2012

Der Umschlag war dünn. Enttäuschend dünn. Ich schüttete den Inhalt des Kuverts auf den Tisch, mehrere lose Blätter rutschten auf das polierte Holz.

Viel hatte ich von seiner Stasi-Akte ohnehin nicht erwartet. Bereits im Bundesarchiv, wo die Kaderunterlagen aus dem ZK angelandet waren, offenbarte die Mappe Lorenz Lochthofen kaum Neues. Ein paar persönliche Daten, zwei Briefe an Pieck, mehrere Fragebögen und handgeschriebene Lebensläufe, dazu ein Briefumschlag, bei dem ein Sammler die russische Briefmarke herausgerissen hatte, und eine belanglose Postkarte. Der Apparat hinterließ keine Spuren. Was auf den Fluren des Machtzentrums in Ostberlin gedacht oder gesprochen wurde, wer einen Aufstieg beförderte, wer ihn zu verhindern suchte, keine noch so geringe Notiz aus einem Gespräch ließ auf Hintergründe, auf Absichten schließen. Eine fast sterile Parallelwelt.

Ob die Staatssicherheit Order hatte, sich fernzuhalten, die Partei ihren inneren Kreis abschirmte oder frühe Eintragungen irgendwann gesäubert wurden, lässt sich anhand des vorliegenden Materials nicht sagen. Seltsam bleibt es in jedem Fall, denn dass die Stasi im Büromaschinenwerk Sömmerda ständig am Sammeln und Wühlen war und der Werkleiter davon nicht verschont blieb, dafür gibt es ausreichend Belege.

Dennoch, zwei Eintragungen aus den letzten Jahren in Bad Liebenstein machen eine Ausnahme. Das «Hager»-Dossier 1987 und die «Weber»-Sache 1989, angelegt einen Tag vor dem Tod meines Vaters, am 14. September 1989. Beide Vorgänge erscheinen aus heutiger Sicht allenfalls surreal, Nachrichten aus einer Welt, die man selbst als Zeuge der Ereignisse kaum noch zu verstehen vermag. Wie krank musste eine Gesellschaft sein, wenn sie selbst «den Eigenen» bis über den Tod hinaus nicht traute?

Die Geschichten sind schnell erzählt. Eines Tages hat ein älterer Herr, er schreibt noch Sütterlin, die Nase voll von dem dummen Geschwätz im Politbüro und schickt dem für Ideologie- und Kulturfragen zuständigen Kurt Hager einen Brief. Der Inhalt lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der geschätzte Genosse Prof. Hager habe keine blasse Ahnung von Marx. Was überall in der Welt als belanglos abgetan würde, wächst sich in der bleiernen DDR-Endzeit zur Gotteslästerung aus. Ein halbes Dutzend Stasi-Offiziere nimmt Witterung auf und glaubt sich bald einer großen Sache auf der Spur. Denn Name und Adresse des Absenders sind fingiert. Sie gehören dem verstorbenen Besitzer einer privaten Autowerkstatt, der sich mit theoretischen Fragen des Marxismus nie, sondern immer nur mit dem praktischen Nutzen der real existierenden Mangelwirtschaft befasste. Der federführende Major Ebert der Bad Salzunger Dienststelle des MfS fertigt in kürzester Frist ein Täterprofil an:

«Bei dem Schreiber des Briefs muss es sich um einen kampferfahrenen, studierten Genossen handeln, welcher über 60 Jahre ist. Nach den vorliegenden Erkenntnissen ist dieser Brief dem Genossen Lochthofen zuzuordnen. Er wird als schwieriger Mensch eingeschätzt.»

Was folgt, ist eine aufwendige Schriftanalyse, an deren Ende feststeht, dass Lorenz Lochthofen den Brief nicht geschrieben hat. Doch Major Ebert gibt sich so leicht nicht geschlagen. Eines weiß er genau: Der Klassenfeind ist ein Meister im Verstellen. Wenn die Schriftprobe nicht weiterhilft, die Spucke hilft bestimmt. Jemand muss den Briefumschlag ja zugeklebt haben. Es dauert Wochen, dann die eindeutige Antwort aus dem Speziallabor: Bei dem Gesuchten muss es sich um eine «männliche Person mit der Blutgruppe A» handeln. Da man diesen Lochthofen für eine Gegenprobe nicht einfach anzapfen kann, werden Stasi-Zuträger in weißen Kitteln bemüht. Der eine weiß, wann der Verdächtige zuletzt operiert wurde, der andere besorgt heimlich aus der Klinik in Bad Berka die Angaben über die Blutgruppe. Sieben Monate nachdem die Geschichte im Hager-Büro in Berlin ihren Anfang genommen hat, steht fest: Blutgruppe 0 Rhesusfaktor negativ. Lorenz Lochthofen ist definitiv nicht der Autor des Briefes.

Ein kleines Detail gibt Auskunft über die innere Verfasstheit des Geheimdienstes: Der Stasi-Major versäumt in seinem Bericht nicht zu erwähnen, dass nach seinen Ermittlungen der Verdächtige «früher Mitglied des ZK der KPdSU, etwa in der Zeit von 1940 bis 1946» gewesen sei.

Das Lager mit dem Kreml zu verwechseln, das hätte meinen Vater köstlich amüsiert.

Weniger unterhaltsam ist die letzte Notiz in seiner Stasi-Akte. Hier schließt sich der Kreis: Was der NKWD vor 52 Jahren begonnen hatte, sucht das MfS zu vollenden. Ein Stasi-Mitarbeiter der für Aufdeckung von Nazi- und Kriegsverbrechen zuständigen Abteilung löst vier Tage nach dem Tod meines Vaters einen «streng geheimen» Suchauftrag aus, mit der Absicht nachzuweisen, dass Lorenz Lochthofen nicht Lorenz Lochthofen war. Vielleicht ein Agent der internationalen Bourgeoisie, ein Spion, ein Saboteur? Auf der Suche nach Beweisen werden neben den üblichen Stasi-Quellen auch Nazi-Fahndungslisten und Aufzeichnungen deutscher Emigranten aus dem sowjetischen Exil überprüft. Darunter die Tagebücher von Herbert Wehner.

Das pathologische Misstrauen des Geheimdienstes hat seine Ursache in einer falschen Zeile in einem Standardwerk des Mannheimer Historikers Hermann Weber, wo es im letzten Satz der Kurzbiographie von Lorenz Lochthofen heißt: «Zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt, kam im Lager ums Leben.»

Die fünf letzten Worte versetzen den MfS-Mitarbeiter in Erregung. Doch weit kommt er mit seinen Recherchen nicht. Denn nur wenige Wochen später hat die Stasi ganz andere Sorgen, es geht um ihre eigene Existenz.

Mein Vater hat den Wende-Herbst nicht erlebt. Über seinen Kommentar kann man nur spekulieren. Doch an seiner Grundüberzeugung hätte auch das Ende des sozialistischen Experiments nichts geändert: Nach der doppelten Katastrophe der ersten Jahrhunderthälfte, nach Terror und Krieg, musste neu begonnen werden. Vor die Wahl gestellt, in der Sowjetunion zu bleiben oder zurück ins Ruhrgebiet zu gehen, entschied er sich für die DDR. Doch mit Bitterkeit musste er im Alter feststellen, Stalins Büste vom Sockel zu stoßen, das war schnell getan, das «Stalintum» zu überwinden, nicht.

Nie sprach er von «Stalinismus», der Anhäufung kruder Glaubenssätze, sondern immer nur von «Stalintum», einer durch und durch inhumanen und intoleranten Grundhaltung, die auch die Vernichtung Andersdenkender durch das höhere Ziel rechtfertigte. Eine bessere Gesellschaft ließ sich so jedenfalls nicht erreichen.

 

Das Leben von Lorenz Lochthofen ist die Geschichte von einem, der überlebt hat. Könnte man die Toten fragen, würden sie uns andere Geschichten erzählen.

Hatte mein Vater Glück?

Ja, er hatte Glück.

Aber nicht nur. Zuerst wusste der NKWD mit dem Deutschen nichts anzufangen, dann orderte Moskau neue Opfer für einen Schauprozess. Die Provinz war stolz, liefern zu können. Er wurde nicht sofort erschossen. Er hatte Glück. Dass er in Workuta in einer Werkstatt unterkam, auch das war ein großes Glück für ihn. Wie jeder Betrieb im Sozialismus musste der Gulag den Plan erfüllen, nicht nur an Toten, auch an Tonnen Stahl und Kohle. Wenn der NKWD versagte, dann waren die Lagerchefs selbst dran. Als Journalist wäre der Vater an den Entbehrungen wie viele andere in der Tundra krepiert, als erfahrener Mechaniker wurde er in Workuta gebraucht.

Neun Jahre Haft und über zehn Jahre Verbannung haben meinen Vater nicht gebrochen. Er blieb zeit seines Lebens trotz aller Grausamkeiten, die er erlebt hatte, tief davon überzeugt, dass es außer dem eigenen Vorteil auch noch etwas anderes gibt: Anstand. Für ihn war das nie eine politische Kategorie, sondern immer eine zutiefst menschliche.

Der Historiker Herrmann Weber rief mich kurz nach der Wende an, verwundert, dass der im Lager Verstorbene offenbar Kinder hat. Er hatte sich in seiner Arbeit auf mündliche Überlieferungen derer gestützt, die aus den Lagern zurückkehrten. Ihre Angaben ließen sich in der Regel nicht überprüfen. So verbuchte er Lorenz Lochthofen unter den Toten.

Noch immer liegt nachweislich Material zum Schicksal vieler unschuldig Verfolgter in den Archiven des russischen Geheimdienstes – so auch zu meinem Vater und meinem Großvater. Es kann nicht eingesehen werden.

Die Erben der Mörder des «Großen Terrors» halten bis heute die schützende Hand über ihre geistigen Vorfahren.

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
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