom Äußeren her machte der einen ungewöhnlichen Eindruck: Schlosserjacke und Krawatte, so etwas trug sonst keiner im Werk.

«Guten Tag, man hat mir gesagt …», begann der Mann, ohne sich lange vorzustellen.

Schon nach den ersten Worten wusste Fritz, der konnte nicht aus der Gegend stammen. Der sprach kein ausgewaschenes Sächsisch wie die anderen.

«… also, man hat mir gesagt, dass ich den Parteisekretär hier finde. Bist du das? Mein Name ist Lorenz, Lorenz Lochthofen. Ich bin seit zwei Wochen im Werk und hätte da einen Vorschlag.»

Das war er also. Fritz schaute den Mann einen Augenblick verdattert an. Zwei Wochen im Betrieb? Wieso? Und er, der Parteisekretär, wusste nichts davon? Der Kaderleiter, dieser Mistkerl, hatte ihn nicht unterrichtet. Gleich morgen würde er ihn sich vorknöpfen. Hatte er ihm nicht eingeschärft, dass der Neue erst zu ihm und dann in die Lehrwerkstatt sollte? Wie stand er jetzt vor den Berlinern da? Wie stand die Partei da? Hatte der Kaderchef den Russen einfach dorthin gesteckt, wo er Arbeiter brauchte. Konnte man eine solche Eigenwilligkeit durchgehen lassen? Nein, man konnte nicht. Die Partei konnte es nicht. Zwei Wochen. Und da sitzt dieser Kadermensch mittags am Tisch und sagt nichts. Macht sich vielleicht noch lustig. Dabei entscheidet die Kaderfrage alles!

Von alldem wusste Lorenz natürlich nichts.

«Schau bitte mal drauf», er faltete sein Papier auf. «Die Arbeit an den Puffern bindet zu viel Kraft und zu viele Leute. Das ließe sich leicht ändern mit einer einfachen Vorrichtung.»

Fritz schaute interessiert und versprach, sich zu kümmern. Die Skizze wanderte in eine Mappe mit der Aufschrift «Verbesserungsvorschläge». Ein Wort gab das andere, und eine halbe Stunde später sah man die beiden bei ihren ersten «sto Gramm» in der «Schiene». Einer Kneipe, die, unmittelbar vor dem Werktor gelegen, weiten Teilen der Belegschaft einen fließenden Übergang in den Feierabend ermöglichte.

Lorenz konnte Fritz sofort mit russischen Trinkweisheiten überzeugen: Da man auf einem Bein bekanntlich nicht stehen kann, folgte auf die ersten «sto Gramm» eine zweite Bestellung. Da aller guten Dinge drei sind, brachte die Bedienung weitere «sto Gramm». Fritz war das nicht gewohnt. Als Lorenz zum vierten Mal Gläser für sie bestellte – «jeder Wagen hat schließlich vier Räder» –, bat Fritz um eine Auszeit. Draußen vor der Tür ordnete der erste Dezemberfrost seine Gedanken. An ein Heimfahren mit dem Motorrad war nicht mehr zu denken. Was Fritz seinem Röschen, die schon seit mindestens zwei Stunden mit dem Abendbrot auf ihn wartete, sagen sollte, fiel ihm auch nicht ein. Mit der Fahne würde sie ihm die «kurzfristig einberufene» Parteiversammlung nicht abnehmen. Durch das beschlagene Fenster sah er Lorenz mit einem Glas in der Hand am Nachbartisch gestikulieren. Fritz war klar, dass Lorenz sein Fehlen frühestens am nächsten Morgen bemerken würde. Er zog seine Mütze tief in die Stirn und marschierte nach Hause.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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