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Gabrielle konnte die erotischen Träume, die sie in ihrem Leben bisher gehabt hatte, an einer Hand abzählen, aber noch nie hatte sie etwas erlebt, das so heiß – um nicht zu sagen so real – gewesen war wie die Fantasie, die sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte, mit Lucan Thorne in der Hauptrolle. Sein Atem war die nächtliche Brise gewesen, die durch das offene Fenster ihres Schlafzimmers geweht war. Sein Haar war die obsidianfarbene Dunkelheit gewesen, die die Dachfenster über ihrem Bett erfüllt hatte, seine Silberaugen der bleiche Mondschein. Seine Hände waren die seidenen Fesseln ihres Bettzeugs gewesen, die um ihre ausgestreckten Handgelenke und Knöchel geschlungen gewesen waren, um ihre Arme und Beine zu spreizen und sie unter ihm festzuhalten.

Sein Mund war pure Hitze gewesen, die jeden Zentimeter ihrer Haut versengt hatte und an ihr geleckt hatte wie eine unsichtbare Flamme. Jasmin hatte er sie im Traum genannt, und das sanfte Vibrieren des Wortes hatte ihr feuchtes Fleisch zum Erbeben gebracht, so wie sein warmer Atem die seidigen Locken zwischen ihren Beinen bewegt hatte.

Sie hatte sich unter seiner geschickten Zunge gewunden und gewimmert, sich bereitwillig einer Qual unterworfen, von der sie gehofft hatte, dass sie nie ein Ende haben würde. Aber es hatte geendet, viel zu schnell. Gabrielle war aufgewacht und hatte allein in der Dunkelheit in ihrem Bett gelegen, Lucans Namen gekeucht, während ihr Körper erschöpft und kraftlos dagelegen und sich nach mehr gesehnt hatte.

Noch immer war sie von dieser Sehnsucht erfüllt, und das machte ihr sogar noch mehr zu schaffen als die Tatsache, dass der mysteriöse Detective Thorne sie am Abend zuvor versetzt hatte.

Nicht dass sie in seinem Angebot, am Abend zu ihr zu kommen, so etwas wie eine Verabredung gesehen hatte, aber sie hatte sich darauf gefreut, ihn wiederzusehen. Sie wollte mehr über ihn wissen, war fasziniert davon, wie er sie offenbar auf den ersten Blick durchschauen, in ihr Innerstes blicken konnte. Natürlich wollte sie auch mehr darüber erfahren, was in jener Nacht vor dem Club wirklich passiert war, doch hoffte sie auch auf einen Abend mit Lucan, ein Gespräch, vielleicht bei einem Essen und einem Glas Wein. Dass sie sich zweimal die Beine rasiert hatte und aufregende schwarze Unterwäsche unter der Seidenbluse mit den langen Ärmeln sowie eine schicke dunkle Jeans trug, war reiner Zufall.

Gabrielle hatte bis weit nach neun Uhr auf ihn gewartet. Schließlich hatte sie es aufgegeben und Jamie angerufen, um zu hören, ob er in der Stadt mit ihr essen gehen wollte.

Nun saßen sie im Bistro Ciao Bella, in einer Nische mit Fenster. Jamie, der Gabrielle gegenübersaß, stellte sein Glas Pinot Noir ab und beäugte ihre beinahe unberührten Frutti di Mare. „Du schiebst dasselbe Stück Jakobsmuschel schon seit zehn Minuten auf deinem Teller herum, meine Süße. Magst du es nicht?“

„Nein, es ist hervorragend. Das Essen ist hier immer unglaublich gut.“

„Also liegt es bloß an deiner nervenden Begleitung?“

Sie blickte ihn überrascht an und schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht. Du bist mein bester Freund, das weißt du.“

„Aha“, erwiderte er lächelnd. „Aber ich bin kein Ersatz für deinen feuchten Traum.“

Gabrielle schoss die Röte ins Gesicht, als einer der anderen Gäste an einem Nachbartisch in ihre Richtung blickte. „Du bist manchmal ein Mistkerl, weißt du das?“, flüsterte sie Jamie zu. „Ich hätte dir nichts davon erzählen sollen.“

„Oh, meine Süße. Das braucht dir nicht peinlich zu sein. Wenn ich jedes Mal fünf Cent bekommen würde, wenn ich völlig scharf aufwache und den Namen von irgendeinem heißen Kerl schreie …“

„Ich habe seinen Namen nicht geschrien.“ Nein, sie hatte ihn gekeucht und gestöhnt, sowohl in ihrem Bett als auch etwas später unter der Dusche, als die verzehrenden Gedanken an Lucan Thorne sie einfach immer noch nicht loslassen wollten. „Es fühlte sich an, als ob er da gewesen wäre, Jamie. In meinem Bett – so real, dass ich ihn berühren konnte.“

Jamie seufzte. „Manche Frauen haben einfach Glück. Wenn du deinen Traumliebhaber das nächste Mal siehst, sei so lieb und schick ihn zu mir, wenn du mit ihm fertig bist.“

Gabrielle lächelte. Sie wusste, dass sich ihr Freund in Gefühlsdingen nicht zu beklagen brauchte. Seit vier Jahren war er nun schon mit David glücklich, einem Antiquitätenhändler, der im Augenblick auf Geschäftsreise und deshalb nicht in der Stadt war. „Und weißt du, was an der ganzen Sache das Merkwürdigste ist, Jamie? Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war meine Haustür nicht abgeschlossen.“

„Und?“

„Du kennst mich – ich lasse sie nie offen.“

Jamies hellbraune, sorgsam gezupfte Augenbrauen zogen sich zusammen. „Was willst du damit sagen? Du denkst, dass dieser Typ bei dir eingebrochen ist, während du geschlafen hast?“

„Hört sich verrückt an, ich weiß. Ein Polizist kommt mitten in der Nacht in mein Haus, um mich zu verführen. Ich bin wohl dabei, den Verstand zu verlieren.“

Sie sagte das beiläufig, aber es war nicht das erste Mal, dass sie ihren Verstand infrage stellte. Bei Weitem nicht das erste Mal. Geistesabwesend spielte sie am Ärmel ihrer Bluse herum, während Jamie sie beobachtete. Er war betroffen, besorgt um sie, was ihr Unbehagen über ihren geistigen Zustand nur noch verstärkte.

„Hör mal, Süße. Du hast seit dem Wochenende unter großem Stress gestanden. Das kann in deinem Kopf seltsame Dinge bewirken. Du warst aufgeregt und verwirrt. Wahrscheinlich hast du einfach vergessen, die Tür abzuschließen.“

„Und der Traum?“

„War genau das – ein Traum. Es war einfach nur dein geplagter Verstand, der dir gesagt hat, du sollst dich ausruhen, dich entspannen.“

Gabrielle neigte automatisch ihren Kopf und nickte zustimmend. „Du hast wohl recht, das wird es sein.“

Wenn sie bloß glauben könnte, dass die Erklärung so vernünftig war, wie sie aus dem Munde ihres Freundes klang … Aber irgendetwas in ihrem Innersten wehrte sich gegen den Gedanken, dass sie ihre Tür einfach nur aus Gedankenlosigkeit nicht abgeschlossen hatte. Das würde sie doch niemals vergessen, ganz egal, wie gestresst oder verwirrt sie sein mochte.

„Hey.“ Jamie griff über den Tisch und nahm ihre Hand in seine. „Du wirst wieder in Ordnung kommen, Gab. Und du weißt, du kannst mich jederzeit anrufen, okay? Ich bin für dich da und werde es immer sein.“

„Ich danke dir.“

Er ließ sie los und nahm seine Gabel in die Hand, deutete damit auf ihre Meeresfrüchte. „Also, isst du noch was von der Pasta oder kann ich sie mir unter den Nagel reißen?“

Gabrielle tauschte ihren halb leer gegessenen Teller gegen seinen leeren. „Bedien dich.“

Als Jamie sich über ihr kaltes Essen hermachte, stützte Gabrielle ihr Kinn in die Hand und nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas. Während sie trank, streiften ihre Finger träge über die schwachen Male, die sie heute Morgen nach dem Duschen an ihrem Hals bemerkt hatte. Die nicht abgeschlossene Haustür war beileibe nicht das einzig Seltsame heute Morgen, nein, das waren ganz eindeutig die beiden kleinen Striemen unterhalb ihres Ohrs, keine Frage.

Die kleinen Kerben waren nicht tief genug, um ihre Haut zu verletzen, aber sie waren da. Es waren zwei, und sie waren genau links und rechts von der Stelle, wo ihr Puls pochte. Zuerst hatte sie sich gefragt, ob sie sich im Schlaf selbst gekratzt hatte – vielleicht unter dem Einfluss ihres merkwürdigen Traumes?

Aber die Male sahen nicht wie Kratzer aus. Sie sahen aus wie etwas … anderes.

Als ob jemand, oder etwas, beinahe ein Stück aus ihrer Halsschlagader herausgebissen hätte.

Verrückt.

Das war es, und sie musste von diesen Gedanken wegkommen, bevor sie sich selbst noch mehr schadete. Sie musste sich zusammenreißen und mit den Wahnvorstellungen über mitternächtliche Besucher und Monster aus Horrorfilmen, die es nicht gab, nicht geben konnte, ein für alle Mal aufhören. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie vielleicht so enden wie ihre leibliche Mutter …

„Oh Gott, der Blitz soll mich auf der Stelle treffen, was bin ich für ein Trottel“, rief Jamie plötzlich aus und unterbrach damit ihre Gedanken. „Ich habe schon wieder vergessen, es dir zu erzählen: Gestern habe ich in der Galerie einen Anruf wegen deiner Fotos bekommen. Irgendein hohes Tier in der Stadt ist interessiert an einer Privatausstellung.“

„Ernsthaft? Wer ist es?“

Er zuckte mit den Schultern. „Weiß ich nicht, meine Süße. Ich habe nicht mit dem möglichen Käufer oder der möglichen Käuferin gesprochen, aber wenn ich daran denke, wie großkotzig sein oder ihr Assistent tat, würde ich sagen, wer auch immer dein Verehrer oder deine Verehrerin ist, jedenfalls schwimmt er oder sie in Geld. Ich habe morgen Abend einen Termin in einem der Gebäude im Bankenviertel. Wir reden hier über ein Büro in einem Penthouse, mein Liebling.“

„Oh Gott“, seufzte sie ungläubig.

„Hm. Très cool, mein Schatz. Sehr bald wirst du zu gut für unbedeutende Kunsthändler wie mich sein“, grinste er. Man merkte ihm an, wie aufgeregt er wegen dieses Angebots war.

Auch Gabrielle konnte sich dieser Aufregung nicht entziehen, besonders wenn man bedachte, was sie in den vergangenen Tagen alles erlebt hatte. Sie hatte sich eine ansehnliche Anhängerschaft erarbeitet und einige sehr hübsche Auszeichnungen für ihre Arbeit erhalten, aber eine Privatausstellung für einen anonymen Käufer war eine Premiere.

„Welche Stücke sollst du mitbringen?“

Jamie hob sein Weinglas und prostete ihr gespielt ehrerbietig zu. „Alle, Miss Thang{2}. Jedes einzelne Stück aus der Sammlung.“

 

Von dem Dach des alten Backsteingebäudes in dem geschäftigen Theaterviertel der Stadt schimmerte der Mondschein auf den tödlichen Fangzähnen eines höhnisch grinsenden, schwarz gekleideten Vampirs. Nahe dem Fenstersims in Stellung kauernd, wandte der Stammeskrieger seinen dunkelhaarigen Kopf. Dann streckte er die Hand aus und gab ein geheimes Signal.

Vier Rogues. Eine menschliche Beute. Die direkt auf sie zukommt.

Lucan nickte Dante zu und sprang von der Feuerleiter im fünften Stock, die für die letzte halbe Stunde sein Beobachtungsposten gewesen war. Er landete mit einer geschmeidigen Bewegung, so lautlos wie eine Katze, auf der Straße. Die beiden Klingen seines Zwillingsschwerts steckten in Scheiden, die überkreuz angeordnet waren, auf seinem Rücken und ragten wie Dämonenflügel über seine Schultern hinaus. Lucan zog beinahe lautlos die Waffen und verschwand in die Dunkelheit der schmalen Seitenstraße, in Erwartung der weiteren Ereignisse dieser Nacht.

Es war etwa elf Uhr abends, also zwei Stunden nach der Zeit, zu der er bei Gabrielle Maxwells Wohnung hätte eintreffen sollen, um ihr das Mobiltelefon zurückzugeben, wie er es ihr versprochen hatte. Das Gerät befand sich noch immer bei Gideon im Techniklabor, der die Bilder bearbeitete und sie durch die Internationale Identifikationsdatenbank des Stammes laufen ließ. Tatsächlich hatte Lucan nicht die Absicht, Gabrielle das Handy zurückzugeben, ob nun persönlich oder auf andere Weise. Die Bilder des Angriffs der Rogues mussten vor menschlichem Zugriff geschützt werden. Außerdem war es nach der Beinahe-Katastrophe, die er in ihrem Schlafzimmer erlebt hatte, besser, wenn er der Frau fernblieb – am besten so fern wie möglich.

Eine gottverdammte Stammesgefährtin.

Er hätte es wissen müssen. Wenn er sich recht erinnerte, waren ihm einige Dinge an ihr aufgefallen, die ihn sofort hätten warnen müssen. Zum Beispiel ihre Fähigkeit, den Schleier der vampirischen Bewusstseinskontrolle zu durchdringen, mit denen er und seinesgleichen den Club in jener Nacht durchzogen hatten. Sie hatte die Rogues gesehen – bei ihrem Blutrausch in der Gasse und auf den verschwommenen Bildern ihres Handys –, etwas, was andere Menschen nicht konnten. Später, in ihrer Wohnung, hatte sie sich als resistent gegen Lucans Bemühungen, ihre Gedanken mittels mentaler Suggestion zu lenken, erwiesen. Außerdem vermutete er, dass sie ihm mehr wegen ihres eigenen unbewussten Verlangens nach dem Genuss, den er ihr verschafft hatte, als durch irgendetwas anderes erlegen war.

Es war kein Geheimnis, dass die Menschenfrauen mit der genetischen Veranlagung der Stammesgefährtinnen über einen scharfen Verstand und eine einwandfreie körperliche Verfassung verfügten. Viele von ihnen besaßen außergewöhnliche übersinnliche Kräfte oder paranormale Talente, die sich noch verstärkten, wenn sie erst die Blutverbindung mit einem Vampir eingegangen waren.

Gabrielle Maxwell schien über eine besondere Gabe zu verfügen, die sie sehen ließ, was andere Menschen nicht sehen konnten. Natürlich wusste man nicht, wie weit diese Gabe ging. Lucan aber wollte es wissen. Sein Kriegerinstinkt verlangte, dass er der Sache unverzüglich auf den Grund ging.

Aber sich mit der Frau auf irgendeine Art und Weise einzulassen war das Allerletzte, was er brauchte.

Warum also konnte er ihren süßen Duft, ihre weiche Haut … ihre Sinnlichkeit nicht vergessen? Er hasste es, dass diese Frau eine solche Schwäche in ihm zum Vorschein gebracht hatte, und es besserte seine momentane Stimmung nicht gerade, dass sein Körper durch das Verlangen nach Nahrung schmerzte.

Der einzige Lichtblick in dieser Nacht war das Geräusch der sich nähernden Stiefelabsätze der Rogues auf dem Asphalt, irgendwo nahe der Einmündung in die Seitenstraße. Ein paar Schritte vor ihnen bog ein Mann um die Ecke. Jung, gesund, bekleidet mit einer schwarz-weiß karierten Hose und einem fleckigen weißen Kittel, der nach einer schmierigen Restaurantküche roch – und plötzlich auch nach Angstschweiß. Der Koch blickte über seine Schulter, sah die vier Vampire immer näher kommen. Ein gedämpfter, nervös klingender Fluch erklang in der Dunkelheit. Der Mensch drehte sich wieder um und ging schneller, die Hände zu Fäusten geballt und die schreckgeweiteten Augen auf den dunklen Asphalt zu seinen Füßen geheftet.

„Rennen ist nicht nötig, kleiner Mann“, spottete einer der Rogues, mit einer Stimme kratzig wie Kies.

Ein anderer der Vampire stieß ein schrilles, höhnisches Kreischen aus und sprang in großen Sätzen seinen drei Gefährten davon. „Ja, renn jetzt nicht weg. Du würdest sowieso nicht weit kommen.“

Das Gelächter der Rogues hallte von den Häusern, die die enge Straße säumten, wider.

„Scheiße“, fluchte der Mann leise. Er wandte sich nicht noch einmal um, sondern hastete weiter, war kurz davor, in blinder Panik loszurennen.

Weit wäre er allerdings nicht gekommen, denn als er auf Lucans Höhe war, trat dieser langsam aus dem Dunkel heraus und stellte sich mitten auf den Weg. Er sah bedrohlich aus mit seinem massigen Körper und dem Zwillingsschwert. Er warf den Rogues ein kaltes Lächeln zu, seine Zähne in Erwartung des bevorstehenden Kampfes bereits ausgefahren. „Guten Abend, meine Damen.“

„Oh Gott!“, keuchte der Mann. Er blieb stehen und starrte Lucan voller Entsetzen an, seine Beine gaben unter ihm nach und er taumelte zu Boden. „Scheiße!“

„Steh auf.“ Lucan warf ihm einen schnellen Blick zu, als sich der junge Mann wieder hochrappelte. „Verschwinde von hier.“

Er wetzte die beiden Klingen seines Schwertes aneinander; das kalte, metallische Geräusch von Stahl, der über die tödliche Schneide harten Stahls glitt, erfüllte die dunkle Straße. Hinter den vier Rogues landete Dante gebückt auf dem Asphalt und richtete sich dann zu seiner vollen Größe von zwei Metern auf. Er hatte kein Schwert, aber um seine Taille war ein Ledergürtel geschlungen, der mit einer Auswahl an tödlichen Nahkampfwaffen ausgestattet war, einschließlich eines Paares rasiermesserscharfer gewölbter Klingen, die als höllische Verlängerung seiner grausam schnellen Hände dienten. Er nannte sie Malebranche, und in der Tat waren es bösartige Klauen. Dante hatte sie im Handumdrehen gezückt. Er war äußerst gefährlich, stets bereit zu einem Kampf Mann gegen Mann.

„Oh mein Gott“, schrie der Mensch wieder mit sich überschlagender Stimme angesichts des Grauens um ihn herum. Panisch kramte er in seinen Taschen und zog schließlich aus seiner hinteren Hosentasche eine abgewetzte Brieftasche, die er Lucan vor die Füße warf.

„Nehmen Sie es, Mann! Sie können es haben. Nur töten Sie mich nicht, ich bitte Sie!“

Lucan ließ die vier Rogues nicht aus den Augen, die sich ebenfalls für den Kampf bereit machten. „Verschwinde hier. Jetzt sofort.“

„Er gehört uns“, fauchte einer der Rogues. Gelbe Augen starrten Lucan hasserfüllt an, die Pupillen voller Gier zu vertikalen Schlitzen verengt. Speichel tropfte von den langen Fangzähnen zu Boden, die Gier nach Blut kannte keine Grenzen mehr.

So wie es Menschen gab, die süchtig nach Drogen waren, so war auch diese Gier nach Blut eine Sucht, eine Sucht, die zerstörerisch für den gesamten Stamm war. Es war ein schmaler Grat zwischen dem nötigen Stillen des Hungers und der Sucht nach Blut, nach immer mehr Blut. Viele Vampire erkannten diese Grenze nicht und ergaben sich dem Blutrausch, manche mit voller Absicht, manche aus Unwissenheit, wieder andere aufgrund mangelnder Willenskraft. Wenn der Sucht nicht rechtzeitig Einhalt geboten wurde, gab es keine Hoffnung auf eine Umkehr. Dann wurde ein Vampir zu einem Rogue, so wie diese wilden Bestien, die nun knurrend vor ihm standen. Rogues waren heißhungrige Sklaven ihrer Sucht und ein Problem für den restlichen Stamm, das man am besten durch eine rasche Ausrottung der Rogues lösen konnte.

Begierig darauf, die vier Rogues zu besiegen, schlug Lucan seine langen Klingen zusammen, Funken sprühten, als eine titanverstärkte Klinge gegen die andere krachte.

Der junge Mann hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt, erstarrt vor Angst, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Sein Blick irrte zwischen den vorrückenden Rogues und Lucan, der unerschütterlich dastand, hin und her. Dass er nicht fortlief, bedeutete sein Todesurteil, wie Lucan wusste, aber das war nicht sein Problem. Ihm ging es einzig und allein darum, diese Blutsauger und den Rest ihrer kranken Art auszumerzen.

Einer der Rogues wischte sich mit einer schmutzigen Hand über den geifernden Mund. „Lass uns in Ruhe, Arschloch. Wir brauchen Nahrung.“

„Nicht heute Nacht“, knurrte Lucan. „Nicht in meiner Stadt.“

„Deine Stadt?“ Die anderen lachten höhnisch, als der Rogue, der ganz vorne stand, Lucan vor die Füße spuckte. „Diese Stadt gehört uns. Es dauert nicht lange, bis uns alles gehört.“

„So ist es“, höhnte einer der anderen. „Sieht also so aus, als ob du der Eindringling hier wärest.“

Der junge Mann schien indes zu sich zu kommen und versuchte zu fliehen, doch er kam nicht weit. Schneller als man gucken konnte, ließ einer der Rogues seine Hand nach vorne schnellen und packte den Mann an der Kehle. Er riss ihn mit einem Ruck von den Füßen und hielt ihn hoch, sodass die hohen schwarzen Turnschuhe des Mannes fünfzehn Zentimeter über dem Boden hingen. Der Mann röchelte und wand sich. Er wehrte sich verzweifelt, doch der Rogue drückte fester zu und würgte ihn langsam mit der bloßen Hand. Lucan sah ungerührt zu, wie der Vampir seine zuckende Beute fallen ließ und dem Mann mit seinen Zähnen den Hals aufriss.

Aus den Augenwinkeln sah Lucan, wie Dante sich leise hinter den Rogues anschlich. Mit entblößten Fangzähnen leckte er sich die Lippen, voller Kampfeslust. Er wurde nicht enttäuscht. Lucan schlug zuerst zu, und dann war die Straße erfüllt von klirrendem Metall und dem Knacken brechender Knochen.

Während Dante wie ein Dämon aus der Hölle kämpfte, mit blitzenden Malebranche-Klingen und lauten Schlachtrufen, die die nächtliche Stille durchbrachen, behielt Lucan seine kühle Selbstbeherrschung und seine tödliche Präzision bei. Die Rogues fielen nacheinander den gnadenlosen Schlägen der Kämpfer zum Opfer. Der Kuss der Titanspitze seines Schwerts tobte wie Gift durch ihr verdorbenes Blut und brachte den Tod. Sofort begannen sich ihre Körper zu zersetzen.

Als die Feinde zur Strecke gebracht waren und sich ihre Leichname von Fleisch und Blut in feine Asche, die vom Wind verweht wurde, verwandelt hatten, betrachteten Lucan und Dante das Opfer des anderen Blutbads.

Der Mann bewegte sich nicht mehr, er blutete stark aus der Wunde an seiner zerfetzten Kehle.

Dante kniete sich neben den Mann und roch an der übel zugerichteten Gestalt. „Er ist tot. Oder er wird es in einer Minute sein.“

Der Geruch nach frischem Blut stieg Lucan mit einer Heftigkeit – einem Faustschlag in den Magen gleich – in die Nase. Seine Zähne, die noch vor Kampfeslust ausgefahren waren, pochten nun vor Verlangen nach Nahrung. Er blickte angeekelt auf den sterbenden Menschen hinunter. Sicher, er brauchte Blut zum Überleben, doch stieß ihn die Vorstellung ab, seinen Hunger an den Resten, die die Rogues hinterlassen hatten, zu stillen. Er zog es vor, seinen Hunger an willigen Blutwirtinnen zu befriedigen, die er sich selbst aussuchte, auch wenn dies nur reichte, um den größten Hunger zu stillen.

Früher oder später musste jeder Vampir töten.

Lucan versuchte nicht sein Naturell zu verleugnen, aber wenn er töten musste, dann nach seinen eigenen Regeln. Wenn er nach Opfern suchte, suchte er sich in erster Linie Verbrecher, Drogendealer, Junkies und anderes Pack aus. Er metzelte niemals nur um des Tötens willen. Alle Angehörigen des Stammes hielten sich an einen ähnlichen Ehrenkodex; und das war es, was sie von ihren gesetzlosen Blutbestienbrüdern unterschied.

Sein Magen zog sich zusammen, als ihm abermals der Blutgeruch in die Nase stieg. Speichel lief ihm in seinem ausgedörrten Mund zusammen.

Wann hatte er eigentlich das letzte Mal Nahrung zu sich genommen?

Er konnte sich nicht erinnern. Es war schon eine Weile her. Sicher mehrere Tage, und das reichte nicht aus, um zu überleben. Er hatte eigentlich einen Teil seines Hungers – sowohl den organischen als auch den anderen, den sinnlichen – in der vergangenen Nacht mit Gabrielle Maxwell stillen wollen, aber dazu war es ja nun nicht gekommen. Nun zitterte er vor Verlangen nach Nahrung und war dem Tode zu nahe, um an irgendetwas anderes zu denken als daran, die Grundbedürfnisse seines Körpers befriedigen zu müssen.

„Lucan.“ Dante presste seine Finger gegen den Hals des Mannes und versuchte seinen Puls zu fühlen. Auch seine Fangzähne waren ausgefahren, durch den Kampf, aber auch als Reaktion auf den Duft der Lache aus karmesinrotem Leben. „Wenn wir noch viel länger warten, wird das Blut ebenfalls tot sein.“

Und dann hätten sie keine Verwendung mehr dafür, da nur frisches Blut, das noch durch menschliche Adern gepumpt wurde, den Hunger der Vampire stillen konnte. Dante wartete ab, obwohl es offensichtlich war, dass auch er sich nichts mehr wünschte, als seinen Kopf zu senken und seinen Hunger an dem Menschen zu stillen, der zu dumm gewesen war zu fliehen, als er noch die Chance dazu gehabt hatte.

Aber Dante würde warten, selbst auf die Gefahr hin, dass es dann zu spät sein würde. Denn es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Vampire aus späteren Generationen nicht in der Anwesenheit eines Älteren Nahrung zu sich nahmen, insbesondere, wenn dieser Ältere zum Gen-Eins-Stamm gehörte und fast vor Hunger starb.

Im Unterschied zu Dante stammte Lucan von einem der Alten ab, einem von acht Alienkriegern, die von einem weit entfernten, dunklen Planeten gekommen und vor Tausenden von Jahren auf der feindlichen, unwirtlichen Erde gestrandet waren. Um zu überleben, hatten sie sich von dem Blut menschlicher Opfer ernährt und in ihrem Bluthunger ganze Völker dezimiert. Manchmal hatten diese fremden Eroberer Nachkommen mit menschlichen Frauen – den ersten Stammesgefährtinnen – gezeugt und so eine neue Generation des Vampirvolkes hervorgebracht.

Diese wilden Vorfahren aus einer anderen Welt waren inzwischen alle verschwunden, aber ihre direkten Nachkommen lebten weiter, in Lucan und ein paar vereinzelten anderen. Sie waren das, was in der Gesellschaft der Vampire einem Königshaus am nächsten kam – respektiert und durchaus gefürchtet –, während die große Mehrheit des Stammes jünger war und aus der zweiten und dritten Generation sowie den zahllosen späteren Generationen stammte.

Der Hunger war bei den Gen-Eins-Angehörigen am stärksten, ebenso wie die Gefahr, der Blutgier zu erliegen und zu einem Rogue zu werden, bei ihnen am größten war. Der Stamm hatte gelernt, mit der Gefahr zu leben. Die meisten der Gen-Eins-Generation konnten mit ihrer Schwäche umgehen, sie tranken nur dann Blut, wenn es nötig war, und nur so viel, wie sie zum Überleben brauchten. Denn wenn sie erst einmal der Blutgier verfallen waren, gab es kein Zurück.

Der Blick aus Lucans geschlitzten Augen senkte sich auf den zuckenden und flach atmenden Menschen auf dem Asphalt. Das animalische Knurren, das er hörte, stammte aus seiner eigenen trockenen Kehle. Als Lucan auf den Duft des vergossenen, lebensspendenden Blutes zuging, neigte Dante seinen dunkelhaarigen Kopf leicht, aber respektvoll und zog sich zurück, damit der Altere in Ruhe Nahrung aufnehmen konnte.