II

Lorenz öffnete die Augen und fixierte in der Dunkelheit das kaum sichtbare Fensterkreuz. Langsam kam das Zimmer, das sich gerade noch wie ein Karussell gedreht hatte, zum Stehen. Die Wände, der Schrank, der Sessel, alles schien wackelig wie ein Pudding. Vielleicht hätte er doch lieber durch die kühle Nacht bis zu seiner kleinen Wohnung laufen sollen. Die hatte er inzwischen im «Hochhaus» nahe beim Werk bezogen; jeden Tag nach Gotha zu fahren war zunehmend zur Belastung geworden. Das Zusammenleben mit Lena erst recht. An diesem Abend aber war er wieder einmal im Büro geblieben und hatte das Klappbett vor dem Schreibtisch aufgeschlagen. Nun lag er da, der Erschöpfung nahe, und atmete tief. Es war schon der dritte Anfall in einer Woche. Dieser fürchterliche Druck in der Brust.

Sollte der Schriftsteller recht behalten, er war am Verglühen?

Sie hatten wieder eines ihrer langen Abendgespräche geführt, über das, was ihn antrieb, was im Leben wichtig sei, ob es Eigensucht oder eine Selbstverständlichkeit wäre, mit seinen Kräften bis an die Grenze zu gehen. Der Mann aus Weimar hatte sich in den Kopf gesetzt, über Lorenz einen Film zu machen. Wolfgang Held war fasziniert von dem Stoff, der sich mitten im Alltag bot: Da opfert sich einer für eine Idee, und nichts kann ihn retten. Ein sozialistischer Held, der zum Schluss am Sozialismus stirbt. Das gab es noch nicht. Sozialistische Helden starben, weil sie von Nazis umgebracht oder weil sie verraten wurden. Aber sie starben nicht, weil ihnen die neuen Verhältnisse selbst keine andere Wahl ließen.

Lorenz blieb skeptisch. Erstens wollte er noch etwas leben. Jetzt, wo er endlich die Dinge zum Tanzen brachte. Das gestern noch hochverschuldete Werk war binnen eines Jahres zu dem Unternehmen der Republik geworden, das die Richtung vorgab. Zweitens, und das bewegte ihn mindestens genauso, hatte er Angst, in einem billigen Agitpropstreifen, mit unglaubwürdigen Figuren und dümmlichen Dialogen, ins Lächerliche gezogen zu werden. Wolfgang Held selbst machte einen durch und durch ehrlichen Eindruck. Aber Lorenz befürchtete, in diesem Kulturbetrieb kam nie hinten raus, was vorn eingegeben wurde. Doch der Mann ließ nicht locker, so näherten sie sich langsam dem Stoff, von dem Lorenz überzeugt war, wenn der Autor erst die ganze Geschichte kannte, würde er Abstand nehmen. Das Lager in Workuta war kein Ruhmesfeld für sozialistische Helden.

Der Schriftsteller blieb zäh. Er konnte die DEFA überzeugen, obwohl die Bedenkenträger schon obsiegt hatten und das Projekt beerdigt war. Ein Gespräch beim Kulturminister, einem Klaus Gysi, brachte den Durchbruch. Der fand die Idee mit dem tragischen Helden «endlich mal was anderes». Kaum war die eine Hürde genommen, folgte ein widerliches Gezerre um den Dramaturgen, Walter Janka. Der hatte auch seine Erfahrungen als «Ehemaliger». Zwei davon, dachte Lorenz, das lassen die nie durchgehen. Er hatte keine Zeit, sich weiter damit zu befassen. Schließlich hörte er, die Sache nahm wieder Fahrt auf. Einen Titel gab es auch schon: «Zeit zu leben». Das klang nach Remarque und gefiel ihm schon allein deshalb. Doch überzeugt, richtig überzeugt, war Lorenz immer noch nicht. Dass aus dem Lager in der Arktis im Film «Buchenwald» wurde, das zu verdauen, fiel ihm besonders schwer. Da hieß es, ein Film sei schließlich Kunst und Kunst könne sich nicht an alle Zufälligkeiten des Lebens halten.

So einfach ist das also, dachte er, so einfach macht ihr euch das.

Der Autor kannte sich in den DEFA-Gepflogenheiten gut aus. Geschickt baute er ein paar Szenen ein, so einen langen Monolog über die Freiheit, die dann erwartungsgemäß der Schere zum Opfer fielen. Dafür konnte anderes bleiben. Einige Episoden wurden in Sömmerda gedreht und kamen der Wirklichkeit ziemlich nahe. Die Nähe zur Realität war nicht ungefährlich und konnte ein solches Projekt schnell zum Scheitern bringen. Der Alltag in einer Kleinstadt oder einem volkseigenen Betrieb sah um einiges anders aus, als es in der «Aktuellen Kamera» des DDR-Fernsehens über den Bildschirm lief. Die Läden schienen nicht leer, und doch gab es vieles nicht. Und alles, was es nicht gab, konnte man am Abend im Westfernsehen sehen. Leg das Geld hin und nimm mit. Soviel du willst.

Lorenz wusste das alles. Es reichte nicht, das Werktor dicht zu machen; die Frauen gingen in der Arbeitszeit einkaufen, nicht weil es ihnen langweilig war, sondern weil sie sich um die Familie kümmern mussten. Nichts von dem, was täglich fehlte, konnte er beschaffen. Schließlich funktionierte es hier nicht wie im hohen Norden, wo er mit reparierten Glühlampen den Mangel beheben und die Leute begeistern konnte. Etwas ratlos hatte er den obersten Handelschef des Kreises eingeladen. Ganz harmlos, «zum Kennenlernen». Der war erfreut. Im Grunde bestand ja fast der gesamte Kreis aus dem Werk, und das Werk war der Kreis. Als der Mann am späten Abend leicht schwankend die Hauptverwaltung verließ, waren sie sich einig. Ab sofort, wenn etwas Besonderes geliefert wurde, rief man im Werk an, dann konnten die HO-Mitarbeiter ihre Wägelchen durch die Hallen rollen, und die Frauen kauften direkt neben der Maschine eine Tüte Tomaten oder grüne Gurken. Das war weit weg vom Ideal, aber um vieles besser als ein Ausflug zum Einkaufen mitten in der Arbeitszeit.

Den Innungsmeister der Friseure konnte er natürlich nicht einfach mit dem Kamm ins Werk beordern. Der stand eines Tages in der Tür seines Arbeitszimmers und plusterte sich auf: Ruinieren würde man ihn und seine Kollegen, sofort müsse der schwachsinnige «Ukas» gestrichen werden. Der Mann hatte ein paar Jahre in einem Gefangenenlager am Dnepr zugebracht und kannte russische Gepflogenheiten. Lorenz wartete, bis der Dampf den Meister verlassen hatte. Nach einer Stunde wurde aus dem ruppigen Wortwechsel eine entspannte Unterhaltung. Einige Wochen später öffneten die Friseursalons abends drei Stunden länger. Das ließen zwar die Gesetze in der DDR nicht zu, aber Lorenz war sich sicher, eine Sondergenehmigung, wenn nicht in Erfurt, dann in Berlin zu bekommen.

 

Nun war Wolfgang Held erleichtert und bestürzt zugleich. Erleichtert, weil das Projekt doch auf die Leinwand kam. Bestürzt, weil seine Prophezeiung Schritt für Schritt in Erfüllung ging:

«Glaube mir, wenn du in dem Tempo weitermachst, dann gehst du vor die Hunde.»

«Und, bin ich der Erste? Oder sollte ich etwa der Letzte sein?» Lorenz reagierte gereizt, er mochte solche Anteilnahme nicht.

«Nein, bist du nicht. Aber es gibt zu wenige wie dich. Du weißt, wie das Büromaschinenwerk aussah, ehe du kamst, und glaubst du nicht, dass es nicht wieder dort landen könnte?»

«Das ist sicher ein Argument. Jemand, der das Gewicht nicht stemmen kann, der wird es auch nicht halten.»

«Genau so. Ein Mann, der wichtig für das Land ist, darf sich nicht sehenden Auges zerstören. Wie willst du das rechtfertigen?»

«Weißt du, die Menschen sind seltsam. Die Deutschen vor allem. Hat sich im Krieg ein deutscher Soldat mit der Panzerfaust einem T 34 in den Weg gestellt und den abgeschossen, dann gilt so ein ‹Panzerknacker› bis auf den Tag als Held. Obwohl auch er genau wusste, dass er dabei draufgehen konnte. Und obwohl er im Auftrag von Verbrechern handelte und für eine sinnlose Sache sein Leben riskierte. Wenn sich aber jemand für eine gerechtere Welt einsetzt, dafür, dass Tausende Menschen anständig arbeiten und davon gut leben können, gilt der als verrückter Romantiker. Irgendetwas stimmt da nicht.»

«Aber meinst du nicht, dass du auch mit zehn Stunden Arbeit am Tag statt mit sechzehn Erfolg hättest?»

«Du meinst, im zweiten Gang schleichen? Das liegt mir nicht. Im Übrigen, du hast dir die Tbc beim Bau der Maxhütte auch nicht geholt, weil du bei jedem Schnupfen zum Arzt gerannt bist. Also, was soll das? Debatten, die nur Zeitverschwendung sind.»

Lorenz schloss die Augen, sofort begann sich alles wieder zu drehen. Er öffnete sie, und die Dinge rückten an ihren Platz. Im Grunde hatte der Schriftsteller recht. Kaum jemand verstand, warum er nach den Erlebnissen im Lager nicht in den Westen, sondern in den Osten gegangen war, als hätte er noch immer nicht genug von den lebensgefährlichen Experimenten. Auch sein unbedingter Wille, das Werk schnellstens in der Erfolgsspur zu sehen, war vielen unheimlich. Aber hatte er überhaupt eine Wahl?

War es falsch, nach Deutschland zurückzukehren?

War es falsch, als Schlosser nach Gotha zu gehen?

War es falsch, das Werk zu übernehmen?

Falsch, alles auf eine Karte zu setzen?

Falsch, sich nicht zu schonen?

Nein. Er würde es so und nicht anders wieder tun. Lorenz sah das schwarze Fensterkreuz, das sich gegen das tiefe Blau des Nachthimmels abzeichnete. Die meisten Menschen hatten keinerlei Überzeugungen. Man nahm das, was gerade im Angebot war, und verwarf es sofort, wenn ein neuer Glaube mehr Vorteil versprach. War das schlecht? War das gut? Er wusste es nicht. Was er wusste, war, dass er seine Überzeugung nicht vom Verhalten anderer abhängig machen wollte. Von einem Stalin nicht und auch nicht von einem Adenauer oder Ulbricht. Schwer genug war das.

Das Schwindelgefühl ließ endlich nach.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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