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Die Bedeutung von Lucans Worten hallte in ihnen nach, als sie aus dem Fahrzeug ausstiegen und den Fahrstuhl im Flottenhangar nahmen, um zum Quartier hinunterzufahren. Auf der Fahrt verschränkte die neben Lucan stehende Gabrielle ihre Finger mit seinen. Schock und Mitgefühl ergriffen ihr Herz, und als er zu ihr hinüberblickte, wusste sie, dass er die Besorgnis in ihren Augen lesen konnte.

Gabrielle sah ähnlich besorgte Blicke auch in den Augen von Lucans Kriegerbrüdern, eine unausgesprochene Bestätigung dessen, was diese Entdeckung bedeutete.

Irgendwann würde Lucan in die Situation kommen, seinen eigenen Bruder töten zu müssen.

Oder von ihm getötet zu werden.

Gabrielle hatte kaum eine Möglichkeit, diese schreckliche Neuigkeit zu verarbeiten, als sich schon die Fahrstuhltüren öffneten. Davor standen Savannah und Danika, die sehnsüchtig auf die Rückkehr der Krieger gewartet hatten. Es folgten eine erleichterte Begrüßung, Dutzende von Fragen über das Ergebnis der nächtlichen Mission, ebenso die besorgte Nachfrage, was um alles in der Welt Gabrielle dazu gebracht hatte, das Gelände zu verlassen, ohne ein Wort zu irgendjemandem zu sagen. Gabrielle war zu müde, um darauf zu antworten; zu erschöpft von der ganzen Tortur des heutigen Tages, um auch nur zu versuchen, das auszudrücken, was sie fühlte.

Aber sie wusste, dass sie bald einige Antworten geben musste, wenigstens Lucan gegenüber.

Sie beobachtete, wie er von den anderen Kriegern hinausbegleitet wurde, sie waren vertieft in Beratungen über Taktiken und Strategien im Kampf gegen die Rogues. Gabrielle wurde von Savannah und Danika rasch in die entgegengesetzte Richtung gezogen. Diese machten sich Sorgen um ihre diversen Kratzer und Blutergüsse und bestanden darauf, dass sie ein warmes Essen zu sich nahm sowie ein heißes Bad.

Gabrielle stimmte widerstrebend zu, aber nicht einmal Savannahs fantastische Kochkünste oder das warme, duftende Bad vermochten sie zu entspannen.

In ihrem Kopf drehte sich alles, wenn sie an Lucan, Jamie und die Ereignisse dieser Nacht dachte. Sie verdankte Lucan ihr Leben. Sie liebte ihn mehr als alles andere auf der Welt, würde ihm immer dankbar sein, dass er sie heute Nacht gerettet hatte, aber dennoch: Sie konnte nicht vergessen, was vorher zwischen ihnen geschehen war. So konnte sie auf keinen Fall im Hauptquartier bleiben. Und gleichgültig, was er sagte, sie würde in keinen der Dunklen Häfen ziehen.

Was für Möglichkeiten gab es also für sie? In ihre Wohnung konnte sie nicht zurückkehren. Unmöglich, sich wieder in ihr altes Leben einzufinden. Wenn sie jetzt versuchte, dorthin zurückzukehren, würde sie alles verleugnen müssen, was sie in diesen vergangenen Wochen mit Lucan erlebt hatte, und würde sich schwertun, ihn vergessen zu können. Sie würde alles verleugnen müssen, was sie nun über sich selbst und über ihre Verbindung zum Stamm wusste.

Die Wahrheit war, dass sie nicht wusste, wohin sie gehörte. Sie wusste auch nicht, wo sie mit der Suche beginnen sollte, aber als sie durch die labyrinthartigen Gänge des Hauptquartiers wanderte, fand sie sich plötzlich vor Lucans Privaträumen wieder.

Die Tür zum Hauptbereich der Wohnung war angelehnt, und sanftes Licht drang heraus. Gabrielle drückte sie weiter auf und trat dann ein.

In dem angrenzenden Schlafzimmer flackerte Kerzenlicht. Sie folgte der aus dem Raum dringenden Wärme bis zur Türschwelle und blieb dort voller Erstaunen über den Anblick, der sich ihr bot, stehen. Lucans schmuckloses Schlafzimmer hatte sich in einen Traum verwandelt. In allen vier Ecken brannte eine große schwarze Kerze, jede in einem silbernen Kerzenhalter mit verschlungenem Muster. Rote Seide bedeckte das Bett. Auf dem Fußboden vor dem Kamin befand sich ein bequemes Nest aus weichen Kissen und noch mehr karmesinroter Seide. Es sah ungeheuer romantisch aus, ungeheuer einladend.

Ein Zimmer wie für die Liebe gemacht.

Sie betrat den Raum. Hinter ihr schien sich die Tür leise von selbst zu schließen.

Nein, nicht ganz von selbst. Lucan stand da, auf der anderen Seite des Raumes, und sah sie an. Sein Haar war feucht von der Dusche, die er gerade genommen hatte. Er trug einen lose zusammengebundenen roten Morgenmantel aus rotem Satin, der ihm bis auf die bloßen Waden reichte, seine Augen waren voller Erregung, ein Blick, der sie auf der Stelle dahinschmelzen ließ.

„Für dich“, sagte er und deutete auf das romantische Liebesnest. „Für uns, für heute Nacht. Ich möchte, dass dies hier für dich etwas Besonderes wird.“

Gabrielle war gerührt und erregt von seinem Anblick, doch konnte sie nach dem, wie sie sich heute voneinander verabschiedet hatten, nicht mit ihm schlafen.

„Als ich heute Nacht gegangen bin, wollte ich eigentlich nicht zurückkommen“, sagte sie aus sicherer Entfernung zu ihm. Sie glaubte nicht, dass sie die Kraft hatte, das zu sagen, was gesagt werden musste, wenn sie ihm näherkam. „Ich kann das nicht mehr, Lucan. Ich brauche Dinge von dir, die du mir nicht geben kannst.“

„Nenne sie.“ Es war ein sanfter Befehl, aber trotzdem ein Befehl. Er ging vorsichtig auf sie zu, als ob er spürte, dass sie ihm jeden Augenblick weglaufen könnte. „Sag mir, was du brauchst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Wozu sollte das gut sein?“

Er machte noch ein paar langsame Schritte auf sie zu und hielt erst eine Armlänge vor ihr an. „Ich möchte es gerne wissen. Ich würde gerne wissen, was nötig wäre, um dich davon zu überzeugen, bei mir zu bleiben.“

„Heute Nacht?“, fragte sie leise und hasste sich selbst dafür, wie sehr sie sich nach dem, was sie in diesen vergangenen Stunden durchlebt hatte, wünschte, von ihm in den Arm genommen zu werden.

„Ich will dich, und ich bin bereit, dir alles zu geben, was du brauchst, Gabrielle. Also sag mir, was du brauchst.“

„Dein Vertrauen“, antwortete sie und war davon überzeugt, dass das etwas war, was er ihr unmöglich geben konnte. „Ich kann nicht … kann das hier nicht mehr, wenn du mir nicht vertraust.“

„Ich vertraue dir“, sagte er so ernsthaft, dass sie es ihm tatsächlich glaubte. „Du bist die Einzige, die mich je wirklich gekannt hat, Gabrielle. Es gibt nichts, was ich vor dir verbergen kann. Du hast alles gesehen – und ganz sicher meine schlimmste Seite. Ich möchte die Chance haben, dir etwas von dem Guten in mir zu zeigen.“ Er kam noch ein Stück näher. Sie konnte die Hitze spüren, die von seinem Körper ausging. Und sie konnte sein Verlangen spüren. „Ich will, dass du dich bei mir so sicher fühlst, wie ich mich bei dir sicher fühlen darf. Also, die Frage ist, kannst du mir vertrauen, wenn du all das über mich weißt, was du weißt?“

„Ich habe dir immer vertraut, Lucan. Und das werde ich immer tun. Aber das ist nicht …“

„Was sonst noch?“, fragte er, ihr ins Wort fallend. „Sag mir, was ich dir sonst noch geben kann, um dich zum Bleiben zu bewegen.“

„Das wird nicht funktionieren“, sagte sie und ging langsam rückwärts. „Ich kann nicht bleiben. Nicht auf diese Art. Nicht wenn mein Freund Jamie …“

„Er ist in Sicherheit.“ Als Gabrielle Lucan verwirrt ansah, sagte er: „Ich hatte Dante an die Oberfläche geschickt, um nach ihm zu suchen, bald nachdem wir zurückgekehrt waren. Er hat vor ein paar Minuten berichtet, dass er deinen Freund aus einer Polizeiwache in der Innenstadt abgeholt und ihn nach Hause gebracht hat.“

Erleichterung erfüllte sie, doch schlug diese sofort in Besorgnis um. „Was hat Dante zu ihm gesagt? Hat er Jamies Erinnerung gelöscht?“

Lucan schüttelte den Kopf. „Ich dachte, es sei nicht fair, diese Entscheidung für dich zu treffen. Dante hat ihm erzählt, dass du ebenfalls in Sicherheit bist und dass du dich bald bei ihm melden wirst, um alles zu erklären. Was du deinem Freund erzählen möchtest, liegt in deinem Ermessen. Siehst du? Vertrauen, Gabrielle.“

„Ich danke dir“, murmelte sie. Ihr war angesichts dieser Rücksichtnahme ganz warm ums Herz geworden. „Ich danke dir, dass du mir heute Nacht geholfen hast. Du hast mir das Leben gerettet.“

„Und warum hast du dann jetzt Angst vor mir?“

„Ich habe keine Angst“, erwiderte sie, aber sie wich immer noch vor ihm zurück, bis sie plötzlich gegen das Bett hinter sich stieß. Nun war ihr der Fluchtweg versperrt. Von einem Augenblick zum anderen stand er direkt vor ihr.

„Was willst du noch von mir, Gabrielle?“

„Nichts“, antwortete sie, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Überhaupt nichts?“, entgegnete er, seine Stimme klang dunkel und fordernd.

„Bitte. Bring mich nicht dazu, heute Nacht bei dir bleiben zu wollen, wenn du doch morgen willst, dass ich gehe. Lass mich jetzt gehen, Lucan.“

„Das kann ich nicht.“ Er nahm ihre Hand und hob sie an die Lippen. Sein Mund war warm und sanft an ihren Fingerspitzen und verzauberte sie, wie nur Lucan es konnte. Er zog ihre Hand an seinen Körper und drückte ihre Handfläche gegen seine Brust, wo sein Herz hart pochte, wie ein Trommelschlag, der gegen seine Rippen hämmerte. „Ich kann dich nie wieder gehen lassen, Gabrielle. Denn ob du es willst oder nicht, du besitzt mein Herz. Und du besitzt meine Liebe. Wenn du sie annimmst.“

Sie schluckte hart. „Was?“

„Ich liebe dich.“ Die Worte waren leise und ernsthaft, und sie spürte sie wie eine Liebkosung in ihrem Inneren. „Gabrielle Maxwell, ich liebe dich mehr als das Leben selbst. Ich war so lange allein, dass ich es nicht erkennen konnte, bis es fast zu spät war.“ Nun schwieg er und forschte intensiv in ihren Augen. „Es ist nicht … zu spät, oder?“

Er liebte sie.

Freude, rein und hell, strömte durch Gabrielle, als sie diese Worte aus Lucans Mund hörte.

„Sag das noch einmal“, flüsterte sie. Sie musste sich einfach vergewissern, dass dieser Moment real war, dass er nicht vergehen würde.

„Ich liebe dich, Gabrielle. Mit jeder Faser meines Seins liebe ich dich.“

„Lucan.“ Sie seufzte seinen Namen. Aus ihren Augen quollen Tränen, liefen ihr über die Wangen.

Er zog sie in die Arme und küsste sie innig, ihre Münder fanden sich zu einer leidenschaftlichen Vereinigung. In Gabrielles Kopf begann sich alles zu drehen, ihr Herz wurde leicht und ihr Blut pulsierte in ihren Adern wie Feuer.

„Du verdienst etwas so viel Besseres als mich“, sagte er zu ihr, und Verehrung erklang in seiner Stimme und in seinen leuchtenden, bernsteingelb gesprenkelten Augen. „Du kennst die Dämonen in mir. Kannst du mich lieben – willst du mich haben –, obwohl du meine Schwäche kennst?“

Sie legte ihre Handfläche um seinen kräftigen Kiefer. Er konnte die Liebe zu ihm in ihren Augen erkennen. „Du bist niemals schwach, Lucan. Und ich werde dich lieben, egal, was passiert. Zusammen können wir alles überwinden.“

„Du hilfst mir, das zu glauben. Du gibst mir Hoffnung.“ Liebevoll streichelte er ihren Arm, ihre Schulter, ihre Wange. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht und folgte dem ehrfurchtsvollen Weg seiner Hände. „Mein Gott, du bist so etwas Besonderes. Du könntest jeden Mann haben, ob Stamm oder Mensch …“

„Du bist der Einzige, den ich will.“

Er lächelte. „Der Himmel stehe dir bei, aber ich will es nicht anders. Ich habe mir noch nie etwas so egoistisch gewünscht wie jetzt in diesem Moment. Sei die Meine, Gabrielle.“

„Das bin ich.“

Er schluckte und blickte zu Boden, als sei er plötzlich unsicher. „Ich meine, für alle Ewigkeit. Ich kann mich nicht mit weniger abfinden. Gabrielle, willst du mich zu deinem Gefährten nehmen?“

„Für immer und ewig“, flüsterte sie, lehnte sich auf dem Bett zurück und zog ihn an sich. „Ich bin die Deine, Lucan, für immer und ewig.“

Sie küssten sich erneut, und als sie sich dieses Mal voneinander lösten, griff Lucan nach einem schmalen goldenen Dolch, der auf dem Tisch neben dem Bett lag. Er führte ihn zu seinem Gesicht. Gabrielle erschrak ein wenig, als sie sah, dass er die Klinge an seinen Mund hob. „Lucan …“

Der Ausdruck in seinen Augen war sanft und ernst, aber zärtlich, als er ihrem besorgten Blick standhielt. „Du hast mir dein Blut gegeben, um meinen Körper zu heilen. Du hast mir Stärke gegeben und mich beschützt. Du bist alles, was ich jemals will, alles, was ich jemals brauche.“

Sie hatte ihn noch nie so feierlich sprechen hören. Seine Iris glühten fast, und das Blassgrau in seinen Augen vermischte sich mit Bernsteingelb und der Tiefe seiner Gefühle.

„Gabrielle, wirst du mir die Ehre erweisen und mein Blut annehmen, um unsere Verbindung zu vollenden?“

Ihre Stimme war nur ein leises Keuchen. „Ja.“

Lucan neigte den Kopf und bewegte den Dolch zu seiner Unterlippe. Als er die Klinge beiseitelegte und sie wieder ansah, glänzte sein Mund dunkelrot und blutig.

„Komm her. Lass mich dich nun lieben“, sagte er und küsste sie mit seinem scharlachroten Mund auf die Lippen.

Nichts hätte Gabrielle auf diesen ersten süßen Geschmack von Lucans Blut vorbereiten können.

Vollmundiger als Wein und augenblicklich berauschend, strömte sein Blut über ihre Zunge wie ein für die Götter gebrautes Elixier. Sie spürte, wie Lucans Liebe sich in sie ergoss, all seine Kraft und Stärke. Ein Licht erstrahlte in ihrem tiefsten Inneren und gab ihr einen Vorgeschmack auf die Zukunft, die sie als Lucans Stammesgefährtin erwartete. Ein Gefühl von Glück durchflutete sie und erfüllte sie mit einer inneren Hitze, und sie spürte eine Zufriedenheit, wie sie sie nie zuvor gekannt hatte.

Außerdem empfand sie Begierde.

Intensiver als je zuvor.

Mit einem leisen verlangenden Knurren drückte Gabrielle mit der Hand gegen Lucans nackte Brust, bis er auf dem Rücken lag. Sie entledigte sich in einem einzigen Augenblick ihrer Kleidung und kletterte auf ihn, nahm seine Hüften zwischen ihre Schenkel.

Sein Geschlecht ragte vor ihr empor, so dick und massiv wie Stein. Das wunderschöne Netz aus Zeichnungen auf seiner Haut war von einem dunklen Purpur, durchsetzt mit einem leuchtenden Rot, und pulsierte in kräftigeren Schattierungen, als sie ihn voller Begierde ansah. Gabrielle beugte sich herunter und zeichnete mit der Zunge die wirbelnden, verschlungenen Linien nach, die Lucan vom Schenkel bis zum Nabel, von seiner muskulösen Brust bis über seine Schultern schmückten.

Er gehörte ihr.

Der Gedanke war intensiv, besitzergreifend, ursprünglich. Gabrielle hatte Lucan noch nie so sehr begehrt wie in diesem Moment. Sie war feucht und keuchte, völlig erfüllt von dem Verlangen, ihn zu besteigen und hart zu reiten.

Gott, war es das, was Savannah gemeint hatte, als sie gesagt hatte, dass die Blutsverbindung den Liebesakt intensivieren würde?

Gabrielle sah Lucan mit purer Begierde an und wusste kaum, wo sie beginnen sollte. Sie wollte ihn verschlingen, ihn verehren, seine Kräfte erschöpfen. Das immense Verlangen befriedigen, das in ihr brodelte.

„Du hättest mich warnen sollen, dass du mich mit einem Aphrodisiakum gefüttert hast.“

Lucan grinste zu ihr nach oben. „Und die Überraschung verderben?“

„Lach du nur, Vampir.“ Gabrielle runzelte eine Braue, griff dann nach seiner harten Erektion und bestieg ihn, bis er sie ganz ausfüllte. „Du hast mir gerade die Ewigkeit versprochen, weißt du. Ich kann dafür sorgen, dass du das noch bedauerst.“

„Ja?“ Das Wort war mehr ein ersticktes Stöhnen, als sie sich auf ihm bewegte, sodass sich seine Hüften heftig unter ihr aufbäumten. Jetzt glühten seine Augen, und er ließ sie einen flüchtigen Blick auf seine Fangzähne werfen, als er lächelte. Es war deutlich zu sehen, dass er seine Folter genoss. „Stammesgefährtin, ich werde es genießen, zuzusehen, wie du es versuchst.“