II

Erst ein, dann zwei, dann ein letzter Schlag mit dem Hammer auf den verklemmten Riegel. Die Schiebetür sprang mit Getöse auf. Durch einen armbreiten Spalt blickte ein von Wolken zerrissener Abendhimmel in das Innere des Viehwaggons. Jemand schob einige schwere Blecheimer über die Bretter. Ein dumpfes Grunzen und Gerangel hob an, ganz so, als sei im Dunkel des Wagens ein wildes Tier erwacht. Lorenz fuhr der scharfe Geruch von Fisch in die Nase. Er spürte den unbändigen Wunsch, aufzuspringen und sich mit ein paar kräftigen Fußtritten den Weg zu den Salzheringen frei zu kämpfen.

Seit vierundzwanzig Stunden waren sie unterwegs. Seit vierundzwanzig Stunden gab es nichts. Kein Brot. Keine Grütze. Keine Balanda. Nichts. Und doch blieb er sitzen. Auch wenn sich der Geruch des Fischs ins Unerträgliche steigerte. Er durfte jetzt, gerade jetzt, nicht nachgeben.

Lorenz hörte sie schmatzen. Wie sie mit den Zähnen die Fische in Stücke rissen, wie die Eimer unter dem Andrang der Hungrigen auf dem Holzboden hin und her kratzten. Wie sich der eine rühmte, drei Heringe erwischt zu haben, und ein anderer, der zu kurz gekommen war, ihn dafür verfluchte. Ein kleiner Bursche, mit seinen sechzehn Jahren wohl der Jüngste unter den Gefangenen, saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt und lutschte zärtlich am Rest eines Heringsschwanzes. Sehen konnte man im Dämmerlicht des Waggons nicht viel, aber man hörte seinen Genuss. Lorenz hätte den Jungen gerne zurückgehalten, doch das hatte keinen Sinn. Nur Pjotr und er blieben auf ihren Plätzen.

Sein Magen rebellierte, den ganzen Körper zog es zu den inzwischen leeren Eimern mit den Resten der Heringsbrühe. Aber nein. Sie widerstanden. Pjotr hatte ihn vor den Heringen gewarnt. Es gehörte zum grausamen Spiel der Wachen, den Gefangenen salzigen Fisch, aber kein Wasser zu geben. Der Qual des Hungers folgte die weit schlimmere Qual des Durstes. Während der Zug ohne Anhalten rollte und rollte.

Pjotr kannte all ihre sadistischen Spiele. Er war ein erfahrener «Etapnik», wie jene hießen, die nicht zum ersten Mal auf einen solchen Transport gingen. Fünf Jahre hatte er schon abgesessen, weil er ein Kulak, ein Großbauer, war. Er hatte die Solowki-Inseln im Weißen Meer überlebt, wo sich die Frau des Lagerkommandanten einen Spaß daraus machte, auf davonlaufende Sträflinge zu schießen.

«Mit den Jahren traf sie immer besser», witzelte Pjotr.

Irgendwie war er durchgekommen. Nun hatten sie ihn ein zweites Mal geschnappt und ihm in einem Schnellverfahren fünf weitere Jahre verpasst. In alle Winkel des Landes flatterte im Jahr 1938 der Ukas 00447 der NKWD-Zentrale «Über die Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente». Der darauf einsetzenden Terrorwelle unter der Landbevölkerung fiel fast eine Million Bauern zum Opfer. Doch nicht allein die Bauern waren der Willkür ausgesetzt. Der NKWD-Befehl 00439 «Über die Repression deutscher Staatsangehöriger, die der Spionage gegen die UdSSR verdächtigt werden» erklärte jeden, der auch nur das Geringste mit Deutschland zu tun hatte, für vogelfrei. Wer nicht sofort erschossen wurde, konnte sich als Lotteriegewinner fühlen und im Lager auf ein Leben danach hoffen. Zehntausende hatten dieses Glück nicht. Was der Einzelne getan hatte, spielte keine Rolle. Eine Möglichkeit, sich zu verteidigen, gab es nicht. Wie den Deutschen erging es Polen, Juden, Tataren, Chinesen, Koreanern, Angehörigen der kaukasischen Völker. Menschen, wahllos verhaftet, eingesperrt und gequält. Die Waggons in die Straflager waren brechend voll.

Irgendwo, weit vorn, hörte man das heisere Pfeifen der Lokomotive. Die Eisenpuffer schlugen aufeinander, der Waggon ruckte, ruckte nochmals, als würde er aus einem tiefen Schlaf gerissen, und setzte sich träge in Bewegung. Sofort erfüllte wieder das gleichförmige Tuk-Tuk, Tuk-Tuk der Räder den Wagen, die über die nachlässig verschraubten Schienenstöße rollten. Erst langsam, dann schneller und noch schneller. Tuk-Tuk, Tuk-Tuk, es ging immer weiter in den Norden, jenem dunklen Ort entgegen, den die Alten des sowjetischen Lager-Universums nur ehrfürchtig und die Neuen mit Schaudern flüsterten: Workuta.

Pjotr hatte den Stummel einer Papirossa aus der Tasche seiner Wattejacke gekramt, zündete ihn mit einem abgebrochenen Streichholz an, nahm zwei tiefe Züge und reichte den Rest Lorenz:

«Hier, das Einzige, was gegen Hunger hilft.» So saßen sie und schwiegen.

Wieder und wieder ließ Lorenz in Gedanken die Ereignisse der letzten Monate vorüberziehen. Immer in der Hoffnung, den Punkt zu finden, an dem etwas falschgelaufen war. Wo es vielleicht noch eine Chance gegeben hätte, aus diesem albtraumartigen Lauf der Dinge auszubrechen, wenn er nur aufgepasst hätte. Aber sosehr er sich mühte, er fand nichts. Diesen Punkt gab es nicht. Sein Schicksal war nichts Besonderes. Wahrscheinlich hatte er sogar noch Glück. Viel Glück. Sie hätten ihn auch sofort nach der Festnahme in Engels an die Wand stellen können. Oder später, als er sich sperrig zeigte im Verhör. Einer mehr, einer weniger, was zählte das. Vielleicht wollten sie ihn ja nur noch etwas quälen und hatten seinen Tod längst beschlossen. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er es mit Verbrechern zu tun hatte, die sich daran ergötzten, einen Mann in die Todeszelle zu sperren.

Danach steckten sie ihn in ein überfülltes Kellerloch mit lauter Urki. Da er als Letzter in die Zelle kam, blieb ihm nur der Liegeplatz auf dem Boden neben der Jauche. Das ungeschriebene Gesetz kannte er, die Karriere eines Häftlings beginnt am Scheißkübel. Wenn es gutging, arbeitete man sich vom Schlafplatz auf dem Steinboden bis auf eine der Holzpritschen hoch. Das dauerte. Er hatte sich gerade erschöpft an die Wand gelehnt, da hörte er:

«He, du, hier wird nicht gepennt. Erst wollen wir wissen, wer du bist und woher du kommst.»

Lorenz öffnete unwillig die Augen. Die Stimme gehörte einem großen Kerl, seine Arme zeigten von oben bis unten blaue Arabesken nachlässig gestochener Tätowierungen. Er schien der Ataman in der Zelle zu sein. Die Schpana saß im Halbkreis auf Schemeln um ihn herum. Sie alle schauten jetzt interessiert auf den Neuen. Wohl in Erwartung einer lohnenden Belustigung.

Der Ataman schob grinsend den Hocker, auf dem gerade noch sein rechtes Bein lag, ein Stück von sich und lud den Neuankömmling ein, Platz zu nehmen. Lorenz schien es ratsam, der Aufforderung zu folgen. Irgendwie musste man sich mit den Typen arrangieren. Wie viele Tage, wie viele Wochen er in ihrer Gesellschaft verbringen sollte, konnte er nicht wissen. Er zwängte sich zwischen den Häftlingen hindurch. Doch als er sich setzen wollte, zog ein schmieriges Männlein den Hocker blitzartig beiseite. Lorenz gönnte dem Publikum den Spaß nicht, er fing sich ab und verharrte in gebückter Stellung. Der Oberganove lachte trotzdem und verpasste seiner Hofschranze eine kräftige Kopfnuss.

«Erzähl schon, wo kommst du her?»

Die Geschichte eines neuen Arrestanten war oft genug die einzige Abwechslung, die das Leben in der Zelle bot.

Lorenz schwieg lange, er hatte Angst. Sie hatten ihn nicht erschossen, würden sie ihn hier erschlagen, erwürgen, in der Jauche ersäufen? Tonlos kam die Antwort:

«Aus der Todeszelle.»

Der Ganovenboss hörte auf zu grinsen. Er pfiff anerkennend und schaute den Neuen abschätzend von oben bis unten an, als wollte er sich vergewissern, dass der ihm keine Märchen auftischte. Aber das würde keiner wagen und dieser dürre Kerl schon gar nicht.

«Aus der Todeszelle …», wiederholte er langsam.

Unerwartete Stille breitete sich aus. Der Ataman machte eine heftige Bewegung und trat einen Schlafenden von der Pritsche.

«Du kannst deine Sachen dahin legen. Der Platz gehört dir. Wer aus der Todeszelle kommt, hat unser aller Hochachtung. Und jetzt erzähl, was ist passiert, und wie bis du da rausgekommen? Ich kenne niemanden, der das vor dir geschafft hat.»

Lorenz nahm seinen Koffer, schob ihn unter die Pritsche, setzte sich auf den Hocker und begann seine Geschichte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er den Mann, der soeben von der Liege vertrieben worden war. Ganz sicher sann der auf Rache.

Mit üppigen Ausschmückungen erzählte Lorenz von der Flucht aus Deutschland, der Arbeit im Donbass, dem Studium in Moskau, der Verhaftung in Engels. Am Ende stand für den Ataman fest, mit seiner noblen Geste hatte er dem richtigen Mann einen Liegeplatz zugeteilt.

«Sie haben dich in die Todeszelle gesteckt, um dich kleinzukriegen. Diese Huren! Aber sag, wenn du aus Deutschland bist, wie ist das Leben dort? Erzähl uns was …»

Lorenz ließ sich nicht lange bitten. Was konnte diese Männer beeindrucken? Natürlich ein paar spektakuläre Mordfälle, die er noch von daheim aus den Zeitungen kannte, Details über das süße Leben der Reichen und natürlich Frauengeschichten – je unwahrscheinlicher, desto besser. Diebe, Einbrecher, Mörder … sie saßen wie die Kinder auf dem Schoß der Großmutter und hörten zu.

Als am Abend die Tür aufging und sich die Männer mit ihren Näpfen zur Suppe drängten, knurrte der Ataman:

«Halt, ihr Drecksäcke! Erst kriegt der Erzähler! Der hat gearbeitet. Ihr habt gegafft. Nicht das Dünne von oben, sondern gib ihm das Dicke von unten! Ordentlich! Dann könnt ihr.»

Und so ging es am kommenden Tag und am Tag darauf. Lorenz’ wenig geschliffenes Russisch schreckte die Hörer keineswegs, sondern machte die Erzählungen erst richtig glaubhaft. In aller Ausführlichkeit berichtete er über die Gebräuche beim Essen in Deutschland, das Biertrinken in den Kneipen, wie es auf der Reeperbahn in Hamburg zuging und was man auf der Walz alles so erleben konnte. Allein mehrere Stunden füllten die Lieblingsgerichte der Deutschen. Deftiges deutsches Essen – schon glaubten die Häftlinge, den Geschmack von Schweinebraten auf der Zunge zu spüren. Der Ataman interessierte sich besonders für Eisbein. Immer wieder wollte er hören, was so ein Stück wog, wie es zubereitet wurde, wie dick die Kruste war. Und dann hatte er noch eine ganz spezielle Frage: Er wollte wissen, ob in Deutschland wirklich das Furzen bei Tisch erlaubt sei. Und auch im Beisein von Frauen. Aus verlässlicher Quelle habe er das gehört. Auch dass es sehr gesund sei, den «Arschwinden» freien Lauf zu lassen.

Es schlossen sich etliche Geschichten über das Furzen an, bis Lorenz endlich das Thema «Essen» verlassen konnte und zur «Klassik» überging: Winnetou. Und was als Versuchsballon gedacht war, erwies sich als Volltreffer. Dem Publikum gefielen auch Indianergeschichten, und da Karl May, im Gegensatz zu französischen oder englischen Schriftstellern, bei den Russen so gut wie unbekannt war, ließen sich mit ihm ganze Tage verbringen. Alle Winnetou-Teile, die Abenteuer von Kara Ben Nemsi – die Männer unterhielten sich glänzend. Da, wo Lorenz die Einzelheiten nicht mehr parat hatte, erfand er Neues oder mischte mit Lederstrumpf und Jack London.

Noch besser kamen die Rückgriffe auf das Decamerone an. Boccaccios amouröse Geschichten vermochten jeden Hänger in der Handlung der anderen Autoren auszubügeln. Ach, was war er ihm und dem Schöpfer von «Tausendundeiner Nacht» dankbar! Der Mescalero-Häuptling ritt nicht nur mit Old Shatterhand durch die Prärie, sondern auch mit Peronella auf dem Fass. Der weiße Bruder schnippte den Pflaumenkern zielsicherer als Kin Pin Meh, und die Ganoven wischten sich vor Lachen die Tränen vom Gesicht.

Jeden Abend, wenn das Licht gelöscht wurde, lag Lorenz auf seiner Pritsche und starrte gegen die Decke. Beim Schnarchen der Zellengenossen ging er die Geschichten des kommenden Tages durch. Drei oder vier Stunden spontan mit Spannung zu füllen, das schaffte er nur in den ersten Tagen. Die Rolle als Hoferzähler musste mit Verstand bewältigt werden. Nie hätte er geglaubt, ein Talent zu besitzen, das ihn vor den Gemeinheiten der Kriminellen bewahrte, sie rührten ihn nicht an, sie wollten seine Geschichten hören, vielleicht rettete ihm das sein Leben.

Das Gefängnis in Saratow blieb eine Episode. Es gab nur einen ernsthaften Versuch, ihm noch einmal etwas anzuhängen. Spionage lautete erneut der Vorwurf. Lorenz schüttelte bei dem Verhör nur ungläubig den Kopf. Spionage heiße ja wohl, er habe jemandem etwas verraten. Wann und wo solle das bitte gewesen sein, und vor allem, was sollte er verraten haben? Nach einem langen Hin und Her rückte der Vernehmungsoffizier endlich heraus:

«Sie haben sich mehrfach konspirativ mit Bürgern aus dem faschistischen Deutschland getroffen. Oder etwa nicht?»

«Ich? Wann?»

«In Moskau, als Student. Erst außerhalb der Stadt, später im Zentrum. Worüber wurde bei den Treffen gesprochen? Welche Aufträge haben Sie erhalten?»

«Geheime Treffen?»

Lorenz machte ein verdutztes Gesicht. Er musste es nicht einmal spielen. Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung, konnte aber nichts finden. Fast hatte er sich schon an all die absurden Anschuldigungen gewöhnt. Nun also doch Spionage? Er? Natürlich wusste er, dass die Deutschen für jeden wachsamen Sowjetbürger potenzielle Verräter waren. Aber er hatte schon gegen die Nazis gekämpft, da waren die noch nicht einmal an der Macht. Dafür gab es Zeugen. Karl zum Beispiel. Der war ja selbst … Hier dämmerte es ihm. Richtig, Karl. Karl Tuttas. Ein Jugendfreund. Der kam aus dem Untergrund in Deutschland zur Schulung nach Moskau. Eigentlich waren Kontakte zu Illegalen strengstens untersagt. Doch der Hinweis auf Karls Aufenthalt kam aus dem Büro der Rektorin der Universität. Man konnte ihn nur als Anregung verstehen. Lorenz setzte sich also noch am selben Abend in einen Vorortzug und ließ sich ganz von seinen Erinnerungen treiben. Endlich würde er mit jemand sprechen können, der ihm vom Leben daheim berichtete. Wie es der Mutter ging, was die Schwestern und der Bruder machten, wer von den Kumpels standhielt, wen die Nazis geschnappt hatten.

Sie trafen sich mehrmals, ehe Karl über Skandinavien wieder den Weg in den Untergrund nach Deutschland und damit in die Arme der Gestapo antrat. Lorenz hatte Heimweh. Er war fast beleidigt, dass sein alter Freund wieder nach Deutschland ging und er zurückblieb, um Marx und die Geschichte der Kommunistischen Partei Russlands zu studieren. Das fand er angesichts der Lage in der Heimat jetzt ziemlich sinnlos. Allerdings hatte das letzte Treffen mit Karl bei Lorenz für Ernüchterung gesorgt. Der Freund machte ihm deutlich, was er so in aller Konsequenz nicht zu denken gewagt hatte: Für ihn sollte es auf absehbare Zeit keine Rückkehr nach Deutschland geben.

«Du bist schon viel zu lange weg. Das Land hat sich verändert. Das lässt sich in keinem deiner Seminare lernen. Hitler ist nicht nur ein anderer Brüning oder Papen …»

«Das weiß ich nicht schlechter als du. Aber den Kommunismus bauen die hier auch ohne mich auf, das kannst du mir glauben. Die brauchen mich nicht unbedingt. Daheim fehlen ausgebildete Leute, die Widerstand leisten. Für einen, den sie einsperren, müssten eigentlich drei neue die Fahne hochhalten.»

«Das ist revolutionäre Romantik, geht aber an der Realität vorbei. Die Nazis haben sich auf Dauer eingerichtet. Und das Volk macht mit. Selbst wenn es Krieg gibt. Wir müssen einen langen Atem haben. Dann, wenn der Spuk eines Tages vorbei ist, werden Leute wie du gebraucht. Außerdem wissen die längst, dass du schon Jahre in der Sowjetunion bist. Jeder in der Siedlung weiß es. Ein Steckbrief genügt, und sie haben dich.»

«Und dich nicht?»

«Auch mich können sie kriegen. Jeden von uns. Aber ich bin ihnen schon ein paarmal entwischt. Außerdem erkennt mich in der Masse niemand. Ich sehe aus wie Dutzende andere. Das ist bei dir nicht so. Du bist viel zu auffällig. Schlag es dir aus dem Kopf.»

So stritten sie eine Weile, aber Lorenz’ Widerstand wurde immer schwächer. Karls Worte verletzten ihn. Der Freund sprach aus, was alle anderen offenbar schon längst wussten: Er war aussortiert. Für die illegale Arbeit nicht mehr geeignet. Er saß in Russland fest.

Eher traurig als beleidigt schaute Lorenz auf den Boden, als gäbe es dort im zertretenen Schnee ein letztes Argument gegen die deprimierende Wahrheit. Er sah keinen Ausweg, aber Karls Schuhe und war entsetzt. Die schienen schon vom Anblicken auseinanderzufallen. Die Sohle hatte sich an mehreren Stellen vom Oberleder getrennt. Karl stand förmlich auf dem Eis. So konnte man selbst in Moskau nicht herumlaufen, erst recht nicht eine gefährliche Reise antreten. Er war froh, dem Gespräch eine Wendung zu geben:

«Mensch, Karl, so kannst du doch nicht in die Welt. Was sollen die Schweden denken? Gib die Galoschen her und nimm meine. Die sind noch wie neu. Und um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich werde schon keine Bastschuhe anziehen.»

Karl wehrte ab:

«Das ist sicher ein guter Gedanke. Nur leider unmöglich.»

«Warum? Ich gebe dir die Schuhe wirklich gerne.»

«Glaubst du, ich hätte mir hier keine kaufen können? Das ist nicht das Problem. Aber Schuhe einer russischen Marke würden jedem Dummkopf auf einer Polizeiwache in Deutschland sagen: Da haste den Richtigen geschnappt. Ich kann mir erst in Schweden neue Treter zulegen. Früher nicht.»

Lorenz zog dessen ungeachtet breit grinsend einen Schuh aus und hielt ihn Karl hin:

«Denkst du, ich habe in Konspiration geschlafen? Die sind noch aus Deutschland und gut beisammen. Also nimm und mach keine Geschichten.»

Wenn nicht er selbst, so konnten wenigstens seine Schuhe die Heimreise antreten. Karl zog sie schnell an. Sie passten. Der Abschied wurde nicht ganz so traurig. Und dieser Karl sollte der Spion sein?

«Der Mann, von dem Sie hier sprechen, riskiert täglich, ganz im Gegensatz zu Ihnen, sein Leben im Kampf gegen den Faschismus. Und Sie verleumden ihn als Agenten.»

Lorenz sah den NKWD-Mann verächtlich an.

«Was sind Sie bloß für ein Kommunist!?»

Das mit dem Kommunisten war dick aufgetragen. Der Geheimdienstler und seine Kumpane waren allenfalls Parteimitglieder, mehr nicht. Koltschak, Denikin oder Wrangel, all die zaristischen Generäle, die mit ihren Armeen und frischem Geld aus Berlin oder Paris die Geschichte noch einmal hatten wenden wollen, galten als die gefährlichsten Gegner der Revolution. Welch kolossaler Irrtum! Die Konterrevolution nistete längst im Kreml und hatte bald das Land fest im Griff. Der sah sich Lorenz gegenüber.

Der Appell an das kommunistische Gewissen des Vernehmers verfehlte dennoch seine Wirkung nicht. Der Mann stellte keine weiteren Fragen. Wenige Tage später musste Lorenz die Zelle verlassen. Zurück blieb ein tieftrauriges Publikum.

Es ging auf Etappe. Erst mit dem Lastwagen zum Bahnhof, dann in einem vergitterten Eisenbahnwaggon nach Moskau. Der Wagen stammte aus Zarenzeiten, denn er hatte ein Fenster. Man konnte trotz dreckiger Scheiben und der Gitterstäbe die langsam vorbeiziehende Landschaft sehen. Einen zweiten solchen Waggon sollte er auf seinen Wegen durch Lager und Gefängnisse nicht mehr betreten.

Noch einmal schöpfte er Hoffnung. Dort in Moskau saßen all jene, von denen er glaubte, dass sie ein entscheidendes Wort für ihn einlegen konnten. Wenn es nur gelang, ihnen eine Nachricht zu übermitteln. Dann ließe sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden. Ein Brief an Friedrich Wolf, oder sollte er sich lieber gleich an Wilhelm Pieck wenden? Schon überlegte er, was er zu Geld machen könnte, um einen der Wärter zu bestechen. Flüchtig dachte er an den Briefschreiber im Gefängnis von Engels und wusste, es hatte keinen Sinn. Er war ausgeliefert.

Über das Land rollte unerbittlich die Terrorwelle der «Großen Säuberung». Unzählige Menschen fielen der «Tschistka» zum Opfer. Weit über zwei Millionen in wenigen Jahren. Die genaue Zahl wird sich wohl nie ermitteln lassen. Im Gegensatz zu der perfekt organisierten Todesindustrie der Deutschen, bei der jedes Opfer akribisch in den Akten vermerkt wurde, die Bestellungen von Zyklon B auf die Transportkapazität der Bahn und die Umfänge der Verbrennungsöfen abgestimmt sein mussten, war der sowjetische Tod eine typisch schlampig-russische Angelegenheit. Freunde wie Feinde – Letztere selten – konnten ebenso zufällig erschossen werden wie überleben. Konnten in den Lagern durch die harte Arbeit oder an Typhus sterben, aber auch durch eine Laune des Schicksals in eine Kulturbrigade geraten und bis zur Entlassung auf den Brettern, die das Leben bedeuteten, tanzen, auf dass sich das Wachpersonal und dessen Bräute daran ergötzten. Oder man starb, weil die korrupte Lagerleitung das wenige Essen, das für die Gefangenen bestimmt war, verschoben hatte. Man starb, weil die Kohlköpfe oder das Mehl im Winter unter freiem Himmel abgekippt wurden. Man starb, weil das Land trotz unermesslicher Weiten und fetter Böden unfähig war, genug Korn zu ernten. Wo selbst das Dorf hungerte, blieb für das Lager erst recht kein Brot.

Den Hintergrund für die Vernichtung ganzer Völker durch die andere blutige Diktatur des zwanzigsten Jahrhunderts bildete eine fast rasputinsche Mischung aus menschenverachtender Mystik und ideologischer Frömmigkeit. Ein paranoider Diktator, ein durch Bürgerkrieg und Hunger ausgezehrtes Volk, eine patriarchalische Gesellschaft im Fortschrittstaumel und immer wieder Angst. Angst vor einem falschen Wort. Angst vor einem falschen Blick. Angst vor einem falschen Gedanken.

Angststarre lähmte das Land.

Angststarre hielt es zusammen.

Der Einzelne war nichts. Das Kollektiv war alles. Wer sich in der Reihe nicht anstellte, und es gab immer einen Grund zum Anstellen, der wurde aussortiert. Menschewiki, Bolschewiki, Trotzkisten, Anarchisten, rechte Abweichler, linke Abweichler, Kommissare, Generäle, Popen, Bauern, Ärzte, Musikanten, Lehrer, Ingenieure, Traktoristen, Stenotypisten, alle, ausnahmslos alle, kamen dran. Selbst die Delegierten des «Parteitages der Sieger» von 1934. Mit Ausnahme Stalins und einer handverlesenen Gruppe seiner engsten Getreuen wurden alle erschossen. Die ohnehin ausgedünnte Elite der Partei musste sterben, weil der Diktator mit nur dreiviertel der Stimmen des Parteitages in seinem Amt bestätigt worden war. Dagegen hoben die Delegierten fast geschlossen für den neuen aufgehenden Stern am Polithimmel, Sergej Kirow, die Hand. Der fiel, welch Zufall, noch im selben Jahr einem Attentat zum Opfer, das wiederum Anlass für neue schreckliche rote Bartholomäusnächte bot.

In Moskau ging es mit Lorenz ganz schnell. Raus aus dem Waggon, rein in den «Schwarzen Raben», ab nach Lefortowo, Treppe rauf, Treppe runter, Tür auf, Tür zu, zwei Wächter pressten ihn barfuß in den «Sarg». Da war er nun. Wie benommen. In einer schmalen, betonierten Zelle, höchstens einen halben Meter im Quadrat, in der man weder stehen noch sitzen und schon gar nicht liegen konnte. Der schräge Boden, glitschig und kalt, bot keinen Halt, ließ den Körper zusammensacken. Das eigene Gewicht folterte den Insassen. Eine Zeitlang versuchte Lorenz, sich mit Händen und Knien abzustützen, das brachte nur einen kurzen Moment Entlastung. Die Schmerzen wurden unerträglich. Irgendwann ließ er los.

Eigentlich hatte er mit der Lubjanka gerechnet, dem berüchtigten Moskauer Hauptquartier des NKWD und seinem zentralen Gefängnis. Von hier aus zogen sich die unsichtbaren Fäden durch das Land, an deren Enden die Soldaten der Exekutionskommandos mit ihren Gewehren wie Marionetten hingen. Man brauchte nur an einer Schnur zu ziehen, schon konnte man in der Ferne die Schüsse und das Stöhnen der Sterbenden hören. Man zog an einer anderen, und die Menschen verschwanden spurlos. Als hätte es sie nie gegeben. Die Lubjanka war die Endstation für die meisten Widersacher Stalins, ob sie es nun bewusst waren oder nur dem manischen Misstrauen des Georgiers zum Opfer fielen. Bucharin, Sinowjew, Kamenew, Rykow oder Radek, es war die Elite des neuen Russland, die in den Kellern des gelben Backsteinkomplexes erst verhört, dann gefoltert, dann umgebracht wurde. Ohne diese Köpfe konnte das Land nur so werden, wie es wurde: auch ein Gefängnis. Wie die Lubjanka. Voller Angst. Voller Hass. Voller Verrat.

In Lefortowo ging es nicht anders zu. Nur dass hier das Militär das Kommando führte. Warum Lorenz gerade hier landete, er konnte es sich nicht beantworten. Pjotr, der mit ihm im Eisenbahnwaggon auf dem Weg in den Norden den Salzheringen widerstand, sollte dafür eine einfache Erklärung finden. Die waren ausgebucht, meinte er lakonisch, das kommt in Hotels vor, warum also nicht in Gefängnissen. Und berühmt wie die Lubjanka nun mal ist, wollen alle dorthin …

Lorenz kauerte unter unerträglichen Schmerzen auf dem schrägen Betonboden. Erst fühlte er seine Füße nicht mehr, dann wurden die Beine taub. Die Gedanken drangen nicht mehr durch den Schmerz; er meinte zu spüren, wie er langsam in einen anderen Zustand hinüberwechselte.

Da hörte er wie ein fernes Echo die Eisentür scheppern. Plötzlich war sie offen, er schlug, ohne sich auch nur ein wenig abfangen zu können, mit dem Kopf auf den Steinboden des Gangs. So lag er, lag zwischen den Kommissstiefeln von zwei Wachmännern, die ihn abholen sollten. Eilig hatten sie es nicht. Der eine kramte eine Schachtel Papirossy aus der Tasche, bot dem anderen eine an. Sie rauchten, die Asche auf den Kopf des Gefangenen abschüttelnd.

«Schau an, der Hund ist fast verreckt.»

«Offensichtlich ein Intelligentik», erwiderte sein Begleiter, der Stimme nach um einiges älter. «So schwächlich, wie der aussieht. Ich weiß gar nicht, warum sie diese Typen so weit durchs Land karren. Das kostet doch nur Geld. Und wir haben hier die Scherereien. Dagegen braucht’s für eine Bleikugel nur Kopeken. Neulich ist einer von denen zum Teufel gegangen. Eine elende Schinderei, bis wir den auf dem Hof hatten.»

«Recht hast du. Was braucht das Volk so viele von denen? Und immer sind sie unzufrieden. Laufen in feinen Schühchen rum, wissen nicht mal, wie ein Fußlappen gewickelt wird, aber konspirieren. In Moskau wimmelt es nur so von denen.»

«Und da haben wir schon Tausende rausgefischt. Aber sie wachsen nach, wie Pilze im Regen. Du weißt ja, auf einen guten, sagen wir mal, auf den Steinpilz, kommen Dutzende giftige. So ist das auch mit diesen Intelligenzlern. He, steh auf, wird’s bald! Ausschlafen kannst du dich auf Etappe.»

Sie packten den benommenen Gefangenen an den Armen und zerrten ihn in die Höhe. Die Beine konnten den Körper nicht tragen. So taumelte Lorenz zwischen den Aufsehern wie eine gliederlose Puppe, versuchte verzweifelt, einen Halt zu finden. Sie schleiften ihn ein Stück mit, bis sie ihn irgendwo auf dem langen Gang an die Wand lehnten.

«Bah», meinte der Jüngere fröhlich, «der ist ja ein richtiger Olympionike. Der von gestern konnte an der Stelle hier noch lange nicht stehen. Den hab ich mit Wasja sogar die Treppen raufschleppen müssen. Ich sage dir, das war ein schwerer Sack.»

Noch einmal zündeten sie sich ihre Papirossy an, bliesen den Qualm genussvoll dem Gefangenen ins Gesicht und überlegten, wo sie einen trinken gehen könnten. Der Ältere von den beiden nahm noch einen Zug, dann schob er Lorenz die Kippe in den Mund:

«Hier hast du, wer weiß schon, ob du noch einmal dazu kommst, eine zu rauchen.»

Lorenz musste all seinen Willen zusammennehmen, um nicht an dem Stummel zu ziehen. Sein Innerstes streckte sich sehnsüchtig nach oben, wo zwischen den Zähnen die speichelnasse Papphülse der Papirossa steckte. Doch er biss auf das Papier und spuckte den Zigarettenrest auf den Boden.

«Nichtraucher», flüsterte er.

Manchmal in diesen Tagen fehlte ihm das Rauchen mehr als das Essen. Es kostete ihn ungeheure Kraft, nicht um Zigaretten bei den Wachen zu betteln oder deren Stummel aufzuheben.

«Schau dir das an. Wenn sie so einen abknallen, ist es wirklich nicht schade. Du zeigst dein großes Herz, und was macht der Intelligentik, er rotzt hier einfach hin.»

Der Jüngere stieß Lorenz in die Seite.

«Dawaj, dawaj!»

Die Zehen schienen abgestorben, die Füße schmerzten unerträglich. Er schlurfte erst einen, dann einen weiteren Schritt. Die Wachleute folgten ihm. Lorenz versuchte, die neue Lage zu verstehen. Die Gespräche der beiden gaben nicht viel her. Doch eines schien sicher: Erschießen wollten sie ihn nicht. Nicht hier. Noch nicht.

Der Abschied von Lefortowo fiel genauso schnell aus wie die Begrüßung. Es war kein voller Tag, den er in dem Moskauer Gefängnis zubrachte. Keine Einweisung, kein Verhör, nur die Stunden im «Sarg». Richtig zu sich kam er erst im Waggon, als der Zug Fahrt aufgenommen hatte und die Plätze auf dem Boden verteilt waren. Pjotr, der in einem deutlich besseren Zustand auf diese Reise ging, hatte ihn zu sich gezogen und an die Wand gedrückt. Dies sollte bis zur Endstation am Petschora-Fluß sein Platz bleiben.

Moskau war eine weitere der vielen absurden Stationen seit seiner Verhaftung. Warum der «Sarg»? Warum die schnelle Ausweisung? Fragen, auf die weder er noch jemand anderes eine Antwort wusste. Viel später, in der Arktis, versuchte er mit Hilfe einiger alter Bolschewiki das Ganze zu verstehen. Sie hatten ihr halbes Leben in Gefängnissen und Lagern zugebracht, davon auch einige Jahre unter dem Zaren. Einer der Männer schien eine plausible Erklärung zu haben. Parallel zu Lorenz’ Einlieferung in Lefortowo wurde in Moskau gerade ein Schlag gegen die Spitze der Komintern vorbereitet. In diesem Zusammenhang wäre Lorenz zwar nur ein kleiner Fisch gewesen, aber er passte mit seiner Biografie in das Raster. Doch dann wurde der Hauptzeuge «der internationalen Verschwörung zum Sturz der Sowjetmacht» unter ungeklärten Umständen in Lefortowo ermordet. Er hatte im Verhör Dutzende ranghohe Funktionäre der verschiedensten kommunistischen Parteien als Drahtzieher bezichtigt. Mit seinem Tod brach die wacklige Anklage in sich zusammen. Nun wurde auch Lorenz nicht mehr gebraucht. So kam er ein drittes Mal davon, ohne wirklich zu wissen, wie das passieren konnte.

 

Der Zug rollte und rollte. Sadisten, Folterknechte. Verbrecher. Wie sollte man sie nennen? Der Tag, nachdem sie den Gefangenen salzige Heringe gegeben hatten, wurde schrecklich. Die Nacht danach noch schlimmer. Die Menschen wimmerten nach Wasser. Aber der Zug rollte und rollte. Und wo kein Halt, da auch kein Wasser. Nicht einmal dieser dreckige Zinkeimer Wasser, den es sonst auf jeder Station gab. Nichts. Mit Vieh, für deren Transport die Waggons bestimmt waren, würde niemand so umgehen. Die Fracht wäre viel zu kostbar. Mit Vieh hätte man Mitleid. Für Menschen war Mitleid nicht vorgesehen.

Tage vergingen. Mal gab es Wasser, aber keinen Fisch. Mal gab es Fisch, aber kein Wasser. Dann gab es auch eine Suppe, mit Graupen und Brot. Dann nur gedämpfte Rüben.

Und der Zug rollte und rollte und rollte.

Bis sie endlich am Ziel waren, an der Petschora. Ein dunkler, unwirtlicher Fluss, hoch im russischen Norden. Lange Zeit war das die sichtbare Grenze der Zivilisation. Nicht mehr weit, und die Wälder hörten auf, die Tundra begann. Wo der eisige Polarwind das Quecksilber im Winter bis auf fünfzig Grad unter null drückte. Nur die Nomaden, die den Rentierherden folgten, besiedelten die Region. Zu rau. Zu menschenfeindlich. Doch der Rohstoffhunger des Landes duldete auf der Karte keine weißen Flecken mehr. Um den Reichtum des nördlichen Ural wussten schon frühere Generationen. Kohle, Öl, seltene Erze, sogar Gold fanden die Geologen. Bloß leben konnte man dort nicht. So hatte noch der Zar in einem Dekret untersagt, die Besiedlung der Region voranzutreiben. Jetzt brach die neue Zeit in die eisige Ruhe des hohen Nordens.

Noch einmal röhrte weit vorn die Lokomotive. Unter lautem Poltern und ohrenbetäubendem Quietschen kam der Zug zum Stehen. Durch die Ritzen des schadhaften Waggons konnte man nicht viel erkennen, aber hören. Das laute Fluchen der Wachleute, die auf und ab rannten, das nervöse Bellen der Hunde. Dann öffneten sich die Waggontüren wie Schleusen. Die Gefangenen ergossen sich als grauer Brei auf den Schotter zwischen den Gleisen. Der Versuch, alle antreten zu lassen, misslang. Als die Ersten den Wasserbehälter sahen, an dem die Lokomotiven betankt wurden, gab es kein Halten. Sofort war der Tank mit einer Menschentraube zugewachsen. Erst als alle getrunken hatten, gelang es den Soldaten mit Schlägen und Tritten, so etwas wie eine Marschordnung herzustellen. Es war tiefer Nachmittag, die Wachen wollten fertig werden.

Bevor sich die erste Kolonne in Bewegung setzte, inspizierte ein Trupp Uniformierter die Reihen und sortierte kräftige Männer aus. Lorenz, der in den Monaten seiner Gefangenschaft völlig abgemagert war, gehörte nicht dazu. Aber Pjotr. Aus den Gesprächsfetzen der Wachen konnte man verstehen, dass sie Arbeitskräfte für den Gleisbau suchten. Ohne Eisenbahn blieben die Kohlevorkommen der Arktis wertlos. Gleise zu verlegen war genauso eine Schinderei wie der Kohleabbau. Wer also das leichtere Los hatte, Pjotr, der zurückblieb, oder Lorenz, der weiter nach Workuta musste, konnte keiner wissen. Sie gaben sich die Hand und wünschten sich Glück. Das Ende einer kurzen Lagerfreundschaft.

Der Weg sollte Lorenz Hunderte Kilometer Fußmarsch durch die Wälder und Sümpfe Richtung Norden führen. Allein der Gedanke daran ließ ihn erschaudern. Wie groß war die Erleichterung, als ihre Kolonne nicht den Pfad zum Zwischenlager einschlug, von dem am nächsten Morgen der Aufbruch in die Taiga erfolgte, sondern es geradewegs hinunter zum Fluss ging. Dort lagen zwei große Barken, die ursprünglich dazu dienten, Kies zu befördern; jetzt wurden sie mit menschlicher Fracht beladen. Die Bretter des Stegs wippten bei jedem Schritt der Gefangenen bedenklich, an der rostigen Bordwand schmatzte das trübe Wasser in Erwartung eines Pechvogels.

«Dawaj, dawaj!», schrien die Wachen, jene russischen Wörter, die ein Ausländer unter den Sträflingen als Erstes zu hassen lernte.

«Dawaj, dawaj!», hieß es, wenn die Kolonne am Morgen bei klirrendem Frost zum Schneeschaufeln ausrückte.

«Dawaj, dawaj!», raunte es, wenn einer entkräftet zusammenbrach und die Wachen ihn mit den Stiefeln traten.

«Dawaj, dawaj!», schrie der Offizier, wenn die Gefangenen nach einem Vierzehn-Stunden-Arbeitstag durch das Lagertor wankten.

Auf eine Barke passten die Insassen mehrerer Waggons. Aufgefüllt wurde so lange, bis kein Fußbreit Platz blieb. Die Transporte kamen aus allen Teilen des Landes, das Sprachgewirr war entsprechend. Ein Dozent aus Moskau, dem die Leidenschaft für das Englische fünf Jahre Lager eingebracht hatte, regte an, statt auf den Fluss zu starren, doch die Nationalitäten durchzuzählen. Heraus kamen 38. Natürlich stellten die Russen und die mit ihnen brüderlich verbundenen Völker der Sowjetunion das Gros der NKWD-Beute: Ukrainer, Usbeken, Kasachen, Armenier, Georgier, Tschuwaschen, Turkmenen, Karatschaier, Balkaren, Karelier, Aserbeidschaner, Moldauer, Tadschiken, aber auch Udmurten und Tataren. Und wo die Tataren waren, konnten die Mongolen nicht weit sein. Und wo Mongolen waren, waren auch Mandschuren, und wo die waren, gab es auch Chinesen. An Bord waren es fünf. Die Japaner waren hingegen nur mit einem Häftling vertreten, der Türken und Griechen gab es da schon mehr. Skandinavier oder Spanier waren auch dabei. Natürlich, nicht zu vergessen, reichlich Polen und Deutsche.

Endlich legte der Kahn schräg im Wasser liegend ab. Wer im Bauch auf den Schotterresten saß, hatte es bequemer, auch der kalte Wind konnte ihm dort nichts anhaben, aber er sah von der Flusslandschaft nichts. So war Lorenz froh, dass er einen Deckplatz hatte, weit vorn zwischen den Tauen. Die Ufer der Petschora waren so ganz anders als die der Flüsse, die er kannte. Selbst die Wolga erschien ihm nirgendwo so unnahbar und rau. Bäume wurden in einem dünnen Streifen entlang des Ufers geschlagen. Genau so weit, wie es noch leicht war, die Stämme in den Fluss zu schieben, wo sie als Flöße davonglitten. Dahinter begannen die Weiten der Taiga. Immer wieder zogen Hügel vorüber, auf denen abgesägte Baumstümpfe mannshoch in die Luft ragten. Ein trauriger Anblick. Als hätte jemand mit riesigen Nägeln ein Landschaftsbild zusammengenagelt. Lorenz konnte sich den Sinn nicht erklären. Auch die neben ihm Sitzenden zuckten nur mit den Schultern. In der ganzen Welt sägte man die Bäume über dem Boden ab. Hier nicht. In diesem Land war vieles so ganz anders.

Ein Kapitänsdinner war nicht vorgesehen, die Gefangenen schliefen hungrig ein. Jeder in der Hoffnung, am Morgen würde es schon etwas Brot geben und, wenn man Glück hatte, auch eine Blechtasse «Kipjatok». Erst im Norden ging Lorenz auf, warum in der russischen Sprache heißes Wasser nicht einfach «gorjatschaja Woda» heißt, sondern es ein eigenes Wort dafür gibt. Manchmal reduziert sich das Leben auf das Wesentliche: ein trockener Platz, ein Kanten Brot, Feuer und eben «Kipjatok». Die Träume von Kaffee oder Tee sind dann längst ausgeträumt. Es geht nur noch um diesen Moment, diesen einen Tag. Ob es noch einen anderen geben wird, wer weiß das schon. Der «Kipjatok» hilft jedenfalls, darauf zu hoffen.

Wie und was der Kapitän in der Nacht sehen konnte, ließ sich nicht sagen. Ob er eine Karte hatte, auch nicht. Bojen gab es nicht. Auf jeden Fall machte die Barke keine Anstalten anzulegen. In Workuta wurden frische Sklaven gebraucht. Die Gefangenen richteten sich ein, so gut es ging. Auch Lorenz schlief, mit dem Kopf auf dem Koffer. Nicht weil es bequem war, sondern damit der nicht gestohlen wurde. Selbst auf diesem engen Raum war es aussichtslos, etwas wiederzukriegen.

Ein entsetzlicher Schrei weckte ihn.

«Auf die Pferde!», dröhnte eine heisere Stimme. «Säbel raus! Attacke!»

Lorenz hatte, schlaftrunken, wie er war, Mühe zu verstehen, wo er sich überhaupt befand und was da gerade vor sich ging.

«Ich werde euch Hurenböcke in Stücke hauen, dass kein räudiger Hund von euch fressen will. Attacke! Mir nach!»

Endlich ging ein Scheinwerfer an. Der Lichtkegel tastete sich über die Köpfe der Schlafenden. Man sah, wie zwei Wächter versuchten, einen zappelnden alten Mann festzuhalten. Mit Mühe gelang es ihnen, ihm die Arme auf den Rücken zu drehen. Lorenz erkannte ihn, Pjotr hatte ihn auf den Alten aufmerksam gemacht. Ein ehemaliger Kommandeur der Roten Armee, Mitstreiter des legendären Heerführers Tschapajew; mit ihrem Reiterregiment hatten sie im Bürgerkrieg die Weißen geschlagen. Als der Alte später verhaftet wurde, verstand er nicht, warum. Er begriff nur, dass ihn Menschen einsperrten, die vom Kampf und der Front einen Dreck wussten. Er sagte ihnen das, dafür schlugen sie ihn halb tot. Er verstand es trotzdem nicht.

In all den Tagen hatte er mit keinem gesprochen. Selbst auf der Barke, wo man den anderen nicht ausweichen konnte, saß er stumm. Früher, in der Reiterarmee, da war alles klar: Vor ihm standen die Koltschak-Truppen, die den Zaren wiederhaben wollten, und hinter ihm die Arbeitermacht. Und er wäre lieber im Sattel gestorben, als zurückzuweichen. Es ging um Leben und Tod und um eine lichte Zukunft. Jetzt war alles verdreht. Wo war vorn? Wo hinten? Wo stand der Feind? Und wer war der überhaupt? Viele, sehr viele zermarterten sich darüber den Kopf und verzweifelten. Für einen Haudegen wie ihn ließen sich die Fragen schon gar nicht beantworten. Die Revolution, die er meinte, war das jedenfalls nicht.

Nun hatte er sich aus der Realität verabschiedet. Er wähnte sich mit dem Kavallerietrupp im Angriff. Er schrie und schlug um sich. Bevor die Wächter es schafften, ihn zu fesseln, biss er einem in die Hand. «Attacke!» Als die Barke an der Ussa, einem Nebenfluss der Petschora, anlegte, wurde der Alte als Erster von Bord gebracht.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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