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Lucans Worte – all die verblüffenden Dinge, die er zu ihr gesagt hatte – klangen Gabrielle noch im Ohr, als sie aus dem dampfenden Wasser seiner Dusche trat Sie drehte die Brause zu und trocknete sich ab, wobei sie sich wünschte, das heiße Wasser hätte wenigstens einen Teil der Gekränktheit und Verwirrung weggespült, die sie empfand. Da gab es so vieles, womit sie sich auseinandersetzen musste. Und die Tatsache, dass Lucan nicht die Absicht hatte, mit ihr zusammen zu sein, stellte nicht unbedingt das kleinste Problem dar.
Sie versuchte sich zu sagen, dass er ihr von vornherein keine Versprechungen gemacht hatte, aber das führte bloß dazu, dass sie sich wie ein noch größerer Dummkopf vorkam. Er hatte sie nie darum gebeten, dass sie ihr Herz unter seinen Stiefelabsatz legte – das hatte sie ganz von allein getan.
Gabrielle beugte sich näher zum Spiegel, der die gesamte Breite des Badezimmers einnahm. Sie strich ihr Haar zurück, um einen genaueren Blick auf das karmesinrote Muttermal unter ihrem linken Ohr zu werfen. Oder nicht Muttermal, sondern vielmehr ihr Stammesgefährtinnenmal, korrigierte sie sich und betrachtete die kleine Träne, die in die Wiege eines zunehmenden Mondes zu fallen schien.
Durch irgendeine Ironie des Schicksals war sie mit Lucans Welt durch das winzige Mal auf ihrem Hals verbunden, und zugleich war es das Einzige, was sie daran hinderte, mit ihm zusammen zu sein.
Vielleicht war sie eine Komplikation, die er nicht wollte und wahrlich nicht gebrauchen konnte, aber ihr Leben war ja auch nicht gerade ein Spaziergang, seit sie ihm begegnet war.
Wegen Lucan war sie in einen blutigen Unterweltkrieg verwickelt, der die übelsten Ghetto-Gangs aus den Elendsvierteln der Stadt wie Schulkinder aussehen ließ. Sie besaß eine der hübschesten Wohnungen in Beacon Hill, die sie praktisch aufgegeben hatte und die sie bald endgültig verlieren würde, wenn sie nicht schleunigst zurückging und sich ihrer Arbeit widmete, sodass sie ihre Rechnungen bezahlen konnte. Die Menschen, mit denen sie befreundet war, hatten keine Ahnung, wo sie sich befand, und wenn sie es ihnen sagte, ging sie wahrscheinlich das Risiko ein, dass sie ihr Leben verloren.
Und zur Krönung des Ganzen war sie auch noch in den düstersten, tödlichsten, emotional verschlossensten Mann verknallt, den sie je kennengelernt hatte.
Der ganz nebenbei auch noch ein blutsaugender Vampir war.
Zum Teufel – wenn sie schon ehrlich war, dann ganz. Sie war nicht bloß in Lucan verknallt. Sie hatte sich vollkommen, rettungslos und bis über beide Ohren in ihn verliebt. Und sie würde niemals darüber hinwegkommen.
„Super“, sagte sie zu ihrem unglücklichen Spiegelbild. „Einfach brillant, verdammt.“
Selbst nach allem, was er gesagt hatte, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zu ihm zu laufen, wo auch immer er sich befand, und sich in seine Arme zu werfen. Das war der einzige Ort, an dem sie überhaupt Trost finden konnte.
Na sicher. Als bräuchte sie unbedingt auch noch eine öffentliche Demütigung zusätzlich zu der persönlichen, mit der sie immer noch fertig zu werden versuchte. Lucan hatte es doch ganz deutlich klargestellt: Was auch immer zwischen ihnen gewesen war – falls es außer dem Körperlichen wirklich etwas gegeben hatte –, war vorbei.
Gabrielle ging in Lucans Schlafzimmer zurück und holte ihre Klamotten und Schuhe. Sie zog sich schnell an. Sie wollte aus Lucans Privatquartier verschwinden, ehe er zurückkam und sie etwas wirklich Dummes tat. Nun ja – nach einem raschen Blick auf das Bettzeug, das noch immer zerwühlt von ihrem Sex war, änderte sie ihren Satz in ,etwas noch Dümmeres‘.
Gabrielle verließ das Zimmer mit der Absicht, nach Savannah zu suchen. Vielleicht fand sie auch eine Telefonverbindung, die aus dem Quartier herausführte, da Lucan es nicht für angebracht gehalten hatte, ihr das Mobiltelefon zurückzugeben. Der Korridor mit seinem Netz aus Abzweigungen war ziemlich verwirrend, vermutlich sogar mit Bedacht so angelegt. Sie war schon einige Male falsch abgebogen, bevor sie ihre Umgebung wiedererkannte. Sie musste sich in der Nähe der Trainingsanlage befinden, denn sie hörte das scharfe, abgehackte Knallen von Munition, die auf eine Zielscheibe traf.
Sie bog um eine Ecke und prallte unvermittelt gegen eine unnachgiebige Mauer aus Leder und Waffen, die mitten im Weg stand.
Gabrielle sah hoch, und dann noch ein gutes Stück weiter hoch, da traf sie eine eisige Drohung aus schmalen grünen Augenschlitzen. Unter nachlässig fallendem lohfarbenem Haar waren kalte, abschätzende Augen auf sie geheftet. Wie eine Raubkatze, die hinter goldgelbem Schilfgras lauert und in Ruhe ihre Beute taxiert. Gabrielle schluckte schwer. Der große Vampir strahlte spürbar Gefahr aus, und Gefahr schwelte auch in der Tiefe seiner starren Raubtieraugen.
Tegan.
Ihr Verstand lieferte ihr den Namen des fremden Mannes. Er musste der einzige der sechs Krieger des Quartiers sein, den sie noch nicht kennengelernt hatte.
Der, mit dem Lucan schon so lange in gegenseitigem Abscheu verbunden war.
Der riesige Vampirkrieger trat nicht beiseite, er rührte sich nicht. Überhaupt reagierte er kaum darauf, dass sie gegen ihn geprallt war. Nur sein Mundwinkel verzog sich fast unmerklich, als er auf die Stelle blickte, wo sich Gabrielles Busen gegen die harten Muskeln unterhalb seiner Brust drückte. Er trug rund ein Dutzend Waffen bei sich, und seine Bedrohlichkeit wurde noch verstärkt durch sicher nicht weniger als neunzig Kilo eisenharter Muskeln.
Sie trat zurück und machte dann noch einen Schritt zur Seite, nur zur Sicherheit. „Tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen.“
Er sagte nichts, aber sie hatte das Gefühl, dass alles, was in ihr vorging, in einem einzigen Sekundenbruchteil von ihm bloßgelegt wurde – in jenem kurzen Augenblick, den sie ihn berührt hatte, als ihr Körper mit seinem zusammenstieß. Er starrte mit seinem eisigen, emotionslosen Blick auf sie herab, als könne er in ihr Inneres hineinsehen. Obwohl er kein Wort sagte, fühlte sich Gabrielle seziert.
Sie fühlte sich … als sei jemand in sie eingedrungen.
„Entschuldigung“, flüsterte sie.
Als sie eine Bewegung machte, um an ihm vorbeizugehen, hielt Tegans Stimme sie auf.
„Hey.“ Der Klang war weicher, als Gabrielle erwartet hätte, ein tiefes, dunkles Raunen. Es bildete einen sonderbaren Kontrast zu seinem harten Blick, dessen Ausdruck sich nicht veränderte. „Tun Sie sich selbst einen Gefallen und hängen Sie sich nicht zu sehr an Lucan. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dieser Vampir nicht mehr lange leben wird.“
Er sagte das ohne jede Spur von Gefühl. Es war nichts als eine sachliche Aussage. Dann schritt der Krieger an ihr vorbei. Seine Bewegung rührte die Luft im Gang auf und erfüllte sie mit einer stumpfen Apathie, die Gabrielle kalt und verstörend unter die Haut kroch.
Als sie sich umdrehte, um ihm nachzublicken, war Tegan mitsamt seiner verstörenden Voraussage verschwunden.
Lucan wog eine elegante schwarze 9-Millimeter in der Hand. Dann hob er die Waffe und feuerte ein paar Schüsse auf das Ziel am weit entfernten Ende des Schießplatzes ab.
Es fühlte sich gut an, wieder auf vertrautem Terrain zu agieren. Umgeben von den Werkzeugen seiner Zunft fühlte er sich am richtigen Platz, da sein Blut kochte und er bereit war für einen anständigen Kampf. Trotzdem wanderte ein Teil seiner Konzentration immer wieder ab zu seiner Auseinandersetzung mit Gabrielle. Verdammt, die Frau trieb ihm noch Knoten ins Gehirn. Trotz allem, was er ihr gesagt hatte, um sie auf Abstand zu halten, musste er zugeben, dass sie ihm tief unter die Haut ging.
Wie lange glaubte er noch so weitermachen zu können, ohne dass er die Beherrschung verlor? Oder vielmehr, wie lange würde er den Gedanken noch ertragen können, sie jemals gehen zu lassen? Sie wegzuschicken mit der Aussicht, dass sie einen anderen Partner fand?
Die Angelegenheit wurde verdammt noch mal zu kompliziert.
Er stieß einen Fluch aus, feuerte eine weitere Runde von Schüssen ab und genoss den Rückstoß des heißen Metalls und den beißenden Rauch, während die Brust der Zielfigur zerschmettert aufplatzte.
„Was meinst du?“, fragte Nikolai, und seine lebhaften Augen glitzerten. „Ein hübsches kleines Teil, nicht? Und sie spricht unfassbar leicht an.“
„Ja. Fühlt sich gut an. Gefällt mir.“ Lucan sicherte die Handfeuerwaffe und sah sie sich näher an. „Eine Beretta 92FS, umgebaut zur Vollautomatik, mit eingebautem Extramagazin? Gute Arbeit, Mann. Wirklich hübsch.“
Niko grinste. „Ich habe dir ja noch nicht mal von der Munition erzählt, die dieses kleine Biest verballert. Ich habe ein paar Kugeln mit Polykarbonat-Hohlspitze präpariert. Hab die Schrotladung aus den Polyspitzen genommen und durch Titanpuder ersetzt.“
„Das gibt eine schöne Schweinerei, wenn es in den Blutkreislauf von so einem Arschloch gelangt“, fügte Dante hinzu. Er saß auf dem Rand eines Waffenschrankes und schärfte seine Klingen. Dass er recht hatte, stand außer Frage. In alten Zeiten war die sauberste Art, einen Rogue zu töten, indem man seinen Kopf vom Körper trennte. Das funktionierte prächtig, als Schwerter noch die Waffen der Wahl waren, aber die moderne Technologie brachte neue Herausforderungen für beide Seiten.
Erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hatte der Stamm entdeckt, was für eine einzigartig zerstörerische Wirkung Titan auf den Organismus eines Rogue hatte. Aufgrund einer Allergie, die durch Zellmutationen in ihrem Blut noch verstärkt wurde, reagierten Rogues auf Titan wie eine Brausetablette auf Wasser.
Niko nahm die Waffe von Lucan entgegen und streichelte sie wie eine Trophäe. „Was wir hier haben, ist ein erstklassiger Rogues-Killer.“
„Wann können wir ihn ausprobieren?“, fragte Rio.
„Wie sieht es mit heute Nacht aus?“ Tegan kam ohne einen Laut herein, aber seine Stimme durchschnitt den Raum wie das Grollen eines nahenden Unwetters.
„Sprichst du von diesem Unterschlupf, den du unten beim Hafen ausgekundschaftet hast?“, fragte Dante.
Tegan nickte. „Wahrscheinlich ein Versteck, das rund ein Dutzend Individuen beherbergt, mehr oder weniger. Ich nehme an, dass sie noch unerfahren sind, gerade erst zu Rogues geworden. Sollte keine große Sache sein, sie zu erledigen.“
„Ist eine Weile her, seit wir bei einem Angriff richtig abgeräumt haben“, sagte Rio gedehnt, und sein Lächeln war breit und erwartungsvoll. „Klingt für mich nach einer Party.“
Lucan warf den anderen einen finsteren Blick zu. „Warum zum Teufel erfahre ich jetzt erst davon?“
Tegan starrte ihn ausdruckslos an. „Du musst deinen Arbeitsrückstand aufholen, Mann. Während du dich die ganze Nacht mit deiner Frau verkrochen hast, war der Rest von uns an der Oberfläche und hat seine Arbeit erledigt.“
„Das ist ein Tiefschlag“, protestierte Rio. „Selbst für dich, Tegan.“
Lucan dachte sorgfältig über die vernichtende Kritik nach. „Nein, er hat recht. Ich hätte dort oben sein, mich um meine Arbeit kümmern sollen. Ich hatte hier noch etwas zu erledigen. Aber jetzt ist es erledigt. Das Thema ist durch.“
Tegan grinste. „Ach, wirklich? Denn ich muss dir sagen, als ich die Stammesgefährtin vor ein paar Minuten im Korridor gesehen habe, war sie ziemlich durch den Wind. Als hätte jemand dem armen Mädchen das Herz rausgerissen. Ich hatte ganz den Eindruck, sie braucht jemanden, der die Situation für sie verbessert.“
Lucan verlor die Beherrschung und brüllte los. „Was hast du zu ihr gesagt? Hast du sie angefasst? Mann, wenn du ihr etwas getan hast –“
Tegan lachte leise, ehrlich amüsiert. „Ganz ruhig, Mann. Mach mal halblang. Deine Frau geht mich nichts an.“
„Dass du das ja nicht vergisst“, knurrte Lucan und wirbelte herum, um den neugierigen Blicken der anderen Krieger zu begegnen. „Sie geht keinen von euch etwas an, ist das klar? Gabrielle Maxwell steht unter meinem persönlichen Schutz, solange sie sich in unserem Quartier befindet. Und sobald sie es verlässt, um zu den Dunklen Häfen zu gehen, geht sie mich ebenfalls nichts mehr an.“
Es dauerte einen Moment, bis er sich abgekühlt und davon Abstand genommen hatte, Tegan körperlich anzugreifen. Eines Tages würde es noch mal dazu kommen. Und Lucan konnte dem Mann nicht mal guten Gewissens ankreiden, dass er einen Groll gegen ihn hegte. Wenn Tegan ein gemeiner, seelenloser Mistkerl war, dann hatte Lucan seinen Teil dazu beigetragen, ihn dazu zu machen.
„Können wir jetzt wieder zur Sache kommen?“, knurrte er – eine Warnung für die anderen, ihn nicht noch mehr aufzuregen. „Ich brauche Fakten über diesen Unterschlupf am Hafen.“
Tegan beschrieb präzise, was er an dem mutmaßlichen Rogues-Versteck beobachtet hatte, und machte Vorschläge, wie die Gruppe vorgehen sollte, um es anzugreifen. Auch wenn die Quelle dieser Informationen nicht Lucans ganzes Vertrauen genoss, fiel ihm kein besserer Weg ein, seine Stimmung zu heben, als mit einem Angriff auf ihre Feinde.
Denn wenn er wieder in Gabrielles Nähe landete, würde all sein hartes Gerede über Pflicht und Kriegertum und die Zukunft des Stammes sich in Luft auflösen. Es war Stunden her, dass er sie in seinem Schlafzimmer zurückgelassen hatte, und noch immer beherrschte sie seine Gedanken. Und auch seinen Körper, der vor Verlangen kribbelte, wenn er an ihre weiche, warme Haut dachte.
Wenn er jedoch daran dachte, wie er sie gekränkt hatte, war ihm, als klaffte ein kaltes Loch in seiner Brust. Sie hatte sich als wahre Verbündete erwiesen, hatte ihn sogar vor den anderen Kriegern gedeckt. Sie hatte ihn vergangene Nacht unterstützt, als er seine persönliche kleine Hölle erlebt hatte, war für ihn da gewesen, so zärtlich und liebevoll, wie es sich ein Mann von seiner geliebten Gefährtin nur wünschen konnte.
Gefährlicher Gedanke, ganz gleich, wie er die Sache betrachtete.
Er führte die Diskussion über den Angriff fort und stimmte zu, dass sie die Rogues dort erwischen sollten, wo sie hausten, statt sie einzeln zu erledigen, wenn sie ihnen auf der Straße über den Weg liefen. „Wir treffen uns also bei Sonnenuntergang, um uns auszurüsten und auf den Weg zu machen.“
Die Gruppe der Krieger begann sich zu unterhalten, während sie sich auflöste. Tegan schlenderte als Letzter hinterher.
Lucan dachte über den stoischen Einzelgänger nach, der so schrecklich stolz darauf war, dass er niemanden brauchte. Tegan hielt sich bewusst im Hintergrund, abseits. Aber er war nicht immer so gewesen. Früher war er ein Ass, ein geborener Anführer. Er hätte bedeutend sein können – und war es auch gewesen. Aber das hatte sich im Laufe einer einzigen schrecklichen Nacht geändert. Damals begann eine steile Abwärtsspirale. Tegan war auf dem Boden aufgeschlagen und hatte sich niemals davon erholt.
Und obwohl er es dem Krieger nie eingestanden hatte, würde Lucan sich niemals die Rolle verzeihen, die er selbst bei diesem Absturz gespielt hatte.
„Tegan. Warte.“
Sichtlich widerstrebend blieb der Vampir stehen. Er drehte sich nicht um, stand nur schweigend da, und sein Rücken zeigte arrogante Abwehr, während die anderen Krieger nacheinander die Trainingsanlage verließen. Als sie allein waren, räusperte sich Lucan und sprach seinen Gen-Eins-Bruder leise an.
„Wir beide haben ein Problem, Tegan.“
Dieser atmete scharf aus. „Ich gehe und informiere die Presse.“
„Diese Sache zwischen uns wird nicht verschwinden. Es geht schon zu lange so, und zu viel Wasser ist den Fluss heruntergeflossen. Wenn du das Bedürfnis hast, die Rechnung mit mir zu begleichen –“
„Vergiss es. Das ist kalter Kaffee.“
„Nicht, wenn wir es nicht begraben können.“
Tegan schnaubte spöttisch und drehte sich endlich um, um Lucan anzusehen. „Willst du auf irgendwas hinaus, Lucan?“
„Ich will nur sagen, dass ich allmählich zu verstehen beginne, was es dich gekostet hat. Was ich dich gekostet habe.“ Lucan schüttelte langsam den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Tegan, du musst wissen – wenn es irgendeinen anderen Weg gegeben hätte … Wenn die Sache anders gelaufen wäre –“
„Du lieber Himmel. Versuchst du dich bei mir zu entschuldigen?“ Tegans grüne Augen waren so hart, dass man mit ihnen hätte Glas schneiden können. „Erspar mir deine Betroffenheit, Mann. Sie kommt ungefähr fünfhundert Jahre zu spät. Und eine Entschuldigung verändert nicht das kleinste verdammte bisschen, oder?“
Lucan biss die Zähne zusammen und staunte, dass der große Mann echte Wut zeigte statt der üblichen kalten Gleichgültigkeit.
Tegan hatte ihm nicht vergeben. Nicht im Entferntesten.
Und nach all der Zeit hielt es Lucan nicht für wahrscheinlich, dass er das je tun würde.
„Nein, Tegan. Du hast recht. Eine Entschuldigung verändert gar nichts.“
Tegan starrte ihn lange an. Dann drehte er sich um und marschierte aus dem Raum.
Live-Musik dröhnte aus den kühlschrankgroßen Verstärkern in dem privaten unterirdischen Nachtclub – auch wenn ,Musik‘ eine zu großzügige Umschreibung für das erbärmliche Gejaule und die disharmonischen Gitarrenriffs der Band war. Sie bewegten sich roboterhaft auf der Bühne, lallten ihre Worte und waren meistens aus dem Takt. Kurz gesagt, sie waren mies.
Aber andererseits, wer konnte erwarten, dass Menschen mit Sachverstand spielten und sangen, wenn das Publikum eine Meute von blutdurstigen, blutsaugenden Vampiren war?
In den Schatten, die ihn verbargen, blickte der Anführer der Rogues finster drein. Er hatte schon starke Kopfschmerzen gehabt, als er vor Kurzem eingetroffen war; nun fühlten sich seine Schläfen an, als stünden sie kurz vor der Explosion. Gelangweilt von den blutrünstigen Feierlichkeiten lehnte er sich in die Kissen seiner privaten Kabine. Ein leichtes Heben seiner Hand ließ einen seiner Wachtposten zu ihm eilen. Er machte eine geringschätzige Bewegung in Richtung der Bühne.
„Erlöse sie jemand aus ihrem Elend. Ganz zu schweigen von meinem.“
Der Wächter nickte und fauchte als Antwort. Er zog seine Lippen zurück, um riesige Fangzähne zu entblößen, die aus einem Mund ragten, in dem bereits bei der bloßen Erwähnung eines weiteren Blutbades der Speichel zu rinnen begann. Der Rogue sprang davon, um den Befehl auszuführen.
„Braver Hund“, murmelte sein mächtiger Meister.
Er war froh über das plötzliche Klingeln seines Mobiltelefons. Das war ein guter Grund, sich aufzuraffen und etwas Luft zu schnappen. Auf der Bühne hatte inzwischen ein neuer Tumult begonnen, als die Band von einer Gruppe rasender Rogues angefallen wurde.
Während der Raum in schonungsloser Anarchie explodierte, begab sich der Anführer zu einem Privatraum hinter der Bühne und nahm das klingelnde Handy aus der inneren Jacketttasche seines Anzugs. Er rechnete mit einer Rufnummernunterdrückung, da der Anruf bestimmt von einem seiner zahlreichen Lakaien kam. Die meisten hatte er losgeschickt, um Informationen über Gabrielle Maxwell und ihre mutmaßliche Beziehung zum Stamm zu sammeln.
Aber die angezeigte Nummer war keiner von ihnen.
Das konnte er bereits erkennen, bevor er das Gerät aufklappte und die vollständige Rufnummer auf dem Display sah.
Neugierig nahm er den Anruf entgegen. Die Stimme am anderen Ende war ihm nicht unvertraut. Er hatte mit diesem Individuum erst kürzlich in einer verbotenen Angelegenheit zu tun gehabt, und es gab noch einiges zu besprechen. Auf sein Drängen hin teilte ihm die Person am anderen Ende Einzelheiten über einen Überfall mit, der noch in derselben Nacht stattfinden und sich gegen eine der kleineren Rogues-Zellen in der Stadt richten sollte.
In wenigen Sekunden erfuhr er, was er wissen musste, um zu gewährleisten, dass der Überfall zu seinen Gunsten ausging – den Ort, die geplante Methode und Route der Krieger, ihren grundlegenden Angriffsplan – alles unter der Bedingung, dass ein Mitglied des Stammes von dem Vergeltungsschlag verschont blieb. Dieser eine Krieger sollte nicht völlig ausgenommen werden, nur so stark verletzt, dass er nie wieder kämpfen musste. Das Schicksal der anderen, einschließlich des fast nicht aufzuhaltenden Lucan Thorne, lag in den Händen der Rogues.
Lucans Tod war schon einmal Bestandteil ihrer Übereinkunft gewesen, aber die Ausführung der Aufgabe war nicht ganz so verlaufen wie geplant.
Dieses Mal wollte die Person am anderen Ende die Zusicherung, dass die Tat tatsächlich ausgeführt wurde. Sie ging so weit, es zu wagen, den Anführer daran zu erinnern, dass er eine beträchtliche Summe für diese Tat erhalten hatte, aber die Leistung dafür noch erbringen musste.
„Ich bin mir unseres Handels sehr wohl bewusst“, fauchte er wütend in das Mobiltelefon. „Verleiten Sie mich nicht dazu, weitere Bezahlung von Ihnen zu verlangen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie es bereuen werden.“
Er klappte das Gerät mit einem düsteren Fluch zu und schnitt damit die Worte ab, die direkt nach seiner Drohung begonnen hatten, einen diplomatischen Rückzieher zu formulieren.
Sein Zorn ließ die Dermaglyphen an seinem Handgelenk in einer dunklen Färbung pulsieren – nicht alle, denn einige der Male waren künstlich aufgebracht, Tätowierungen, die seine natürlichen Verzierungen und Farben überdeckten, um das einzigartige Muster zu verbergen, mit dem er vor Hunderten von Jahren geboren worden war. Die Erfordernis, sich zu tarnen, war ihm ein Gräuel, selbst wenn es so subtil geschah. Er verabscheute die Notwendigkeit seines Schattendaseins fast so sehr wie jene, die zwischen ihm und seinen Zielen standen.
Er schäumte vor Wut, als er zum Hauptbereich des Clubs zurückging. In der Dunkelheit erspähte er einen Kerl, seine rechte Hand, der einzige Rogue in der neueren Geschichte, der Lucan Thorne in die Augen gesehen und überlebt hatte. Er winkte den riesigen Mann zu sich und erteilte ihm Befehle, die sich um das Amüsement der heutigen Nacht drehten.
Ungeachtet seiner heimlichen Verhandlungen wollte er Lucan und alle anderen Krieger, die bei ihm waren, tot sehen, sobald sich der Rauch gelichtet hatte.