I

«Meine Herren!»

Das doppelte «r» rollte knurrend durch den Raum. Lorenz machte eine quälend lange Pause und schaute einen nach dem anderen an. Die versammelten Direktoren für Produktion, Technik und Absatz, den Parteisekretär, von dem er bereits wusste, dass er ihn auf dem kürzesten Weg gegen Fritz austauschen würde, denn einen, der hinter den Linien in den Rücken schoss, so einen konnte er bei dieser Höllenfahrt ganz gewiss nicht brauchen, schließlich die Reihe der Betriebsleiter, verantwortlich für Vorfertigung oder Rechen- und Schreibtechnik. Ein Unternehmen dieser Größe gab vielen Aktentaschenträgern ihr Auskommen. Und das nicht zu knapp.

Als er hereinkam, hatte die Runde entspannt über das sonnige Wochenende geplaudert. Nun hörten sie teils interessiert, teils gelangweilt dem Neuen zu, auf dass er endlich erklärte, was dieser Ausflug in die Niederungen der Moped-Kantine zu bedeuten hätte. Noch vor fünf Minuten hatten hier auf den Stühlen die Arbeiter der Motorenfertigung gesessen und ihre mitgebrachten Leberwurstbrote gekaut. Der Geruch von Muckefuck-Kaffee hing in der Luft. Die hastig für die Beratung zusammengeschobenen Tische waren mit einem nassen Lappen überwischt und glänzten schmierig. Das taugte allenfalls als Kulisse für die Versammlung einer Brigade, aber keinesfalls für das erste Gespräch des Werkleiters mit seinen Führungskräften. Genau jenen Leuten, mit denen er die Karre aus dem Dreck ziehen sollte.

Die Kantinenmitarbeiter hatten es offenbar nicht eilig, in die Küche zu verschwinden. Mit Spannung warteten sie darauf, was nun passierte. Dass sich ein Werkleiter je zu ihnen verirrte, daran konnten sie sich nicht erinnern. Dass er gleich mit dem gesamten Direktorat aufmarschierte, schien noch ungewöhnlicher. Und dass sie jetzt «jeden Tag» – und so hieß es wörtlich in dem Schreiben, das sie bekommen hatten –, «jeden Tag» zur gleichen Zeit eine Stunde hier tagen würden, das konnte erst recht niemand glauben. Hier bei ihnen in der Moped-Baracke. Dabei hatte der Werkleiter einen schönen Konferenzraum, sogar mit Eichenpaneelen. In dem ließ es sich viel bequemer debattieren. Jeder kannte die endlosen Sitzungen. Rauchen, Nicken, bedeutungsvoll Schweigen. Nicken. Rauchen. Nicken.

Nun hieß es zur Begrüßung nicht wie üblich «liebe Genossen», sondern «meine Herren». Das schien noch merkwürdiger als der Ort der Versammlung. Von diesem «Herren» wehte es kalt aus den alten Zeiten herüber. Zeiten, in denen die Direktoren aus Düsseldorf kamen und das Werk kein «VEB», sondern ein Rheinmetall-Betrieb war. Und wie der Neue das «Herren» aussprach, kam er mit Sicherheit nicht aus Russland, auch nicht aus Thüringen. Der kam auch von drüben.

Den «Herren» verging die Langeweile sofort. «Kurtchen» ließ sogar vor Aufregung seinen Zigarrenstummel in den Aschenbecher fallen. Er fühlte sich in jene Tage im Krieg versetzt, als er noch kein Direktor, sondern nur der Bürovorsteher eines Direktors war. Dank der Nähe zu Buchenwald und seinen billigen Arbeitskräften hatte sich das Werk zu einem der wichtigen Produzenten des Todes aufgebläht. Zünder für Bomben, Boden-Boden-Raketen, Maschinengewehre und sogar eine MPi mit krummem Lauf produzierten sie. Tausende russische, polnische, französische Zwangsarbeiter schufteten mit dem Rest an Deutschen für den Endsieg. Von damals wusste «Kurtchen», wie ein Direktor zu sein hatte. Das konnte man nicht kopieren, höchstens die Zigarre zwischen den Zähnen. Man wurde dazu geboren. Oder nicht. So viel Herablassung konnte keiner lernen.

Als die Genossen später ihm und keinem anderen die Leitung des Werks antrugen, fühlte er sich geehrt. Doch mit der Zigarre allein war es nicht getan. Seine Bilanz las sich verheerend. Nun war er froh, dass ihn der Neue nicht vom Hof jagte. Sollte sich der doch abstrampeln. Es waren schon so viele gekommen und wieder gegangen, längst wusste man ihre Namen nicht mehr. Auch dieser würde sich bald an den Realitäten des sozialistischen Wirtschaftens die Hörner abstoßen. Wo an einem Tag die Schrauben, am nächsten die Muttern und am dritten Tag beides fehlte, da musste er schon hexen können, um aus dieser Malaise herauszukommen.

Der neue Werkleiter riss «Kurtchen» aus seinen Betrachtungen, indem er seine Rede endlich fortsetzte.

«Obwohl es um das Werk schlecht steht, sehr schlecht, wie Sie wissen – es sind fast 30 Millionen Mark Plan- und Finanzschulden aufgelaufen, wir sind nicht nur der größte Schuldner im Bezirk, sondern in der ganzen Republik –, habe ich nicht vor, jemanden allein dafür verantwortlich zu machen. Sagen wir es so: Sie haben sich verirrt, sind zweimal falsch abgebogen, und ich will helfen, dass Sie den Weg wiederfinden. Ich habe nicht vor, einen von Ihnen zu entlassen, vorausgesetzt, er arbeitet bedingungslos für unser gemeinsames Ziel. Tun Sie das nicht, dann kann auch ich Ihnen nicht helfen.»

Erneut machte Lorenz eine Pause. Er wollte, dass ihr erstes Gespräch gut in Erinnerung haften blieb. Jedes Wort. Er hatte kaum geschlafen, und als ihn der Fahrer am Morgen um sechs Uhr mit dem «Wolga» in Gotha abholte, lief er schon auf Hochtouren. Wieder und wieder ging er seine kurze Ansprache durch. Die Stunde Fahrt von Gotha nach Sömmerda, durch den Wald über die Fahrner Höhen, ließ ihn die Sätze nochmals ordnen. Wusste er wirklich, worauf er sich da eingelassen hatte?

Es war Ende August. Lena und die Kinder machten noch Ferien beim Großvater auf der Krim, da bestellten sie ihn nach Erfurt, in die Eislebener Straße. Dahin, wo die SED-Bezirksleitung residierte, dort, wo die örtliche Macht saß. Er hatte keine Ahnung, worum es ging. Hatte es vielleicht etwas mit dem Mauerbau zu tun? Das ganze Land war aufgewühlt. Parolen auf der einen, Gruselreportagen im Westfernsehen auf der anderen Seite. Lorenz hatte sich kaum geäußert, auch wenn er den Schritt als klares Eingeständnis der Schwäche empfand. Aber ihm war klar, wer jetzt auf Distanz ging, der wurde aussortiert. Wer die Mauer nicht gut fand, der war ein Verräter. Und was es hieß, ein Verräter zu sein, das wusste er nur zu gut. Sein Bedarf an weiteren Erklärungen war gedeckt.

So fuhr er mit einem flauen Gefühl im Magen nach Erfurt, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. Aber auch das musste ja nichts bedeuten. Es war im Leben wie in der Fabel, das Zicklein konnte unmöglich den Wolf beim Trinken stören, er fraß es doch. Den «Ersten» Bezirkssekretär der SED – er hieß Alois und kam aus dem Böhmischen – hatte Lorenz bei einer «Auswertung» im Waggonbau kennengelernt. Das unausweichliche Trinkgelage der Funktionäre nach einem Rundgang durch die Produktionshallen hatte der Betrieb zu zahlen und gab dann den «teuren Gästen» auch noch Geschenke mit auf den Weg. Präsentkörbe, gefüllt mit Würsten und Schnaps oder etwas Begehrtem aus der Konsumgüterproduktion. Dass der oberste Parteichef das Glas gerne voll hatte, wusste jeder.

Doch der «Erste» hatte ihn nicht zu sich bestellt, um mit ihm anzustoßen. Die Anwesenheit des «Probierers» bei der Unterredung hieß, es musste wichtig sein. Der für Wirtschaftsfragen zuständige Sekretär der Bezirksleitung verdankte den Spitznamen seiner ausgeprägten Neigung, jedes neue Erzeugnis in den Betrieben anzufordern, um es persönlich «zu testen». Das betraf auch ein feuerrotes Wartburg-Sportcoupé von Melkus, das es so beim volkseigenen IFA-Vertrieb für gewöhnliche Sterbliche selbst nach hundert Jahren Wartezeit nicht gab.

Alois hielt sich nicht lange bei Vorreden auf:

«Kennst du das Büromaschinenwerk Sömmerda?»

«Hab schon davon gehört, dort war ich noch nicht.»

Lorenz zog es vor, sich zurückzuhalten. Noch war unklar, in welche Richtung das Gespräch führte.

«Großes Werk. Große Tradition. Leider auch große Probleme.»

«Na, dann gibt es bestimmt auch großartige Menschen, die sie lösen können», antwortete er.

«Eben nicht.»

«Es ist nicht nur ein großer Betrieb, sondern der größte im Bezirk», mischte sich der «Probierer» ein, «und wenn ihr mich fragt, auch der größte Sauhaufen!»

«Ja, Sauhaufen, das ist das richtige Wort! Millionen und Abermillionen Schulden. Auch im Export. Stell dir vor, selbst in die Sowjetunion. Und keine Aussicht auf Besserung. Die Genossen im ZK werden schon ungeduldig. Was haben wir nicht alles versucht. Stunden haben wir mit den Leuten in Sömmerda zusammengesessen, beraten, Beschlüsse gefasst, Papiere geschrieben, Konferenzen abgehalten. Sie haben immer wieder gelobt, dass sie es jetzt packen. Was kam dabei raus? Nichts. Nur warme Luft.»

«Und was kann ich tun?»

«Da hilft nur eine Rosskur, ich glaube, du bist der richtige Mann dafür.»

«Ich?»

«Ja, du. Technischer Direktor im Waggonbau ist schön und gut. Aber das kann doch nicht alles sein für dich? Werkleiter, das ist etwas ganz anderes. Zehntausend Leute. Solche Betriebe gibt es nur eine Handvoll im ganzen Land. Also, traust du dir das zu?»

Der Bezirksparteichef schaute Lorenz fast flehend an. Die Verzweiflung musste groß sein, wenn sie ausgerechnet einen «Ehemaligen» um Hilfe baten. Das war der Augenblick, an den Lorenz im Norden immer wieder gedacht hatte. Nicht er steht an der Tür und bittet, sondern sie bitten ihn. Weil sie es selbst nicht können, weil sie keine andere Wahl haben, weil sie wissen, dass er es kann.

Alois hatte sein Zögern offensichtlich missdeutet, fast schien es, als sackten seine gewaltigen Tränensäcke, die ihm das Aussehen eines Bernhardiners gaben, noch weiter herunter. Erneut begann er:

«Die Partei ist der Auffassung, du bist der Richtige.»

Sicher, das Angebot schmeichelte ihm. In Gotha lief es gut. Wenn nicht etwas Besonderes dazwischenkam, ließ sich die Arbeit an einem halben Tag erledigen. Den Rest hätte er auch zum Angeln gehen können. Ja, es reizte ihn, etwas Neues zu beginnen. Ein Unternehmen mit fast zehntausend Mann, das klang wie Leuna, Zeiss oder Schwarze Pumpe. Es würde ihn mit einem Schlag in die oberste Liga katapultieren. Schon sah er die bedepperten Gesichter all jener, die seinen Abgang in die Provinz als endgültige Verabschiedung von der Bühne betrachtet hatten. Was hatte ihm ein Kaden damals in Berlin gesagt, Lehrmeister, das ist doch genau richtig für dich …

«Danke für das Vertrauen, aber …»

Schon aus taktischen Gründen fand es Lorenz geboten, nicht sofort ja zu sagen.

«Wenn du das schaffst, bist du ein Held!»

«Danke, danke. Die meisten Helden, die ich kenne, hatten nur Stroh im Kopf. Hier braucht es kein Heldentum, sondern harte Arbeit. Was sind die Bedingungen?»

«Keine. Du hast freie Hand.»

«Kann ich mir meine Mannschaft selbst zusammenstellen?»

«Wenn du das willst, selbstverständlich.»

«Einschließlich Parteisekretär?»

«Einschließlich Parteisekretär! Ich sage doch, freie Hand. Hauptsache, du schaffst uns das Problem vom Hals.»

«Und 2800 Mark monatlich sind auch nicht zu verachten», warf der «Probierer» ein, nach seiner Logik das stechende Argument. «Das kriegt kaum ein Zweiter im Bezirk.»

«Nun, es scheint ja auch nicht gerade eine leichte Aufgabe zu sein. Dennoch: Ich mach’s. Aber nur unter meinen Bedingungen.»

«Egal welche. Schmeiß sie alle raus. Stell neue ein. Die Partei steht hinter dir. Also, abgemacht.»

Alois drückte auf den Knopf der Telefonanlage. Die Tür ging auf, die Sekretärin brachte ein Tablett mit drei Cognacgläsern herein.

 

Nun war er also in Sömmerda, und aus dieser abgeschabten Kantine sollte der Neubeginn kommen. Der Fortgang seiner kurzen Rede ließ die Gesichter um ihn herum erstarren:

«Was ich aber in jedem Fall tun werde, meine Herren, falls es so weitergeht wie bisher …» Lorenz durchbohrte mit seinem Blick den Produktionsdirektor, nicht weil der besonders herausfordernd schaute, nein, weil er mit jedem seiner Sätze das Gefühl vermitteln wollte, nicht die anonyme Masse, sondern jeder Einzelne persönlich sei gemeint. «… ich kürze Ihnen Ihre Gehälter samt Ihren üppigen Rentenansprüchen. Jedem Einzelnen. Jedem, der nicht in seinem Verantwortungsbereich dafür sorgt, dass die ihm gestellten Aufgaben erfüllt werden. Jeden Tag.»

Ich weiß, eure Rentenansprüche sind euch heilig, dachte Lorenz, dann tut etwas dafür.

«Ab sofort findet täglich punkt zehn an diesem Platz ein Rapport statt. Erscheinen ist Pflicht. Ausnahmen sind bei mir zu beantragen. Schriftlich. Jeder spricht in wenigen Sätzen über den Stand der Planerfüllung in seinem Bereich. Bitte keine allgemeine Erläuterung der Parteibeschlüsse. Glauben Sie mir, die kenne ich besser als Sie. Höchstens eine Stunde, eher weniger, mehr Zeit haben wir nicht. Und noch eins, nicht von den Arbeitern, von uns hängt ab, ob der Motor läuft oder nur stottert. Ich bin entschlossen, ihn wieder zum Laufen zu bringen, und rechne mit Ihrer Unterstützung. Wer das nicht will, der sollte sich schnell einen anderen Arbeitsplatz suchen.»

In das entsetzte Schweigen hinein bat er die Herren nun, sich kurz vorstellen. Die standen auf, nannten Namen und Funktion, verloren ein paar Worte zu ihrer Arbeit und setzten sich wieder, fest davon überzeugt, dass sich die Sache in der Moped-Kantine alsbald erledigen würde. Ein, zwei Aufzüge «an der Basis» mochten gut für die Außendarstellung sein – nach dem Motto «Seht her, wie nahe ich bei den Arbeitern bin» –, aber im Alltag würde sich das nicht durchhalten lassen.

Der Rapport am Tag darauf begann so, wie es Lorenz befürchtet hatte. Kurz und präzise etwas zur eigenen Arbeit zu sagen, das hatten die meisten nicht gelernt. Die Vorträge hörten sich an wie Auszüge aus einem Parteitagsbericht im Zentralorgan. Als auch der dritte Redner anhob, die internationale Lage zu erklären, platzte ihm der Kragen:

«Sie können gewiss sein, ich weiß, wo Moskau und Peking liegen. Also hören Sie auf damit, hier geht es nicht um politischen Nachhilfeunterricht, sondern um Produktion. Wir reden hier von Meerane und nicht von Zakopane. Wenn ich noch einmal in dieser Runde das Wort ‹Revanchisten› oder ‹Weltfrieden› höre, schicke ich Sie raus, und ein anderer übernimmt Ihre Aufgabe. Sie können sich ein paar Notizen auf einer Seite machen. Nicht mehr. Ich will Zahlen hören, keine Parolen. Wie viele Maschinen haben wir produziert, wie viele Maschinen sind wir schuldig geblieben, wer trägt Verantwortung für die Ausfälle? Wenn hier jeder seine Meinung zur politischen Weltlage anbringt, sitzen wir in der Nacht noch da. Sie können Ihre Aufgabe nicht erfüllen? Warum nicht? Was brauchen Sie, um diesen Zustand zu beenden? Was haben Sie unternommen? Kurz, klar.»

Am dritten Tag trafen sich die Direktoren eine halbe Stunde vor dem Rapport und trugen sich gegenseitig die Berichte vor:

«Meinst du, das geht?»

«Bist du sicher, dass er das schluckt?»

«Was sage ich, wenn er wissen will, warum die fünf Maschinen nicht gekommen sind?»

«Da antwortest du, wie es ist: Die Vorfertigung hat geschlampt. Sollen die doch zusehen, wie sie es ausbaden.»

Am Montag im Oktober hatten sie ihren ersten Rapport.

Am Freitag erfüllte das Werk erstmals seit Jahren den Plan.

Nach vierzehn Tagen folgte ein letzter Absturz, danach eine Stunde Auswertung in der Moped-Kantine, von der die meisten Beteiligten hofften, dass sie so etwas kein zweites Mal würden erleben müssen. Ab dem 8. November brannte täglich der rote Stern auf dem Kulturhaus als weithin sichtbares Zeichen der Planerfüllung. Ursprünglich für reine Propagandazwecke angeschafft, zeigte der leuchtende Stern eine ungeahnte Wirkung auch nach innen. Jeder, der kam oder ging, konnte sehen, wie es um die Arbeit stand. Das anfängliche Murren über die «russischen Methoden» hörte bald auf. Die Schulden nahmen ab, der Prämienfonds wuchs. All jene, die sich nur mit politischen Phrasen über Wasser hielten, und deren gab es ab der mittleren Leitungsebene viele, verstummten. Zahlen bestimmten den Tagesablauf. Die Neuerungen des Werkleiters waren vor allem für Chefs unbequem. Für die Arbeiter bedeutete die tägliche Erfüllung der vorgegebenen Produktionszahlen weniger Überstunden und keine Sonderschichten. Das Geld stimmte trotzdem.

Doch der plötzliche Aufbruch in Sömmerda schaffte nicht nur Freunde. Die Spitze der VVB, aber auch die Genossen in der Bezirksleitung, die eben noch verzweifelt nach einem Ausweg gesucht hatten, befiel tiefes Misstrauen. Wie konnte es sein, dass sie jahrelang Beschlüsse fassten und nichts geschah, und dann brachte einer fast im Alleingang die Mannschaft auf Trab? Wie standen sie da, vom Generaldirektor der VVB in Erfurt bis zum Minister in Berlin? Als Versager. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Die Folge war eine Tiefenprüfung nach der anderen. Und keine davon in guter Absicht. Doch es ließ sich nichts finden; die Bücher stimmten. Zufriedene Kunden in Dutzenden Ländern ließen sich nicht täuschen. In Frankreich wurde inzwischen jede dritte Rechnung im Handel mit einer Fakturiermaschine aus Sömmerda geschrieben, während die Russen auf immer größere Lieferungen drängten.

Dann, endlich, glaubte man, auf etwas gestoßen zu sein, das sich gegen den neuen Werkleiter einsetzen ließ. In Berlin wurde eine Kommission zusammengestellt. Mehrere große schwarze Wagen fuhren am Werktor vor, einer dicker als der andere. Der Pförtner hatte kaum Zeit, im Sekretariat Bescheid zu geben, da waren die hohen Herren, an der Spitze der stellvertretende Minister, schon auf der Treppe. Lorenz sah sie aus dem Fenster und wusste, was kam. Der schwarze Tatra auf dem Hof war ein überdeutliches Zeichen. Die tschechische Luxuslimousine stand nur der obersten Nomenklatura zu. Es wurde ernst.

Er klemmte die Mappe unter den Arm und verließ sein Kabinett Richtung Moped-Kantine. Es war fünf vor zehn. Verspätungen konnte er nicht leiden. Inzwischen hatten es sich die Berliner im Konferenzraum bequem gemacht. Als er nach einer Stunde zu ihnen kam, schlug ihm die blanke Ablehnung entgegen. So etwas Ungeheuerliches, eine derartige Missachtung ihrer Wichtigkeit, das hatten sie noch nicht erlebt. Schon gar nicht in der Provinz. Aber der Genosse Minister – auch als Stellvertreter musste er mit dem Titel angesprochen werden – wusste ja, wo man in den Büchern zu suchen hatte, ein Tipp aus Erfurt … Nach eisiger Begrüßung ließen sie sich die Unterlagen bringen. Lorenz blieb höflich, fragte, ob er die Herrschaften zum Essen in der Werkskantine einladen dürfe, es gebe Linsensuppe. Der Minister lehnte dankend ab. Man wolle ja schließlich hier in dem … na, jedenfalls wolle man hier nicht übernachten. Das Wort «Nest» verkniff er sich.

Am späten Nachmittag, Lorenz war gerade dabei, liegengebliebene Korrespondenz zu erledigen, klopfte es, und gleichzeitig mit dem «Herein» strömte die Berliner Abordnung in sein Zimmer. Das Gesicht des Ministers strahlte Zufriedenheit aus. Triumphierend legte er einen Ordner auf die Schreibtischplatte und nahm bereitwillig die angebotene «Orient». Lorenz reichte ihm ein Streichholz, dann zündete auch er sich eine Zigarette an. Er konnte es körperlich fühlen, wie sich der Raum mit Spannung auflud. Auch wenn er sicher war, dass es in den Büchern keine weichen Stellen gab, ein Restrisiko blieb immer.

«Nun, womit kann ich helfen?»

Der Minister wälzte sich im Sessel und blies den Zigarettenrauch genussvoll in den Raum:

«Es tut mir leid, Genosse Lochthofen, aber was Sie hier machen, ist ungesetzlich. Sie verschleudern Volksvermögen und schaden dem Staat. Das kann so nicht bleiben.»

Lorenz zog betont langsam an seiner Zigarette. Er überlegte, wie er diesem direkten, in seiner Feindseligkeit kaum verhüllten Angriff begegnen sollte. Ruhig bleiben, immer ruhig, befahl er sich, auch wenn ihm das Blut in den Schläfen pochte.

«Das kann ich mir nicht vorstellen. Jede Rechnung ist geprüft.»

«Und doch ist es so.»

«Das würde ich gerne sehen.»

Der Minister winkte lässig einem seiner Mitarbeiter. Der schlug den Ordner an einer gekennzeichneten Stelle auf.

«Weißt du das nicht? Es gehört zum Einmaleins des sozialistischen Leitens und Planens: Das Auszahlen doppelter Prämien ist verboten.» Der Minister tippte auf eine Zahlenkolonne.

Lorenz reagierte mit einer ungläubigen Grimasse.

«Doppelte Prämien? Das müsste ich wissen.»

Er schaute die Zahlenreihe an, las aufmerksam die danebenstehenden Namen, blätterte im Ordner ein paar Seiten weiter, dann wieder zurück und schüttelte den Kopf:

«Von doppelten Prämien sehe ich nichts.»

Der Minister bekam rote Flecken im Gesicht. Mit so viel Dreistigkeit hatte er nicht gerechnet. Er hatte schon einiges über diesen Mann gehört, von seinen ungewöhnlichen Methoden und der Beliebtheit, die er bei seinen Arbeitern genoss. Doch er hatte ihn für klüger gehalten. Sie hatten ihn überführt, und anstatt sich im Staub zu wälzen, tat er dumm und widersprach noch. Ein Verhalten, das förmlich nach Bestrafung schrie.

«Zeig es ihm!»

Der Mitarbeiter holte eine lange Liste hervor und legte sie für seinen Chef gut einsehbar auf den Tisch.

«Lieber Genosse Lochthofen, wie du unschwer erkennen kannst, stehen auf den Seiten dieselben Namen. Erst die Prämie Nummer eins, dann in diesem Ordner die Prämie Nummer zwei. Es geht hier nicht um Pfennige. Da sind es 300 und hier nochmals 300 Mark. Ich verstehe ja gut, dass dich die Arbeiter dafür lieben. Aber das ist ungesetzlich. Wenn es nur ein paar Fälle wären, ließe sich darüber reden, aber es sind Hunderte. Das sind Hunderttausende Mark. Ich bin nicht gewillt, einen solchen Bruch der sozialistischen Gesetzlichkeit zu tolerieren. Du wirst dich dafür vor der Partei verantworten müssen. Auch wenn es mir angesichts deiner Verdienste um das Werk schwerfällt. Gesetz ist Gesetz. Das gilt auch für einen Lochthofen.»

Der Minister drückte die Zigarette aus. Er lächelte. Lorenz senkte den Kopf über das Papier und schaute sich die Seiten in aller Ruhe an. Dann lächelte auch er.

«Ich glaube, ihr habt da etwas übersehen. Es gibt keine doppelten Prämien. Was es gibt, sind im Einzelfall begründete Sonderzahlungen. Nur der Werkleiter darf sie aussprechen. Und das habe ich getan.»

«Achthundert Sonderzahlungen, jede einzeln von dir begründet?»

«Ja. Jede einzelne begründet und von mir abgezeichnet. Ihr habt nur in die ersten beiden Ordner geschaut? Das tut mir leid. Ihr hättet auch in den dritten sehen müssen. Da sind die Durchschläge mit den Begründungen abgeheftet. Und wenn ihr die lest, dann stellt ihr fest, dass jede Sonderzahlung berechtigt ist. Keine Begründung gleicht der anderen. Ich denke, eine außerordentliche Leistung verlangt nach einer außerordentlichen Anerkennung. Die Russen sagen an dieser Stelle: Die gebende Hand darf nicht zittern.»

Er streckte seine rechte Hand aus:

«Seht ihr, sie zittert nicht.»

Schnell zog der Minister den dritten Ordner an sich und blätterte hastig die dünnen Seiten des Durchschlagpapiers um. Bereits nach den ersten drei Fällen, die er wahllos herausgriff, war ihm klar: Sehr wohl wurden zur Stimulierung der Leistung in Sömmerda doppelte Prämien gezahlt, nur konnte man daraus keinen Strick drehen. Jeder Antrag war knapp gehalten, aber immer individuell begründet. Da war nichts zu machen.

Der Minister stand auf, ließ die drei Ordner von seinen Mitarbeitern einpacken und verabschiedete sich kühl.

Lorenz blieb noch eine Weile in seinem Sessel sitzen, dann stand auch er auf und startete fröhlich, wie ihn sein Sekretariat in den vergangenen Tagen selten erlebt hatte, zu einem seiner geliebten Inspektionsgänge durch die Werkhallen.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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