II

Über ihre Wangen liefen dicke, heiße Tränen. Jetzt, wo sie endlich am Ziel war, wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Vor allem nicht, wie. Rosmarie versank in dem kalten Ledersessel. Ihr ölverschmierter Kittel, ihre alten Schuhe, alles passte nicht hierher. Nicht einmal die Haare hatte sie gekämmt. Sie hasste sich dafür, dass sie gerade in diesem Augenblick zu weinen anfing, während sie der Mann mit seinen neugierigen Augen anschaute und schwieg.

Doch jetzt war es zu spät. Ja, wie hatte die Sache angefangen? Auf diese einfache Frage brachte sie kein Wort heraus. Ohnehin wollte sie nicht glauben, dass so etwas möglich war. Sie, eine strafversetzte «Politische» aus der letzten dreckigen Ecke der Mechanischen, saß bei ihm, dem Chef über zehntausend Mann. Und er wollte wissen, wie er ihr helfen könne.

Als das Gerücht aufkam, dass der Neue für jedermann eine Sprechstunde eingeführt hatte, spotteten viele: Der verwechselt sein Büro wohl mit der Poliklinik. Als dann bekannt wurde, dass ein armer Teufel aus der Vorfertigung, der seit Monaten verzweifelt versuchte, ein paar Säcke Zement für den Anbau des Kinderzimmers zu ergattern, von ihm Hilfe zugesagt bekam, rieb man sich verwundert die Augen. Und doch war es so. Irgendwann fuhr auf seinem Hof der «Wolga» des Werkleiters vor, ein Mann mit Hut klingelte, und als die Frau samt Kindern öffnete, fragte der, wohin sie die Zementsäcke abladen sollten. Helmut, der Fahrer, übernahm das.

«Hier ist die Rechnung. Es wäre gut, wenn Ihr Mann die Summe in den kommenden Tagen bei der Hauptkasse begleicht. Und passen Sie gut auf die Kleinen auf, die werden im Werk bald gebraucht.» Schon rollte das Auto davon.

Nun saß diese junge Frau vor ihm und weinte. Mit einem großen Kerl, der tobte und schrie, wäre Lorenz schnell fertig. Aber diese Tränen machten ihn ratlos.

«Beruhigen Sie sich. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Sagen Sie erst einmal, worum es geht. Wir finden sicher einen Weg.»

Rosmarie wischte über die verquollenen Augen. Zweimal hatte sie versucht, zu ihm vorzudringen. Zweimal scheiterte sie an dem Drachen im Vorzimmer. Groß, dunkelhaarig, herrisch, an dieser Sekretärin kam niemand vorbei. Eine «Politische» schon gar nicht. Woher sie das mit der «Politischen» wusste, blieb im Dunklen. Dass sie es wusste, stand fest. Die Frau setzte alles daran, ein Gespräch mit dem Chef zu verhindern. Nicht umsonst tuschelte man, dass sie nicht nur einem Arbeitgeber diene. Die Herrschaften von der «Firma» machten sich nicht einmal unsichtbar. Ganz offiziell hatte die Staatssicherheit im Verwaltungsgebäude unterm Dach ein eigenes Quartier. Und wann immer sie begehrten, einen Bericht zu schreiben, war die Sekretärin gefragt.

Doch auch diese Frau hatte einmal Urlaub. Im Vorzimmer des Werkleiters saß nun sein «ZBV». Der Mann «zur besonderen Verwendung», eine Mischung aus Bürovorsteher und Mädchen für alles, galt als gutmütig und verschwiegen. Er sah das Häufchen Elend an und verschwand sofort im Zimmer des Chefs. Eine Minute später hatte Rosmarie ihren Termin. Freitagnachmittag.

Jetzt wusste sie immer noch nicht, was sie sagen sollte, womit anfangen. Auf keinen Fall damit, dass sie in den Westen abhauen wollte. Dagegen war die Sache mit dem Wahlboykott eigentlich harmlos. Aber genau deshalb hatten sie ihr so eine reingewürgt. Begonnen hatte alles mit dem FDJ-Parlament in Rostock. Sie war FDJ-Sekretärin. Er war FDJ-Sekretär. Und es war seltsam, Kölleda liegt nicht weit von Sömmerda, aber sie begegneten sich an der Ostsee. Jeder hatte vier Backsteine im Rucksack, für die Mole des ersten Überseehafens der DDR. Keiner in ihrer Sparkasse wollte freiwillig nach Rostock, so blieb ihr nichts weiter übrig, als selbst zu fahren. Politik interessierte sie nicht, aber das mit dem FDJ-Sekretär, na ja, einer musste es ja machen.

Im Jahr darauf fuhren sie zusammen an die See, nicht mit der FDJ, mit ihrer Clique. Auf dem Rückweg machten sie einen Abstecher nach Westberlin. Schlafen konnten sie bei seiner Tante im Hansaviertel. Die Verwandten freuten sich über den Besuch, bleibt hier, sagten sie. Ein Funkmechaniker und eine Bankangestellte bekommen sofort Arbeit. Ihr werdet sehen, es dauert nicht lange, und ihr könnt euch ein Auto leisten. Als sie am Abend im Kino bei «Ben Hur» saßen, schien alles klar. Es gab nur noch eine kleine Hürde: Wie üblich in der DDR bekamen sie ihre Abschlüsse erst Ende August, sie mussten noch einmal nach Hause. Aber dann ein, zwei Monate Geld verdienen und ab in den Westen.

Zurück in Sömmerda, lief alles seinen gewohnten Gang. Ihr künftiger Mann wurde im Funkwerk Kölleda übernommen. Sie bekam eine Anstellung in der Sparkasse. Im September wurde er 18, und da sie nichts anderes hatte, machte sie ihm das denkbar schönste Geschenk. Im Oktober wusste sie, dass sie schwanger war. In dem Zustand konnte sie nicht weg. Auf den Tag neun Monate nach dem Geburtstag wurde ihr Sohn geboren. Noch ein paar Monate, dann würden sie packen. Es kam der 13. August. Ende aller Träume.

Das ganze Land einzusperren reichte nicht aus. Für den September wurde eine Wahl angesetzt, bei der das Volk mit einer 99-prozentigen Zustimmung die Mauer feiern sollte. Rosmarie beschloss: Das mache ich nicht mit. Und weil sie am Wahlsonntag von den Agitatoren nicht doch noch überzeugt werden wollte, sollte es am Morgen in den Thüringer Wald gehen, mit ihm. Doch seine Mutter bekam Wind davon. Sie besaß eine kleine Firma und knöpfte sich ihren Sohn vor:

«Du machst mir das Geschäft nicht kaputt!»

Ihr war klar, geht der Sohn nicht zur Wahl, halten sich die «Organe» an die Mutter. Eine private Firma zu schließen war in jenen Tagen leichter, als einen Schnupfen zu bekommen. Er gestand ihr, dass ihn seine Mutter zum Wählen getrieben hatte. Nichts mit Boykott. Also würde sie auch gehen, am Sonnabend vorher. Doch als sie nach den Schalterstunden zum Rathaus eilte, schloss die Frau aus dem Sonderwahllokal vor ihrer Nase ab.

«Zu spät!»

«Aber ich fahre am Sonntag weg und muss doch …»

«Da bleibt das Fräulein eben da. Ich muss jetzt zum Wahl-Meeting.»

Rosmarie reagierte trotzig. Dann bleibt’s dabei, ich gehe nicht. Doch die geheime und freie Wahl war so geheim nicht. Am Montag wusste es jeder in der Sparkasse: Die «Giseken» hat nicht gewählt. Und das als FDJ-Sekretärin.

Die Chefs rannten mit finsterem Gesicht an ihr vorbei, eine Sondersitzung folgte der nächsten. Erst die Partei, dann die Sparkassenleitung, schließlich die Gewerkschaft. Rosmarie wurde es mulmig. Aber immer noch sagte sie sich, was soll schon passieren? Deinen Abschluss hast du, überall suchen sie Arbeitskräfte.

Zwei Wochen tagten sie, immer wieder musste sie sich verantworten, bis dann auf einer Belegschaftsversammlung, bei der keiner fehlen durfte, die Kündigung ausgesprochen wurde. Die Abrechnung mit ihr geriet zu einer Demonstration der Macht. Bis dahin wusste sie nicht, dass es so etwas wie Kündigung im Arbeiter-und-Bauern-Staat gab. Das Signal an die Mitarbeiter war eindeutig:

«Seht her, so ergeht es jedem, der sich nicht fügt!»

Die Wahl war am 17. September, am 2. Oktober, einem Montag, Punkt acht Uhr, sollte sie ihre Papiere holen. Um sechs Uhr klingelte es Sturm. Ein Mitarbeiter der Sparkasse. Die Genossen hatten vergessen, ihr den Schlüsselbund abzunehmen. Jetzt hatten sie Angst, sie könnte die Kasse noch schnell ausräumen. Als sie später im Direktorat vorsprach, war der Chef nicht allein, Partei- und FDJ-Sekretäre des Büromaschinenwerks schienen auf etwas zu warten. Unvermittelt bellte der Direktor los:

«Sie brauchen sich nicht einzubilden, dass Sie mit Ihren Entlassungspapieren in der Deutschen Demokratischen Republik in Ihrem Beruf noch eine Anstellung finden. Wo Ihr Arbeitsplatz künftig sein wird, bestimmt einzig und allein die Partei!»

Rosmarie schaute den sonst so netten Direktor fassungslos an.

«Sie haben richtig verstanden. Die Genossen aus dem Büromaschinenwerk weisen Ihnen eine Arbeit zu.»

Alles ging sehr schnell. Umrahmt von den beiden Männern, trottete sie wie eine Schwerverbrecherin ins Werk. In der Kaderabteilung empfingen sie neue Schimpftiraden.

«Was glauben Sie, wer Sie sind?», ereiferte sich der Kaderchef. «Sie können froh sein, dass sich das Kollektiv des Werkes eines solchen Elements annimmt. Mit Ihrem Verhalten haben Sie der Sache der Arbeiterklasse schweren Schaden zugefügt. Sie haben dem Klassenfeind in die Hände gespielt. Aber damit ist jetzt Schluss!»

Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank; was ist das für eine große Sache, wenn ein fehlender Wahlzettel sie so erschüttern kann?, dachte sie. Aber zu widersprechen, das wagte sie nicht.

«Sie gehen in die Gewindeschneiderei. Drei Schichten, da wird Ihnen die Lust am Provozieren vergehen.»

Das hieß, Maschinenarbeiter im untersten Lohnbereich; als sie dann etwas sagte, war es leise und kaum zu hören:

«Das geht nicht. Ich habe ein kleines Kind.»

«Das hätten Sie sich früher überlegen müssen.»

Alles, was sie bis dahin von diesem Staat kannte, galt auf einmal nicht mehr. Und das betraf nicht nur sie, sondern auch ihren kleinen Sohn. Sie konnte jetzt jeden verstehen, der in den Westen abgehauen war, nicht nur, weil er ein Auto haben wollte.

Ein Mitarbeiter brachte sie zu ihrem Arbeitsplatz. Sie kannte die Halle. Am anderen Ende arbeitete ihre Mutter. Sie hoffte inständig, dass sie sich nicht begegneten. Ihre Maschine stand in der dreckigsten Ecke. Überall stapelten sich Kisten mit Rohlingen. Es roch nach Fett und verglühten Metallspänen. Von jetzt an sollte sie nur ein Gedanke beherrschen: Wie komme ich hier raus?

Die meisten Frauen hier hatten nichts gelernt und erwarteten vom Leben nichts mehr. Dass ein «Fräulein aus der Sparkasse» bei ihnen landete, gab guten Stoff für einen Mehrere-Tage-Tratsch. Schnell war man sich einig, das konnte nur einen Grund haben: Die hat in die Kasse gegriffen. Ob dieses Gerücht in der Halle entstand oder von oben eingetröpfelt wurde, Rosmarie erfuhr es nie. Und egal, was sie zur Aufklärung auch sagte, die Frauen blieben bei ihrer Meinung.

Rosmarie wusste, das würde sie nicht lange aushalten, sie musste hier raus. Sie schrieb an alle Behörden, Bittbriefe bis zu Walter Ulbricht. Die meisten landeten wieder im Werk, genau bei jenen Leuten, die sie hierher gesteckt hatten. Zeit verging.5 Uhr 45 begann die erste Schicht, Punkt 14 Uhr die zweite. Das Grässlichste war die Nachtschicht. Wenn sie morgens nach 6 übermüdet in ihrem Zimmerchen ankam, konnte sie oft nicht einmal mehr dem Kleinen die Flasche halten. Eines Tages hieß es, ein neuer Chef sei da, er habe wissen lassen: Jeder kann zu ihm kommen, jeder hat Anspruch darauf, gehört zu werden.

Jetzt saß sie da und wischte sich die Tränen ab.

«Mädchen, das mit der Wahl, das war nicht klug.»

Was blieb ihr anderes übrig, als zu nicken? Ja, das war doof. Und hätte sie geahnt, was kommt, dann … Aber nun war es passiert.

«Wie alt ist Ihr Kind? Ein halbes Jahr? Das ist wirklich sehr klein. Sehr.»

Lorenz schaute über sie hinweg aus dem Fenster. Er dachte an seine Tochter. Larissa war auch ein halbes Jahr … Sicher, hier hatte niemand vor, das Kind umzubringen, aber sollte das der ganze Fortschritt sein?

«Ich glaube, wir können da etwas tun.»

Er griff zum Telefon und bestellte den Kaderchef, den Arbeitsdirektor und den FDJ-Sekretär in sein Kabinett.

«Sofort?», hörte Rosmarie.

«Ja, sofort!»

Wenige Minuten später standen sie da. Dem Kaderleiter war anzusehen, dass er sie erkannte, sie sah auch seine Feindseligkeit.

«Kennen Sie die Frau?»

«Ja.»

«Kennen Sie ihre Geschichte?»

«Ja», antwortete er, «aber, Genosse Lochthofen, ich würde dazu gern etwas sagen.»

«Das ist gut, tun Sie es.»

«Nur wenn die Kollegin den Raum verlässt.»

Einen Augenblick herrschte absolute Stille, dann hätte es Rosmarie nicht gewundert, wenn die Decke eingestürzt wäre. Der Werkleiter, gerade noch ruhig und beherrscht, sprang aus seinem Sessel und schien zu explodieren:

«Was sagen Sie da? Sie soll rausgehen? Rausgehen, damit was? Damit wir hier über sie zu Gericht sitzen? Ist das Ihr Verständnis von Kaderarbeit? Ist das der Umgang mit den Menschen, wie ihn die Partei von Ihnen erwartet? Überall suchen wir qualifizierte Mitarbeiter, karren die Leute aus dem Bezirk herbei, damit die Produktion läuft, und Sie verschleudern Arbeitskapital.»

Er machte eine Pause und schaute alle drei an, die standen stramm wie auf dem Exerzierplatz.

«Das ist offene Vergeudung des Volksvermögens! In solchen Fragen gibt es vor den Arbeitern keine Geheimnisse. Entweder Sie haben etwas Fundiertes vorzutragen, dann kann sie es auch hören. Haben Sie das? Aha, haben Sie nicht! Dann schweigen Sie.»

Der Kaderchef schien zu schrumpfen. Das, was er gerade erlebte, passte nicht zu seinen Erfahrungen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dem ausdrücklichen Wunsch der Genossen in der Uhlandstraße, dort, wo «die Firma» residierte, zu widersprechen. Gewiss, er hatte sich wie die anderen Direktoren an einige Sonderbarkeiten des Neuen gewöhnt. Dessen merkwürdige Vorliebe für die Arbeiter, die zugegeben so oder ähnlich in all den großen Reden der Partei stand, aber das meinte ja nie im Leben wirklich einer so. Zuerst glaubten sie, na warte, Bürschlein, wenn du das erste Mal ordentlich auf die Fresse gefallen bist, der Plan nicht erfüllt wird und die lieben Arbeiter auch keinerlei Lust verspüren, ihn zu erfüllen, dann werden dir schon die schönen Reden von deiner geliebten Arbeiterklasse vergehen. Dumm war nur, der Plan wurde erfüllt. Aber dass jetzt auch die «Politischen» Morgenluft witterten, so konnten die Parteibeschlüsse nicht gemeint sein.

«Ich stelle fest, niemand hat zur Sache noch etwas zu sagen», unterbrach der Werkleiter den inneren Monolog des Kaderchefs.

«Dann machen wir es kurz: Am Montagmorgen kommt die Kollegin zu Ihnen, Sie kümmern sich persönlich um einen ihrer Qualifikation angemessenen Arbeitsplatz. Denken Sie daran, sie hat ein kleines Kind zu versorgen. Keine Schichtarbeit oder irgendwelche anderen Geschichten. Haben Sie mich verstanden?! Gibt es noch Fragen? Nein?»

Er schaute entspannt, als hätte es den Ausbruch vor wenigen Minuten nie gegeben.

«Ich bedanke mich, meine Herren.»

Rosmarie ließ den Männern den Vortritt, drehte sich nochmals um und stammelte ein Dankeschön. Als sie auf dem Flur stand, lehnte sie sich an die Wand und holte erst mal tief Luft. Zurück in der Gewindeschneiderei, fragten die Frauen neugierig:

«Und, wie war’s?»

«Wie isser?»

«Stimmt das, was erzählt wird?»

«Wenn ich euch das erzähle, ihr glaubt es sowieso nicht. Ich würde es ja auch nicht glauben.»

Beschwingt marschierte Rosmarie am Montag in die Kaderabteilung, in der Gewissheit, nun könne ihr nichts mehr passieren. Sie hatte sich getäuscht. Das Gesicht des Kaderleiters verhieß nichts Gutes. Wegen dieser Frau, einer «politisch Unzuverlässigen», hatte ihn der Werkleiter vor aller Welt gedemütigt. Aber die Rache war sein. Er forderte Rosmarie auf, ihm zu folgen. Am Ende ihres Weges wusste sie, gegen die kommst du doch nicht an.

Ihr neuer Arbeitsplatz lag im Meisterhaus. In der unteren Etage befand sich der Musterbau, darüber die Materialwirtschaft. Dort gab es eine Abteilung, die nur aus einem Raum bestand, darin standen eng beieinander Tische mit Schreibmaschinen, auf denen täglich Tausende und Abertausende Arbeitsbegleitkarten getippt werden mussten. Auch das hatte nichts mit ihrer Qualifikation zu tun. Dennoch, formal entsprach die Arbeit den Anforderungen des Werkleiters. In Wirklichkeit war die neue Arbeit so stupid wie die alte. Der Kaderchef lächelte.

Da saß sie nun. Die Abteilungsleiterin spannte mehrere Bögen Papier ein, und los ging’s. Der Anschlag musste hart sein, damit auch der sechste Durchschlag noch lesbar war. Die Hoffnung, die sie nach dem Gespräch im Kabinett des Werkleiters trug, war verdorrt.

Die ungeliebte Arbeit kannte nur eine Abwechslung: Am Ende des Tages mussten die Karten auf die Bereiche verteilt werden. Sie übernahm die Botengänge gern. Einer führte ins Verwaltungsgebäude. Und so stand sie plötzlich wieder vor dem Werkleiter.

«Das ist ja eine Überraschung! Wie geht es Ihnen? Wie ist die neue Arbeit? Was macht der Kleine?»

Rosmarie druckste. Sie wollte ihn nicht schon wieder mit ihren Sorgen belästigen, aber auch nicht lügen. Das Gesicht des Werkleiters verfinsterte sich:

«Das glaube ich nicht.»

Dass der Kaderleiter die junge Frau schlecht behandelte, war schlimm genug. Dass er aber offen gegen die Anweisung des Chefs verstoßen hatte, das ging auf keinen Fall. Vom ersten Tag an, als er seinen Fuß in das Werk setzte, bemühte sich Lorenz, einen verlässlichen Kern von Mitarbeitern aufzubauen. Sonst war seine Mission zum Scheitern verurteilt. Allein konnte auch er das Werk nicht am Laufen halten. So holte er sich nach und nach Fritz als Parteisekretär, einen neuen Hauptbuchhalter, den Gewerkschaftsboss. Die meisten kamen aus Gotha, von denen wusste er, dass sie ihm nicht in den Rücken fielen. Nun war es nötig, einen neuen Kaderchef zu finden. Jemand, der offensichtlich im Dienste anderer stand – er konnte sich denken, wer das war –, durfte nicht auf diesem Platz bleiben.

«Wissen Sie was, Sie gehen jetzt zu Ihrer Chefin und sagen ihr einen schönen Gruß von mir und dass heute der letzte Tag war, den Sie dort verbracht haben.»

Er überlegte einen Augenblick.

«Morgen ist Freitag, Sie melden sich gleich früh in der Verwaltung, nicht in der Kaderabteilung! Dort sehen Sie sich um, was die so machen und welche Arbeit Ihnen gefallen könnte. Wenn jemand fragt, verweisen Sie auf mich oder schicken ihn gleich zu mir. Ich sage es Ihnen klar und deutlich: Sie suchen sich eine Arbeit aus, die zu Ihnen passt, egal, was andere sagen. Laufen Sie durch die Abteilungen, setzen Sie sich an den Tisch, probieren Sie die Sache aus, sprechen Sie mit den Verantwortlichen.»

Rosmarie schaute den Mann entgeistert an. Eigentlich hatte sie mit nichts gerechnet. Nun wuchs sich das Ganze zu einer Riesensache aus. Aufgeregt stolperte sie am nächsten Morgen in die Verwaltung. Sie hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte, sich einen Arbeitsplatz auszusuchen. Im Vorzimmer des Produktionsdirektors merkte sie schnell, es war vorgesorgt. Eine Frau schlug ihr vor, gemeinsam auf die Suche zu gehen.

«Sie sagen, dass Sie gut mit Zahlen umgehen können. Das passt. Ich glaube, da haben wir was für Sie. In der Planungsabteilung.»

Die Frau machte eine Pause, schaute Rosmarie fröhlich an:

«Wissen Sie, was mir daran am besten gefällt? Nein? Es ist der Hochsicherheitstrakt. Höchste Geheimhaltungsstufe. Dort laufen die Zahlen aus dem gesamten Werk zusammen. Sie sind dann eine von wenigen, die genau weiß, was hier tatsächlich gespielt wird. Da wird sich der Kaderchef freuen, wenn er erfährt, dass Sie hier arbeiten.»

Sie konnte sich vor Lachen kaum halten.

«Sie als ‹Politische› mitten im Heiligtum. Dort wird abends alles versiegelt, einschließlich der Türen. Alles, was am Tag verfasst wurde, kommt am Abend in den Tresor. Und Sie haben einen Schlüssel. Es ist fast wie in der Sparkasse. Nur dass es hier um Millionen geht. Die entweder produziert wurden oder eben nicht.»

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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