19
Er hatte ihr viel zugemutet, womit sie sich auseinandersetzen musste – nicht alles, aber mehr als genug für eine Nacht.
Lucan musste Gabrielle Anerkennung zollen. Bis auf ein paar wenige unvernünftige Anwandlungen wie das mit dem Knoblauch und dem Weihwasser hatte sie einen erstaunlich kühlen Kopf bewahrt. Ohne Frage war das Gespräch für sie schwer zu verdauen. Vampire, die Ankunft von Aliens in uralter Zeit, der aufziehende Krieg mit den Rogues, die nebenbei bemerkt jetzt auch hinter ihr her waren.
Sie hatte all das mit einer Chuzpe aufgenommen, die den meisten menschlichen Männern abging.
Lucan sah zu, wie sie sich bemühte, die Informationen zu verarbeiten. Sie saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und jetzt liefen ihr erste Tränen über die Wangen. Er wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, es ihr leichter zu machen. Aber es gab keine. Und es würde ohne Frage noch härter für sie werden, wenn sie erst die ganze Wahrheit über das kannte, was vor ihr lag.
Für ihre eigene Sicherheit und die des Stammes würde sie ihre Wohnung aufgeben müssen, ihren Freundeskreis, ihren Beruf. Sie würde alles hinter sich lassen müssen, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte.
Und zwar noch heute Nacht.
„Wenn du noch mehr solche Fotos hast, muss ich sie sehen, Gabrielle.“
Sie nickte und hob den Kopf. „Ich habe alles auf meinem Computer gespeichert“, erklärte sie und strich sich das Haar aus dem Gesicht.
„Was ist mit denen in der Dunkelkammer?“
„Die sind ebenfalls gespeichert, wie auch jedes Bild, das ich über die Galerie verkauft habe.“
„Gut.“ Das Stichwort Bilderverkauf löste in Lucans Gedächtnis einen Alarm aus. „Als ich neulich hier war, hast du erwähnt, dass du eine ganze Serie an jemanden verkauft hast. Wer war das?“
„Ich weiß es nicht. Es war ein anonymer Kauf. Der Käufer hat eine private Ausstellung in einer gemieteten Penthousesuite in der Innenstadt arrangiert. Sie haben sich ein paar Bilder angesehen und dann für die ganze Serie Bargeld hingeblättert.“
Er fluchte, und über Gabrielles gequälte Miene breitete sich echtes Entsetzen.
„O mein Gott. Denkst du, es waren Rogues, die sie gekauft haben?“
Was Lucan dachte, war: Wenn er der derzeitige Anführer der Rogues wäre, hätte er größtes Interesse daran, sich eine Waffe anzueignen, mit der man die Aufenthaltsorte seiner Gegner ins Bild bekam. Ganz zu schweigen davon, dass man verhindern musste, dass der Feind besagte Waffe in die Finger bekam und gegen einen richtete.
Gabrielle in den Händen der Rogues würde ihnen einen gewaltigen Vorteil verschaffen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Und hatten sie sie erst in ihrer Gewalt, würde es nicht lange dauern, bis sie ihr Stammesgefährtinnenmal entdeckten. Sie würden sie missbrauchen wie eine Zuchtstute. Sie würden sie zwingen, ihr Blut zu trinken und ihren Nachwuchs zu gebären, bis ihr Körper versagte und starb. Das konnte Jahre dauern, Jahrzehnte, Jahrhunderte.
„Lucan, mein bester Freund hat die Fotos dahin gebracht. Wenn ihm dabei etwas zugestoßen wäre, müsste ich mich aufhängen, Jamie ist da reinspaziert und hatte nicht die leiseste Ahnung von der Gefahr, in der er sich befand –“
„Sei froh, denn das ist wahrscheinlich der Grund, dass er lebendig wieder herausgekommen ist.“
Sie fuhr zurück, als hätte er sie geschlagen. „Ich will nicht, dass meine Freunde meinetwegen Schaden nehmen.“
„Du bist jetzt viel mehr in Gefahr als irgendjemand sonst. Und wir müssen uns beeilen. Lass uns diese Bilder von deinem Computer runterladen. Ich möchte sie alle in unser Labor mitnehmen.“
Gabrielle führte ihn zu dem ordentlichen Eckschreibtisch in ihrem Wohnzimmer. Sie fuhr den Rechner hoch, und während das Gerät bootete, zog sie ein paar Datensticks aus einer Schublade und schob einen in den USB-Eingang des Computers.
„Weißt du, es hieß, sie wäre verrückt. Sie sagten, sie hätte Wahnvorstellungen, und nannten sie paranoid und schizophren. Sie wurde eingesperrt, weil sie glaubte, von Vampiren angegriffen worden zu sein.“ Gabrielle lachte auf, aber es klang freudlos und dünn. „Vielleicht war sie gar nicht verrückt.“
Lucan trat näher. „Von wem sprichst du?“
„Von meiner leiblichen Mutter.“ Nachdem sie den Kopiervorgang gestartet hatte, drehte sich Gabrielle auf ihrem Stuhl um und sah Lucan an. „Sie wurde eines Nachts in Boston aufgefunden, verletzt, blutend, desorientiert. Sie hatte keine Brieftasche, keine Handtasche und keinerlei Ausweispapiere bei sich, und in ihren kurzen klaren Momenten konnte sie niemandem sagen, wer sie war. Also hat die Polizei sie als Namenlose eingetragen. Sie war noch ein Teenager.“
„Sie hat geblutet, sagst du?“
„Mehrere Halsverletzungen – angeblich selbst beigebracht, so der offizielle Akteneintrag. Sie wurde vorgeladen, für prozessunfähig erklärt und in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, sobald man sie aus dem Krankenhaus entließ.“
„Mein Gott.“
Gabrielle schüttelte langsam den Kopf. „Aber was, wenn alles, was sie gesagt hat, der Wahrheit entsprach? Was, wenn sie überhaupt nicht verrückt war? O Gott, Lucan … ich habe ihr all die Jahre Vorwürfe gemacht. Ich glaube, ich hab sie sogar gehasst, und jetzt kann ich nicht umhin zu denken –“
„Du hast gesagt, dass sie vorgeladen wurde. Du meinst, wegen eines Verbrechens?“
Der Computer piepste, um anzuzeigen, dass der Speicherstift voll war. Gabrielle drehte sich um, leitete den nächsten Kopiervorgang ein und blieb so sitzen, mit dem Rücken zu ihm. Lucan legte ihr sanft die Hände auf die Schultern und drehte den Drehstuhl wieder herum.
„Weswegen war deine Mutter angeklagt?“
Gabrielle schwieg lange. Lucan sah, wie sie schluckte. In ihren sanften braunen Augen stand Schmerz. „Sie war angeklagt, weil sie ihr Kind ausgesetzt hat.“
„Wie alt warst du?“
Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. „Klein. Ein Säugling. Sie steckte mich vor einem Wohnhaus in einen Mülleimer. Das war nur einen Block von der Stelle, wo die Polizei sie aufgelesen hat. Zu meinem Glück entschloss sich einer der Polizisten, die Umgebung abzusuchen. Ich nehme an, er hörte mich weinen und holte mich da raus.“
Großer Gott.
Mit einem Mal blitzte eine Erinnerung durch Lucans Geist. Er sah eine dunkle Straße, nassen Asphalt, der im Mondschein glänzte, und eine Frau, die mit aufgerissenen Augen gelähmt vor Entsetzen dastand, während ein Rogues-Vampir an ihrem Hals saugte. Er hörte das schrille Klagegeschrei des winzigen Babys, das die junge Mutter in den Armen hielt.
„Wann war das?“
„Vor langer Zeit. Diesen Sommer werden es siebenundzwanzig Jahre, um genau zu sein.“
Für jemanden in Lucans Alter waren siebenundzwanzig Jahre nur ein Wimpernschlag der Zeit. Er erinnerte sich jetzt deutlich. Er hatte den Überfall an dem Busbahnhof bemerkt. Er hatte sich zwischen den Rogue und seine Beute gestellt und die verängstigte junge Frau mit einem strengen mentalen Befehl weggeschickt. Sie hatte stark geblutet, und das Blut tropfte auf ihr Baby herab.
Er liquidierte den Rogue und räumte den Tatort auf, dann suchte er nach der Frau und ihrem Kind. Er hatte sie nicht gefunden. Oft hatte er sich gefragt, was aus beiden geworden war, und mit sich gehadert, weil er es nicht fertiggebracht hatte, wenigstens die entsetzlichen Erinnerungen aus dem Gehirn des Opfers zu löschen.
„Sie beging wenig später in der Anstalt Selbstmord“, sagte Gabrielle. „Ich war bereits ein Mündel des Staates.“
Er konnte nicht anders – er musste sie berühren. Sanft schob er ihr langes Haar beiseite, umfasste die zarte Linie ihres Kiefers und streichelte das stolz erhobene Kinn. Gabrielles Augen glänzten feucht, aber ihre Fassung brach nicht. Sie war wirklich stark. Stark und schön und so etwas unglaublich Besonderes.
In diesem Moment wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie in seine Arme zu ziehen und ihr das zu sagen.
„Es tut mir so leid“, sagte er und meinte es zutiefst ehrlich. Und er empfand Bedauern, ein Gefühl, das er nicht gewöhnt war. Allerdings hatte Gabrielle, seit er sie zum ersten Mal erblickt hatte, ihn eine Menge Dinge empfinden lassen, die ihm völlig neu waren. „Es tut mir leid für euch beide.“
Der Computer piepste wieder.
„Das war’s“, sagte sie und hob halb die Hand, als wolle sie seine streicheln, aber könne sich nicht dazu durchringen, ihn zu berühren.
Sie entzog sich seiner Liebkosung, und er verspürte schmerzliches Bedauern, als sie sich schweigend von ihm abwandte.
Ihn ausschloss, den jetzt wieder Fremden.
Er sah zu, wie sie den Datenstick herausnahm und zu dem anderen legte. Als sie die Anwendung schließen wollte, sagte Lucan: „Noch nicht. Du musst die Bilddateien vom gesamten Computer löschen und auch aus allen Backups, die du hast. Die Kopien, die wir jetzt mitnehmen, müssen die einzigen sein, die noch übrig sind.“
„Was ist mit den Abzügen? Denen da drüben auf dem Tisch, und denen unten in meiner Dunkelkammer –“
„Mach du das hier fertig. Ich hole die Abzüge.“
„Okay.“
Sie machte sich ans Werk, und Lucan durchsuchte rasch die restliche Wohnung. Er sammelte alle losen Aufnahmen ein und nahm auch Gabrielles gerahmte Bilder von den Wänden, um nichts zurückzulassen, das den Rogues von Nutzen sein konnte. In Gabrielles Schlafzimmerschrank fand er eine große Reisetasche und nahm sie mit nach unten, um zu packen.
Als er mit dem Packen fertig war und den Reißverschluss zuzog, hörte er das leise Brummen eines Wagens, der vor dem Haus hielt. Zwei Türen wurden geöffnet und dann wieder zugeschlagen, dann kamen eilige Schritte auf die Wohnung zu.
„Jemand ist hier“, sagte Gabrielle und sah Lucan alarmiert an. Der Computer ging aus.
Lucan schob eine Hand unter seinen Trenchcoat und tastete nach seinem Kreuz, wo hinten in seinem Hosenbund eine 9-mm-Beretta steckte. Sie war mit Titanmunition geladen, maximale Durchschlagskraft zum Einäschern von Rogues – eine von Nikos neuesten Erfindungen. Wenn ein Rogue vor der Tür stand, würde er dem blutgierigen Hundesohn ordentlich Bauchweh machen.
Aber es waren keine Rogues, wie ihm plötzlich bewusst wurde. Nicht mal Lakaien, die wegzupusten Lucan auch eine gewisse Genugtuung bereitet hätte.
Es waren Menschen, die vor der Tür standen. Ein Mann und eine Frau.
„Gabrielle?“ Die Türklingel schrillte mehrmals schnell hintereinander. „Hallo! Gabby! Bist du da?“
„O nein. Es ist meine Freundin Megan.“
„Die, bei der du letzte Nacht warst?“
„Ja. Sie hat mich den ganzen Tag anzurufen versucht und Nachrichten hinterlassen. Sie macht sich Sorgen um mich.“
„Was hast du ihr erzählt?“
„Sie weiß von dem Überfall im Park. Ich habe ihr erzählt, wie ich angegriffen wurde, aber ich habe nichts von dir erzählt …“
„Warum nicht?“
Gabrielle zuckte mit den Achseln. „Ich wollte sie nicht mit hineinziehen. Ich will nicht, dass sie meinetwegen in Gefahr gerät. Irgend so was.“ Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht mochte ich nichts über dich sagen, ehe ich nicht selber mehr wusste.“
Die Türklingel schrillte erneut. „Gabby, mach auf! Ray und ich müssen mit dir reden. Wir wollen sicher sein, dass es dir gut geht.“
„Ihr Freund ist Polizist“, erklärte Gabrielle leise. „Sie wollen, dass ich eine Aussage über das mache, was letzte Nacht passiert ist.“
„Gibt es hier einen Hinterausgang?“
Sie nickte, schien dann zu zögern und schüttelte den Kopf. „Die Schiebetür da führt zu einem gemeinsamen Garten hinter dem Haus, aber da gibt es einen hohen Zaun –“
„Keine Zeit“, erwiderte Lucan, indem er die Möglichkeit verwarf. „Geh zur Tür. Lass deine Freunde rein.“
„Was hast du vor?“ Sie starrte auf seine Hand, als er die Waffe aus seinem Trenchcoat zog und hinter seinem Rücken verbarg. Ihr Gesicht nahm einen panischen Ausdruck an. „Hast du da eine Schusswaffe? Lucan, sie werden dir nichts tun. Ich sorge dafür, dass sie nichts sagen –“
„Ich werde die Waffe nicht gegen sie einsetzen.“
„Was willst du dann tun?“ Nachdem sie bewusst jeden Körperkontakt mit ihm vermieden hatte, umklammerte sie seinen Arm. „Bitte sag mir, dass du ihnen nichts tust –“
„Mach die Tür auf, Gabrielle.“
Ihre Füße bewegten sich mechanisch auf die Eingangstür zu. Sie öffnete die Sicherheitsverriegelung und hörte Megans Stimme auf der anderen Seite.
„Sie ist da, Ray. Sie ist an der Tür. Gabby, mach auf, Süße! Geht es dir gut?“
Gabrielle öffnete die Türkette, sagte aber nichts. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihrer Freundin versichern sollte, dass es ihr gut ging, oder ob sie Megan und Ray zurufen sollte, sie sollten schleunigst verschwinden.
Der Blick über die Schulter zu Lucan gab ihr auch keinen Hinweis. Seine scharfen Züge waren emotions- und regungslos. Sein silbriger Blick war auf die Tür geheftet, kühl und ohne zu blinzeln. Seine kräftigen Hände waren leer und hingen tatenlos herab, aber Gabrielle wusste, wie schnell er sich bewegen konnte.
Wenn er ihre Freunde töten wollte – oder auch sie selbst –, wäre es vorbei, ehe einer von ihnen auch nur Luft holen konnte.
„Lass sie rein“, knurrte er leise.
Gabrielle drehte langsam den Türknauf.
Die Tür war kaum einen Spalt geöffnet, als Megan hereindrängte, ihren Freund noch in Uniform direkt auf den Fersen.
„Verdammte Scheiße, Gabby! Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen gemacht habe? Warum hast du nicht zurückgerufen?“ Megan zog Gabrielle in eine stürmische Umarmung und ließ sie dann los, nur um sie wie eine besorgte Glucke zu mustern. „Du siehst müde aus. Hast du geweint? Wo hast du –“
Megan brach abrupt ab, als ihr Blick auf Lucan fiel, der mitten im Wohnzimmer stand.
„Oh … ich wusste nicht, dass du jemanden hier hast …“
„Alles okay hier?“, fragte Ray, trat an den beiden Frauen vorbei auf Lucan zu und legte seine Hand leicht auf das Holster mit seiner Dienstwaffe.
„Alles in Ordnung“, antwortete Gabrielle schnell. Sie wies mit der Hand auf Lucan. „Das ist, äh … ein Freund von mir –“
„Wolltet ihr gerade irgendwohin?“ Megans Freund trat noch einen Schritt vor und deutete auf die vollgestopfte Reisetasche, die neben Lucans Füßen lag.
„Äh, ja“, antwortete Gabrielle, wobei sie schnell an Ray vorbeiging und sich zwischen ihn und Lucan stellte. „Ich bin heute Abend ein bisschen aufgewühlt. Ich dachte, ich fahre in ein Hotel und entspanne mich etwas. Lucan ist hergekommen, um mich hinzubringen.“
„Hah.“ Ray versuchte um sie herum einen Blick auf Lucan zu werfen, der nach wie vor unhöflich stoisch und schweigend dastand. Lucans abschätziger Blick verriet, dass er den jungen Polizisten bereits taxiert und für nicht ernst zu nehmen befunden hatte.
„Ich wünschte, ihr wärt nicht hergekommen, Leute“, meinte Gabrielle. Und das war die reine Wahrheit. „Wirklich, ihr müsst nicht bleiben.“
Megan trat zu ihr und nahm Gabrielles Hand beschützend in ihre. „Ray und ich wollten dich eigentlich überreden, mit uns zur Polizeiwache zu kommen, Süße. Das ist wichtig. Ich bin sicher, dass dein Freund einer Meinung mit uns ist. Sie sind doch der Kriminalbeamte, den Gabby erwähnt hat, oder? Ich bin Meg –“
Lucan wechselte seine Stellung. Eine fast nicht wahrnehmbare Bewegung brachte ihn direkt vor Megan und Ray. Es ging so schnell, dass die Zeit um Lucan herum stehen zu bleiben schien. Gabrielle konnte erkennen, dass er ein paar unglaublich schnelle Schritte machte, aber ihre Freunde blinzelten nur verwirrt, als Lucan plötzlich direkt vor ihrer Nase stand. Seine Körpergröße und bedrohliche Ausstrahlung schienen sie zu lähmen.
Ohne Vorwarnung hob er die rechte Hand und packte Megan an der Stirn.
„Lucan, nein!“
Megan schrie auf, ein halb erstickter Laut, der ihr in der Kehle stecken blieb, als sie Lucan in die Augen sah. Mit der Geschwindigkeit einer Viper streckte er die Linke aus und packte Ray auf dieselbe Art. Der Polizist wehrte sich kaum eine Sekunde lang, dann wurde sein Gesicht schlaff, und ein Ausdruck tranceartiger Benommenheit legte sich darüber. Lucans starke Finger schienen alles, was das Paar aufrecht hielt.
„Lucan, bitte! Ich bitte dich!“
„Hol die Speicherstifte und die Tasche“, sagte er ruhig. Ruhig, kalt und befehlsgewohnt. „Ich habe draußen einen Wagen stehen. Steig ein und warte auf mich. Ich bin gleich da.“
„Ich werde nicht zulassen, dass du meine Freunde aussaugst.“
„Wenn ich das vorhätte, lägen sie bereits tot auf dem Boden.“
Er hatte recht. Gott, sie hatte keinen Zweifel, dass dieser Mann – dieses dunkle Geschöpf, das sie in ihr Leben gelassen hatte – gefährlich genug war, genau das zu tun.
Aber er hatte es nicht getan. Und würde es auch nicht; so weit vertraute sie ihm.
„Die Bilder, Gabrielle. Schnell.“
Sie hängte sich die schwere Reisetasche über die Schulter und steckte die beiden Speicherstifte in die vordere Tasche ihrer Jeans. Auf dem Weg nach draußen hielt sie kurz inne und spähte in Megans ausdrucksloses Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, genau wie Rays. Lucan murmelte ihnen etwas zu, so leise, dass Gabrielle es kaum hören konnte.
Der Tonfall seiner Worte klang nicht bedrohlich, sondern auf seltsame Weise beruhigend und überzeugend. Geradezu einlullend.
Mit einem letzten Blick auf die bizarre Szene in ihrem Wohnzimmer eilte Gabrielle durch die offene Wohnungstür hinaus auf die Straße. Vor Rays rotem Mustang wartete eine elegante Limousine am Kantstein. Es war ein teures Fahrzeug – maßlos teuer, dem Aussehen nach – und das einzige andere Auto weit und breit.
Als sie sich näherte, öffnete sich die Beifahrertür wie durch Willenskraft.
Die Willenskraft von Lucans Geist. Sie fragte sich, wie weit diese übernatürlichen Kräfte wohl reichten.
Sie glitt in den tiefen Ledersitz und schloss die Wagentür. Keine zwei Sekunden später erschienen Megan und Ray auf ihrer Türschwelle. Sie gingen ruhig die kurze Treppe hinunter und auf dem Gehsteig direkt an ihr vorbei, die Augen geradeaus. Beide sagten kein Wort.
Lucan kam gleich nach ihnen. Er schloss die Wohnungstür und ging um den Wagen herum, in dem Gabrielle saß und wartete. Dann stieg er ein, steckte einen Schlüssel ins Zündschloss und ließ den Motor des Maybachs an.
„Keine gute Idee, die hier zu lassen“, sagte er und ließ ihre Handtasche und ihre Kameratasche in ihren Schoß gleiten.
Gabrielle starrte ihn an. Das Cockpit des Fahrzeugs war unaufdringlich indirekt beleuchtet. „Du hast irgendeine Art von Bewusstseinskontrolle bei ihnen angewendet, das hast du bei mir auch schon versucht.“
„Ich habe deinen Freunden erklärt, dass sie heute Nacht nicht in deiner Wohnung waren.“
„Du hast ihre Erinnerung gelöscht?“
Er neigte den Kopf zu einem unbestimmten Nicken. „Sie werden sich an nichts erinnern, auch nicht daran, dass du gestern Nacht in Megans Wohnung warst, nachdem der Lakai dich angegriffen hatte. Ihr Geist ist nicht länger mit all diesen Dingen belastet.“
„Weißt du was, im Augenblick klingt das verdammt gut. Also, was meinst du, Lucan? Bin ich als Nächste dran? Du kannst mit dem Löschen direkt da anfangen, wo ich vor ein paar Wochen die schreckliche Entscheidung getroffen habe, in diesen Nachtclub zu gehen.“
Er begegnete ihrem Blick, aber sie hatte nicht das Gefühl, dass er Anstalten machte, in ihren Geist einzudringen. „Du bist nicht wie diese beiden Menschen, Gabrielle. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich nichts von dem ändern, was dir widerfahren ist. Dein Geist ist stärker als die meisten. In vieler Hinsicht bist du … anders als die meisten Leute.“
„Juhu, ich bin ja so ein Glückskind.“
„Der beste Ort für dich ist jetzt bei uns, wo der Stamm dich als eine von uns beschützen wird. Wir haben ein gesichertes Quartier in der Stadt. Für den Anfang kannst du dort bleiben.“
Sie runzelte die Stirn. „Was, du bietest mir das vampirische Äquivalent des Zeugenschutzprogramms an?“
„Es ist mehr als das.“ Er drehte den Kopf und sah durch die Windschutzscheibe hinaus auf die Straße. „Und es ist der einzige Weg.“
Lucan gab Gas, und das schnittige schwarze Auto schoss mit einem leisen, seidigen Schnurren die schmale Straße entlang. Gabrielle klammerte sich an dem Ledersitz fest und wandte sich um, um zuzusehen, wie die Dunkelheit ihre Wohnung in der Willow Street allmählich verschluckte.
Als die Entfernung größer wurde, sah sie Megan und Ray als undeutliche Silhouetten, wie sie in seinen Mustang stiegen, um wegzufahren, ohne etwas zu bemerken. Gabrielle verspürte eine jähe Panik, am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen und zu ihnen zurückgerannt, zurück in ihr altes Leben.
Zu spät.
Das wusste sie.
Diese neue Realität hatte sie fest im Griff, und sie glaubte nicht, dass es ihr möglich war, jemals zurückzukehren – von hier aus ging es nur noch vorwärts. Sie kehrte der Heckscheibe den Rücken, sank tiefer in den butterweichen Ledersitz und starrte geradeaus, während Lucan scharf um die Kurve bog und sie in die tiefe Nacht hineinfuhr.