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Drei Stunden später, in tiefster Nacht, waren Lucan und die anderen Krieger bereit für den Kampf und saßen in einem schwarzen Geländewagen, der etwa achthundert Meter entfernt von der alten Nervenheilanstalt an der Straße parkte.
Gabrielles Fotografien hatten sich bei der Planung des Angriffs auf das Versteck der Rogues als äußerst nützlich erwiesen. Zusätzlich zu mehreren Außenaufnahmen und Bildern von Eingängen in Bodenhöhe hatte sie Innenaufnahmen des Kesselraumes, diverser Gänge und Treppenhausschächte gemacht. Es gab sogar zufällig ein paar Aufnahmen von installierten Sicherheitskameras. Diese mussten funktionsunfähig gemacht werden, sobald sich die Krieger Zugang zu diesem Ort verschafft hatten.
„Reinzukommen wird der leichteste Teil sein“, meinte Gideon, als die Gruppe mit der letzten Besprechung der Operation begann. „Ich werde für unseren Zutritt das Sicherheitssignal an den Kameras auf der Bodenebene unterbrechen, aber wenn wir drin sind, wird sich das Anbringen dieser zwei Dutzend C4-Päckchen an kritischen Stellen, ohne die gesamte Kolonie von diesen Scheißkerlen auf uns aufmerksam zu machen, als etwas schwieriger erweisen.“
„Ganz zu schweigen davon, dass wir auch die Aufmerksamkeit der Menschen nicht auf uns ziehen dürfen“, fügte Dante hinzu. „Warum zum Teufel braucht Niko so lange, um diese Gashauptleitung zu lokalisieren?“
„Da kommt er“, sagte Lucan. Er hatte die dunkle Gestalt des Vampirs ausgemacht, die sich dem Geländewagen von der Baumreihe draußen näherte.
Nikolai öffnete die hintere Tür und stieg neben Tegan in den Wagen. Er zog seine schwarze Kopfbedeckung ab, und seine eisblauen Augen funkelten vor Aufregung. „War ein Kinderspiel. Die Hauptleitung befindet sich in einem Verteilerkasten am westlichen Ende des Komplexes. Die Arschlöcher brauchen vielleicht keine Wärme, aber die Stadtwerke liefert eine Menge Gas zu den Gebäuden.“
Lucan begegnete dem eifrigen Blick des Kriegers. „Also, wir gehen rein, bauen unsere kleinen Mitbringsel auf, hauen ab …“
Niko nickte. „Gib mir ein Zeichen, wenn das Zeug an Ort und Stelle ist. Ich werde die Hauptleitung aufdrehen und dann das C4 detonieren lassen, wenn wir uns alle wieder hier getroffen haben. Vordergründig wird es so aussehen, als ob eine undichte Stelle in der Gasleitung die Explosion verursacht hätte. Und wenn das Heimatschutz-Ministerium sich damit befassen will, bin ich sicher, dass ein paar von Gabrielles Gangstergraffiti-Fotos die Menschen für eine Weile beschäftigen werden.“
Inzwischen würden die Krieger ihren Feinden eine hübsche Nachricht zukommen lassen, vor allem dem Gen-Eins-Vampir, von dem Lucan vermutete, dass er der Anführer dieses neuen Aufstands der Rogues war. Ihr Hauptquartier in alle Ewigkeit zu pusten sollte eine ausreichende Einladung für den Mistkerl sein, sich zu zeigen.
Lucan brannte darauf loszuschlagen. Und er brannte sogar noch mehr darauf die Mission dieser Nacht zu erledigen, um sich seinen eigenen, unerledigten Angelegenheiten zu widmen, die im Quartier auf ihn warteten. Er hasste es, Gabrielle so verlassen zu haben, wie er es getan hatte, denn er wusste, dass sie verwirrt und wahrscheinlich ziemlich durcheinander sein musste.
Es gab ganz sicher Dinge, über die gesprochen werden musste, Dinge, über die er noch nicht einmal hatte richtig nachdenken können. Und noch viel weniger fühlte er sich in der Lage, mit ihr darüber zu sprechen, jetzt, wo ihn die überwältigende Realität seiner Gefühle für sie mit voller Wucht getroffen hatte.
Er hatte den Kopf voller Pläne.
Es waren unbesonnene, dumme, hoffnungsvolle Pläne, die sich alle um Gabrielle drehten.
Um ihn herum in dem Fahrzeug überprüften die anderen Krieger ihre Ausrüstung, luden die C4-Päckchen in Seesäcke mit Reißverschlüssen und nahmen letzte Einstellungen an den Hörern und Mikros vor. Mit ihrer Hilfe würden sie in Kontakt bleiben, sobald sie das Gelände der Nervenheilanstalt betreten und sich aufgeteilt hatten, um die Bomben zusammenzubauen.
„Das heute Nacht tun wir für Con und Rio“, sagte Dante, drehte eine seiner gewölbten Klingen mit seinen schwarz behandschuhten Fingern und steckte sie in die Scheide, die er an der Hüfte trug. „Die Zeit der Rache ist gekommen.“
„Ja, zum Teufel“, antwortete Niko, und die anderen nickten entschlossen.
Als sie gerade die Türen öffnen wollten, hob Lucan seine Hand.
„Wartet mal.“ Seine grimmige Stimme ließ sie alle still werden. „Da gibt es etwas, das ihr alle wissen müsst. Da wir gleich da reingehen und uns wahrscheinlich der Arsch um die Ohren fliegen wird, denke ich, es ist an der Zeit, euch ehrlich ein paar Dinge zu sagen … und ich brauche ein Versprechen von jedem von euch.“
Er sah jedem seiner Brüder ins Gesicht, den Kriegern, die ihm so nahe standen wie Verwandte und so lange an seiner Seite gekämpft hatten – seit einer Ewigkeit, wie es ihm schien. Sie hatten sich immer darauf verlassen, dass er sie anführte, darauf vertrauend, dass er die richtige Wahl traf, davon überzeugt, dass ihm die Strategien und Alternativen nie ausgingen.
Jetzt war er unschlüssig und zögerte, unsicher, wo er anfangen sollte. Er rieb sich mit einer Hand über das Kinn und stieß einen tiefen Seufzer aus.
Gideon betrachtete ihn besorgt. „Alles in Ordnung, Lucan? Dich hat es in dem Hinterhalt der vergangenen Nacht ganz schön erwischt. Wenn du bei dieser Mission aussetzen willst …“
„Nein. Nein, das ist es nicht. Mir geht es gut. Meine Verletzungen sind geheilt … dank Gabrielle“, sagte er. „Vor Kurzem haben sie und ich …“
„Ernsthaft“, erwiderte Gideon, als Lucans Erklärung verstummte. Der verdammte Vampir grinste sogar.
„Du hast von ihr getrunken?“, fragte Niko.
Tegan knurrte auf dem Rücksitz. „Diese Frau ist eine Stammesgefährtin.“
„Ja“, antwortete Lucan ernst und ruhig auf beide Fragen. „Und wenn sie mich haben will, will ich Gabrielle bitten, mich zu ihrem Gefährten zu nehmen.“
Dante grinste ihn an und rollte mit den Augen. „Herzlichen Glückwunsch, Mann. Ganz im Ernst.“
Gideon und Niko reagierten ähnlich und klopften Lucan auf die Schulter.
„Das ist aber nicht alles.“
Drei Augenpaare richteten sich auf ihn, und alle außer Tegan blickten ihn mit grimmiger Erwartung an.
„Vergangene Nacht hatte Eva einige nette Dinge über mich zu sagen …“ Sofort erklang ein Wortschwall von Gideon, Niko und Dante, die ihn verteidigten. Lucan übertönte das ärgerliche Murmeln mit seiner Stimme. „Der Verrat, den sie an Rio und dem Rest von uns begangen hat, ist unentschuldbar, ja. Aber was sie über mich gesagt hat … das war die Wahrheit.“
Dante warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. „Worüber sprichst du?“
„Blutgier“, antwortete Lucan. Das Wort tönte hart durch die Stille in dem Geländewagen. „Das, äh … das ist für mich ein Problem. Und das schon seit langer Zeit. Ich komme damit zurecht, aber es gibt Zeiten …“ Er zog die Mundwinkel nach unten und starrte auf den dunklen Boden des Fahrzeugs. „Ich weiß nicht, ob ich sie besiegen kann. Vielleicht habe ich mit Gabrielle an meiner Seite tatsächlich eine Chance. Ich werde sie mit allem, was in meiner Macht steht, bekämpfen, aber wenn es schlimmer wird …“
Gideon stieß einen saftigen Fluch aus. „Wird nicht passieren, Lucan. Von uns allen, die wir hier sitzen, bist du der Stärkste. Und das warst du schon immer. Nichts wird dich unterkriegen.“
Lucan schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mehr so tun, als hätte ich immer alles unter Kontrolle. Ich bin müde. Ich bin nicht unverwundbar. Nach neunhundert Jahren, in denen ich diese Lüge gelebt habe, hat Gabrielle weniger als zwei Wochen gebraucht, um mir die Maske vom Gesicht zu reißen. Sie hat mich gezwungen, mich selbst so zu sehen, wie ich wirklich bin. Wenig von dem, was ich sehe, gefällt mir, aber ich will mich bessern … für sie.“
Niko blickte ihn finster an. „Verdammt, Lucan. Sprichst du hier über Liebe?“
„Ja“, sagte Lucan ernst. „Das tue ich. Ich liebe sie. Und darum muss ich euch um etwas bitten. Euch alle.“
Gideon nickte. „Spuck es aus.“
„Wenn es schlimmer um mich steht – sehr bald oder eines Tages –, muss ich wissen, dass ich auf euch Jungs zählen kann, dass ihr mir den Rücken deckt. Wenn ihr seht, dass ich gegen die Blutgier verliere, wenn ihr denkt, dass ich mich verwandle … Ich brauche euer Wort, dass ihr mich dann tötet.“
„Was?“ Dante schreckte zurück. „Das kannst du nicht von uns verlangen, Mann.“
„Hört mir zu.“ Er war nicht gewohnt, um etwas zu betteln. Die Bitte fühlte sich rau in seiner Kehle an, aber er musste sie aussprechen. Er hatte es satt, die Last alleine zu tragen. Und das Allerletzte, was er jemals wollte, war die Angst, dass er in seiner Schwäche irgendetwas tat, was Gabrielle verletzen würde. „Ich muss hören, dass ihr es schwört. Jeder von euch. Versprecht es mir.“
„Scheiße“, sagte Dante und funkelte ihn an. Schließlich nickte er ernst. „Ja. Okay. Du bist verdammt verrückt, aber okay.“
Gideon schüttelte den Kopf. Dann streckte er die Faust aus und schlug seine Fingerknöchel gegen die von Lucan. „Wenn es das ist, was du willst, dann bekommst du es. Ich schwöre es dir, Lucan.“
Niko stimmte ebenfalls zu. „Dieser Tag wird niemals kommen, aber wenn es so weit ist, weiß ich, dass du das Gleiche für jeden von uns tun würdest. Also, zum Teufel, ja, du hast mein Wort.“
Übrig blieb Tegan, der stoisch auf dem Rücksitz saß.
„Was ist mit dir, Tegan?“, fragte Lucan und drehte sich um, um dem ausdruckslosen Starren aus den grünen Augen des Kriegers zu begegnen. „Kann ich dabei auf dich zählen?“
Tegan starrte ihn lange und nachdenklich an. „Klar, Mann. Zum Teufel, was auch immer du sagst. Wenn du dich verwandelst, bin ich der Erste, der dich kaltmacht.“
Lucan nickte befriedigt, während er in die Runde blickte, in die ernsten Augen seiner Brüder.
„Gott“, warf Dante ein, als die gewichtige Stille in dem Fahrzeug endlos zu werden schien. „Nach all dieser ganzen Gefühlsduselei muss ich unbedingt etwas killen. Wie wäre es, wenn wir aufhören, uns gegenseitig einen runterzuholen, und diesem Scheißhaufen das Dach runterblasen würden?“
Lucan erwiderte das großspurige Grinsen des anderen Vampirs. „Lasst es uns tun.“
Die fünf von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleideten Stammesvampire strömten geschlossen aus dem Geländewagen und begannen dann ihren heimlichen Vorstoß in Richtung der Nervenheilanstalt auf der anderen Seite der vom Mondschein erleuchteten Bäume.