28

Gabrielle stieg aus der Dusche in Lucans Privatquartier, trocknete sich die nassen Haare ab und schlüpfte in einen weißen Frotteebademantel. Sie war hungrig und erschöpft. Den größten Teil des Tages hatten sie, Savannah und Danika damit verbracht, Gideon beim Behandeln von Rio und Lucan zu helfen. Alle im Quartier waren fassungslos über Evas Verrat und die tragischen Folgen – ihren Selbstmord und den bedenklichen Zustand von Rio, der um sein Leben kämpfte. In einem Zustand benommenen Unglaubens taten sie, was nötig war, und sprachen wenig.

Lucan war ebenfalls in einem schlechten Zustand, aber gemäß seinem Wort und seinem starrköpfigen Willen verließ er die Krankenstation aus eigener Kraft, um sich in seinem Privatquartier zu erholen. Gabrielle war fast erstaunt, dass er überhaupt Hilfe annahm, aber unter dem gemeinsamen Druck der Frauen hatte er keine Möglichkeit, sie abzulehnen.

Gabrielle spürte, wie ihr Gefühl der Erleichterung stärker wurde, als sie die Badezimmertür öffnete und ihn auf dem riesigen Bett sitzen sah, gestützt durch mehrere Kissen, den Rücken gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt. Seine Wange und seine Stirn hatten genäht werden müssen, und Verbände bedeckten einen Großteil seiner breiten Brust sowie seiner Arme und Beine, aber er erholte sich. Er war noch in einem Stück, und im Laufe der Zeit würde er genesen.

Alles, was er anhatte, war genauso ein weißer Frotteebademantel, wie sie ihn jetzt trug. Das war alles, was die Frauen ihm anzulegen erlaubten, nachdem sie Stunden damit zugebracht hatten, seine Quetschungen und blutigen Granatsplitterwunden zu säubern und notdürftig zu verarzten, die fast seinen gesamten Körper übersäten.

Am Nachmittag hatte er sich von seinem Bett aus vertraulich mit den restlichen Kriegern beraten. Auch mit Tegan, der kurz vor Sonnenaufgang mit neuen Informationen zurückgekehrt war, die er den anderen unbedingt mitteilen wollte. Er war von so gut wie allen mit offenem Misstrauen empfangen worden. Doch angesichts der Tatsache, dass der Mann nach der Aussprache mit Lucan und seinen Brüdern noch am Leben war, ging Gabrielle davon aus, dass Tegan eine gute Erklärung für sein Verschwinden während des Angriffs auf das Lagerhaus hatte. Offenbar war er von jedem Verdacht befreit.

„Fühlst du dich besser?“, fragte Lucan und sah zu, wie sie mit den Fingern durch ihr feuchtes Haar fuhr, um die Strähnen aus ihrem Gesicht zu streichen. „Ich dachte, du bist vielleicht hungrig, wenn du da rauskommst.“

„Ich bin am Verhungern!“

Er zeigte auf einen niedrigen Cocktailtisch im Sitzbereich seines Schlafzimmers, aber Gabrielles Nase hatte sie bereits auf das beeindruckende Büfett aufmerksam gemacht. Der Duft von Baguette, Knoblauch und Kräutern, Tomatensoße und Käse zog durch den Baum.

Sie erspähte einen Teller Salat und eine Schale mit frischen Früchten; und zwischen all den anderen Versuchungen stand sogar etwas, das dunkel und schokoladig aussah. Sie wanderte hinüber, um einen genaueren Blick darauf zu werfen, während ihr Magen vor Vorfreude knurrte.

„Manicotti“, sagte sie und atmete die aromatischen Dämpfe der Pasta ein. Eine Flasche Rotwein stand entkorkt neben einem Kristallglas. „Und Chianti?“

„Savannah wollte wissen, ob du irgendwelche Lieblingsspeisen hast. Das war alles, was mir einfiel.“

Es war das Essen, das sie sich selbst an dem Abend zubereitet hatte, als er erneut in ihre Wohnung kam, um ihr das Handy zurückzubringen. Das Essen, das kalt und vergessen auf ihrer Küchentheke gestanden hatte, während Lucan und sie übereinander herfielen wie die Karnickel. „Du hast dich erinnert, was ich an dem Abend gekocht hatte?“

Er zuckte leicht mit den Achseln. „Setz dich. Iss.“

„Da ist bloß ein Gedeck.“

„Hast du noch Besuch erwartet?“

Sie sah ihn an. „Du kannst wirklich nichts davon essen? Nicht mal einen Bissen?“

„Selbst wenn ich es täte, könnte ich bloß einen Bruchteil verdauen.“ Er machte eine Geste, die anzeigte, dass sie sich setzen sollte. „Menschliche Nahrung dient uns nur dazu, den Schein zu wahren.“

„Okay.“ Gabrielle setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden. Sie zog die cremefarbene Leinenserviette unter dem Silberbesteck heraus und legte sie sich auf den Schoß. „Es kommt mir so gemein vor, mich vor deiner Nase vollzustopfen.“

„Mach dir um mich keine Sorgen. Ich hatte für einen Tag genug Bemutterung und weiblichen Wirbel um mich herum.“

„Ganz wie du willst.“

Sie war zu hungrig, um noch eine einzige Sekunde zu warten, und das Essen sah viel zu köstlich aus, als dass sie ihm hätte widerstehen können. Mit dem Rand ihrer Gabel trennte Gabrielle ein Stück Manicotti ab und kaute mit absoluter Glückseligkeit. Sie aß die Hälfte der Portion in Rekordzeit und legte nur eine Pause ein, um sich ein Glas Wein einzugießen, das sie ebenfalls so gierig wie genießerisch zu sich nahm.

Die ganze Zeit beobachtete Lucan sie vom Bett aus.

„Gut?“, fragte er, als sie ihm über den Rand ihres Weinglases hinweg einen verlegenen Blick zuwarf.

„Fantastisch“, murmelte sie, während sie sich einen Bissen Salat mit Vinaigrette in den Mund schob. Ihrem Magen ging es schon viel besser. Sie schluckte den letzten Bissen Salat herunter, dann goss sie sich ein weiteres halbes Glas Chianti ein und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. „Ich danke dir dafür. Ich muss auch Savannah danken. Sie hätte sich nicht all diese Mühe machen sollen.“

„Sie mag dich“, sagte Lucan, wobei seine ernsthafte Miene undurchschaubar war. „Du warst vergangene Nacht eine große Hilfe. Vielen Dank, dass du dich um Rio und die anderen gekümmert hast. Und auch um mich.“

„Du musst mir nicht danken.“

„Doch, das muss ich.“ Der kleine, genähte Schnitt auf seiner Stirn wölbte sich bei seinem finsteren Blick. „Du warst die ganze Zeit immer nur freundlich und großzügig, und ich –“ Er brach ab und murmelte leise etwas vor sich hin. „Ich weiß es zu schätzen, was du getan hast, das ist alles.“

Oh, dachte sie, das ist alles. Selbst seine Dankbarkeit zeigte er nur durch die volle Rüstung seiner emotionalen Barrieren.

Gabrielle fühlte sich plötzlich zu sehr wie eine Außenseiterin und verspürte den dringenden Wunsch, das Thema zu wechseln. „Ich habe gehört, Tegan hat es heil zurück geschafft.“

„Ja. Aber Dante und Niko hätten ihn fast in der Luft zerrissen, nachdem er während des Angriffs so plötzlich verschwunden war.“

„Was hat er denn erlebt?“

„Einer von den Rogues im Lagerhaus versuchte zur Hintertür hinauszuschlüpfen, als die Situation sich zuspitzte. Tegan folgte ihm auf die Straße. Eigentlich wollte er den Scheißkerl töten, aber dann entschied er sich, ihn erst zu verfolgen, um zu sehen, wo er hin wollte. Er folgte ihm bis zu der alten Nervenheilanstalt vor der Stadt. Der Ort wimmelte nur so von Rogues. Wenn es je einen Zweifel daran gab, so sind wir jetzt sicher, dass es sich dabei um eine große Kolonie handelt. Wahrscheinlich eins der Hauptquartiere an der Ostküste.“

Ein kalter Schauder lief Gabrielle über den Rücken, als sie daran dachte, dass sie ganz allein dort gewesen war – sogar im Inneren der Nervenheilanstalt gewesen war, ohne zu ahnen, dass es sich um eine Hochburg der Rogues handelte.

„Ich habe ein paar Bilder vom Innenbereich gemacht. Sie sind noch in meiner Kamera. Ich hatte noch gar keine Chance, sie herunterzuladen.“

Lucan war ganz starr geworden und sah sie an, als hätte sie ihm soeben mitgeteilt, sie habe mit scharfen Granaten Jonglieren gespielt. Sein Gesicht schien unter der erschöpften Blässe noch ein bisschen fahler zu werden. „Du bist nicht nur hingegangen, du hast auch noch da eingebrochen?“

Sie zuckte schuldbewusst mit den Achseln.

„Mein Gott, Gabrielle.“ Lucan hievte seine Beine über den Bettrand und blieb so sitzen. Stumm starrte er sie eine ganze Weile an, ehe er Worte fand. „Du hättest leicht getötet werden können. Ist dir das klar?“

„Ich bin ja nicht tot“, entgegnete Gabrielle, eine lahme Bemerkung, aber trotzdem eine Tatsache.

„Das ist nicht der Punkt.“ Er griff mit beiden Händen in seine Schläfenhaare. „Scheiße. Wo ist deine Kamera?“

„Ich habe sie im Labor gelassen.“

Lucan langte nach dem Telefon neben seinem Bett, nahm den Hörer ab und drückte die Taste für die Sprechanlange. Gideon meldete sich.

„Hey, wie geht es dir? Alles okay?“

„Ja“, antwortete Lucan, aber er funkelte Gabrielle an. „Sag Tegan, er soll den Sonderauftrag zur Aufklärung der Nervenheilanstalt vorerst auf Eis legen. Ich habe gerade herausgefunden, dass wir Bilder von dem Inneren der Anlage haben.“

„Im Ernst?“ Es folgte eine Pause. „Ich glaube, ich spinne. Du meinst, dass sie tatsächlich in den gottverdammten Laden reingegangen ist?“

Lucan wölbte eine Augenbraue und warf Gabrielle einen sarkastischen Blick zu. „Lade die Bilder aus der Kamera hoch und sag den anderen, wir treffen uns in einer Stunde, um die neue Strategie zu besprechen. Ich glaube, wir haben gerade entscheidende Zeit gewonnen.“

„Alles klar. Wir sehen uns in sechzig Minuten.“

Das Gespräch wurde mit einem Klicken der Sprechanlage beendet.

„Tegan will zu der Nervenheilanstalt zurück?“

„Ja“, antwortete Lucan. „Wahrscheinlich eine Selbstmordmission. Er war wahnsinnig genug, darauf zu bestehen, heute Nacht allein dort einzudringen, um Informationen über den Ort zu sammeln. Nicht, dass ihm das jemand ausreden wollte, am allerwenigsten ich.“

Er stand vorsichtig auf und begann seine Verbände zu untersuchen. Als er sich bewegte, klaffte der obere Teil seines weißen Bademantels auf und enthüllte einen großen Teil seiner Brust und ein Stück seines Bauches. Die einzigartigen Male auf seiner Brust zeigten einen blassen Hennafarbton. Das war deutlich heller, als sie in der letzten Nacht gewesen waren. Nun sahen sie so bleich aus wie der Rest von ihm. Ausgetrocknet, beinahe farblos.

„Warum liegt ihr, Tegan und du, so miteinander im Zwist?“, fragte Gabrielle und beobachtete ihn genau, als sie die Frage stellte. Das Thema beschäftigte sie, seit Lucan den Namen des Kriegers erwähnt hatte. „Was ist zwischen euch vorgefallen?“

Zuerst hatte sie nicht den Eindruck, dass er antworten würde. Er untersuchte weiter seine Verletzungen und prüfte schweigend die Beugefähigkeit seiner Arme und Beine. Dann, als sie schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, noch eine Antwort zu erhalten, setzte er sich wieder aufs Bett, hob den Kopf und sagte: „Tegan wirft mir vor, ihm etwas weggenommen zu haben. Etwas, was ihm sehr viel bedeutete.“ Er blickte ihr nun gerade in die Augen. „Seine Stammesgefährtin starb. Durch meine Hand.“

„Großer Gott“, flüsterte sie. „Lucan … wie kam das?“

Er runzelte die Stirn und wandte seinen Blick wieder ab. „In den alten Zeiten waren die Dinge noch anders, damals, als Tegan und ich uns kennenlernten. Die meisten Krieger suchten sich keine Stammesgefährtin, weil die Gefahren zu groß waren. Damals hatte der Orden nur wenige Mitglieder, und es war schwierig, unsere Familien zu schützen, wenn der Kampf uns viele Kilometer von ihnen wegführte, oft monatelang.“

„Und was war mit den Dunklen Häfen? Hätten sie nicht Schutz geboten?“

„Davon gab es zu jener Zeit erst wenige. Und noch weniger, die das Risiko eingehen mochten, die Stammesgefährtin eines Kriegers aufzunehmen. Wir und die, die wir liebten, waren lebendige Zielscheiben für die Gräueltaten der Rogues. Tegan wusste all das, doch er verband sich trotzdem mit einer Frau. Bald danach wurde sie von den Rogues gefangen. Sie quälten sie. Vergewaltigten sie. Und bevor sie sie zu ihm zurückschickten, saugten sie sie fast völlig aus. Sie war eine leere Hülle – nein, schlimmer, sie gehörte zu den Lakaien des Rogue, der sie vernichtet hatte.“

„O mein Gott“, flüsterte Gabrielle entsetzt.

Lucan seufzte tief, als ob das Gewicht der Erinnerungen ihn schwer belastete. „Tegan wurde verrückt vor Wut. Er wurde zum Tier und metzelte alles nieder, was ihm über den Weg lief. Er lief so blutüberströmt herum, dass viele dachten, er würde in Blut baden. Er saugte sich voll in seinem Zorn, und fast ein Jahr lang weigerte er sich, die Tatsache zu akzeptieren, dass der Geist seiner Stammesgefährtin für immer zerstört war. Er nährte sie noch immer mit seinem Blut, nicht gewillt, ihren Verfall zu sehen. Er tötete schon beinahe wahllos, um sie zu nähren. Es war ihm gleichgültig, dass er unaufhaltsam auf die Blutgier zusteuerte. Ein ganzes Jahr lang widersetzte er sich dem Gesetz des Stammes, denn er wollte seine Stammesgefährtin nicht aus ihrem Elend erlösen. Und auch er selbst verwandelte sich langsam, aber sicher in einen Rogue. Etwas musste dagegen unternommen werden.“

Als er diese Äußerung unvollendet im Raum stehen ließ, sprach Gabrielle die Worte für ihn aus. „Und dir als Anführer fiel die Aufgabe zu, zu handeln.“

Lucan nickte grimmig. „Ich habe Tegan in eine Zelle aus dickem Stein gesperrt und dann seine Stammesgefährtin mit dem Schwert getötet.“

Gabrielle schloss die Augen. Sie spürte sein tiefes Bedauern. „O Lucan …“

„Tegan wurde erst befreit, nachdem er den Entzug von der Blutgier durchgestanden und sein Körper sich erholt hatte. Dazu waren mehrere Monate nötig, in denen er fast verhungerte und ungeheure Qualen litt. Als er endlich in der Lage war, die Zelle auf seinen eigenen Beinen zu verlassen, und merkte, was ich getan hatte, dachte ich, er würde versuchen, mich zu töten. Aber das tat er nicht. Es war ganz und gar nicht der Tegan, den ich kannte, der aus dieser Zelle herauskam. Es war etwas – Kälteres. Er hat es niemals ausgesprochen, aber ich weiß, dass er mich seitdem hasst.“

„Nicht so sehr, wie du dich selbst hasst.“

Er hatte die Zähne fest zusammengebissen, wodurch die Haut über seinen Wangenknochen noch straffer gezogen wurde. „Ich bin daran gewöhnt, schwere Entscheidungen zu treffen. Ich habe keine Angst davor, die härtesten Aufgaben zu übernehmen. Ich scheue mich auch nicht, mich zur Zielscheibe von Wut oder sogar Hass zu machen, wenn die Entscheidungen, die ich treffe, dem Wohlergehen des Stammes dienen. Das ist mir alles scheißegal.“

„Nein, das stimmt nicht“, erwiderte Gabrielle sanft. „Aber du musstest einem Freund Schmerz bereiten, und das belastet dich jetzt schon sehr, sehr lange.“

Der Blick, den er ihr zuwarf, zeigte, dass er ihr eigentlich widersprechen wollte, aber vielleicht hatte er nicht die Kraft dazu. Nach allem, was er durchgemacht hatte, war er müde, todmüde, obwohl er das kaum freiwillig zugeben würde, nicht einmal ihr gegenüber.

„Du bist ein guter Mann, Lucan. Du hast ein sehr edles Herz unter diesem harten Panzer.“

Er knurrte geringschätzig und süffisant. „Nur jemand, der mich erst ein paar Wochen kennt, kann den Fehler machen, das anzunehmen.“

„Wirklich? Ich könnte mir vorstellen, dass einige Leute hier dir da widersprechen würden. Einschließlich Conlan, wenn er noch am Leben wäre.“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen wie Gewitterwolken. „Was weißt du darüber?“

„Danika hat mir erzählt, was du für ihn getan hast. Das Begräbnisritual. Dass du ihn bei Sonnenaufgang nach oben gebracht hast. Um ihn zu ehren, hast du dir Verbrennungen zugezogen –“

„Himmel noch mal“, schnauzte er und sprang auf die Beine. Aufgeregt schritt er neben dem Bett hin und her und hielt zwischen den Schritten immer wieder an. Seine Stimme war rau, ein mühsam beherrschtes Brüllen. „Ehre hatte damit nichts zu tun. Willst du wissen, warum ich das getan habe? Es waren Schuldgefühle. In der Nacht des Bombenanschlags am Bahnhof sollte eigentlich ich diese Mission mit Niko durchführen, nicht Conlan. Aber ich konnte dich nicht aus meinem Kopf bekommen. Ich dachte, wenn ich dich bekäme – wenn ich endlich in dir wäre –, würde das vielleicht mein Verlangen befriedigen, und ich könnte endlich normal weitermachen und dich vergessen. Also habe ich im letzten Moment Conlan diese Aufgabe übertragen, und er ist in dieser Nacht an meiner Stelle rausgegangen. Ich bin derjenige, der in diesem Tunnel hätte sterben sollen, nicht Conlan. Ich hätte es sein müssen.“

„Mein Gott, Lucan. Du bist unglaublich, weißt du das?“ Sie klatschte mit ihrer Handfläche laut auf den Tisch und lachte hart und wütend auf. „Warum kannst du verdammt noch mal nicht ein bisschen nachsichtiger mit dir selbst sein?“

Ihr unbeherrschter Ausbruch schien seine Aufmerksamkeit zu packen, was nichts anderes vorher geschafft hatte. Er blieb stehen und starrte sie an. „Du weißt, warum“, sagte er mit nun wieder ruhiger Stimme. „Du weißt es besser als irgendjemand sonst.“ Er schüttelte den Kopf, den Mund vor Selbstverachtung verzerrt. „Wobei sich ja gezeigt hat, dass auch Eva davon wusste.“

Gabrielle dachte an die erschreckenden Vorkommnisse auf der Krankenstation. Alle waren entsetzt über Evas Tat und wie gelähmt von ihren wahnsinnigen Anschuldigungen gegen Lucan. Alle außer ihm. „Lucan, die Dinge, die sie gesagt hat –“

„Sind alle wahr, wie du ja selbst erlebt hast. Trotzdem hast du mich verteidigt. Das war schon das zweite Mal, dass du mich davor bewahrt hast, dass meine Schwäche aufgedeckt wurde.“ Er wandte seinen düsteren Blick von ihr ab. „Ich werde dich gewiss nicht bitten, das noch einmal zu tun. Meine Probleme sind meine Angelegenheit.“

„Und du musst sie ansprechen.“

„Was ich muss, ist, ein paar Klamotten anziehen und einen Blick auf diese Bilder werfen, die Gideon hochlädt. Wenn sie uns genügend Informationen über den Grundriss der Nervenheilanstalt liefern, können wir heute Nacht zuschlagen.“

„Was soll das heißen, heute Nacht zuschlagen?“

„Das Gebäude aufmischen. Die Bude platt machen. Das verdammte Ding in die Luft sprengen.“

„Das kann nicht dein Ernst sein. Du hast selbst gesagt, dass es da wahrscheinlich von Rogues nur so wimmelt. Denkst du ernsthaft, dass du und drei andere Kerle es überleben werden, eine unbekannte Anzahl an Gegnern anzugreifen?“

„Das haben wir schon früher getan. Und wir werden zu fünft sein“, meinte er, als ob das einen Unterschied machen würde. „Gideon hat gesagt, er will an allem beteiligt sein, was auch immer wir tun. Er wird Rios Platz einnehmen.“

Gabrielle lachte ungläubig auf. „Und was ist mit dir? Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten.“

„Ich laufe ja herum. Es geht mir gut genug. Sie werden so bald keinen Vergeltungsschlag erwarten, sodass es der beste Zeitpunkt für uns ist zuzuschlagen.“

„Du hast wohl den Verstand verloren. Du brauchst Ruhe, Lucan. Du kannst nichts unternehmen, ehe deine Kräfte nicht zurückgekehrt sind. Du brauchst Zeit, um dich zu erholen.“ Sie sah, wie in seinem Kiefer ein Muskel arbeitete, auch eine Sehne unter der bleichen, abgespannt aussehenden Wange. Seine Gesichtszüge waren härter als üblich, und zu schmal. „Du kannst in deinem Zustand nicht da rausgehen –“

„Ich habe gesagt, es geht mir gut.“

Die Worte kamen als raues Krächzen aus seiner Kehle. Als er den Blick auf Gabrielle richtete, glänzten seine silbernen Iris hell und hatten bernsteinfarbene Tupfen, wie Feuer, das durch Eis züngelt.

„Das ist nicht wahr. Nicht im Geringsten. Du brauchst Stärkung. Dein Körper hat in letzter Zeit zu viel ertragen müssen. Du musst Nahrung zu dir nehmen.“

Gabrielle fühlte, wie eine plötzliche Kälte durch den Raum zog, und wusste, dass sie von ihm ausging. Sie brachte ihn in Rage. Schon vorher hatte sie ihn von seiner schwächsten Seite kennengelernt und es überlebt, aber vielleicht trieb sie ihn jetzt zu weit. Sie hatte gemerkt, dass er, schon seit er sie ins Quartier gebracht hatte, verärgert und nervös und ziemlich reizbar war. Jetzt aber war er gefährlich gereizt. Wollte sie wirklich diejenige sein, die ihn über diese Grenze der Selbstbeherrschung stieß?

Ach, egal. Vielleicht war das genau das, was er brauchte.

„Dein Körper ist am Ende, Lucan, und nicht nur wegen deiner Wunden. Du bist geschwächt. Und du hast Angst.“

„Angst.“ Er warf ihr einen eisigen Blick voller Sarkasmus zu. „Wovor?“

„In erster Linie vor dir selbst. Aber ich glaube, dass du sogar noch mehr Angst vor mir hast.“

Sie wartete auf eine schnelle Widerlegung, etwas Kaltes und Hässliches, das zu dem eisigen Zorn passte, den er abstrahlte wie ein ganzer Gletscher. Aber er sagte nichts. Er starrte sie einen endlosen Moment lang finster an. Dann drehte er sich um und schritt ein wenig steif auf eine große Kommode am anderen Ende des Raumes zu.

Gabrielle blieb auf dem Boden sitzen und sah zu, wie er Schubladen aufriss, Kleidung herauszerrte und sie auf das Bett warf.

„Was machst du?“

„Ich habe keine Zeit, hier herumzusitzen und mit dir zu debattieren. Es ist sinnlos.“

Ein großer Waffenschrank öffnete sich, bevor Lucan ihn erreicht hatte – die Türen schwangen mit einem heftigen Ruck auf. Lucan trat heran und zog ein flaches Fach auf. Mindestens ein Dutzend Dolche und andere tödlich aussehende Stichwaffen lagen in ordentlichen Reihen auf dem Samtfutter der Schublade. Ohne näher hinzusehen nahm Lucan zwei große Messer in schwarzen Lederscheiden heraus. Er öffnete ein anderes Fach und wählte eine große Handfeuerwaffe aus gebürstetem rostfreiem Stahl aus, die aussah wie etwas aus einem Actionfilm-Albtraum.

„Dir gefällt nicht, was ich sage, also läufst du vor mir weg?“

Er sah sie nicht an und fluchte nicht einmal. Nein, er ignorierte sie völlig, und das machte sie ungeheuer wütend.

„Na los, nur zu. Tu so, als wärst du unverwundbar, als hättest du nicht eine Todesangst davor, dass sich jemand um dich sorgt. Lauf vor mir weg, Lucan. Das beweist nur, dass ich recht habe.“

Entmutigt sah Gabrielle zu, wie Lucan einen Ladestreifen aus dem Schrank nahm und in das Magazin der Pistole schob. Nichts, was sie sagte, konnte ihn aufhalten. Sie fühlte sich so hilflos, als versuchte sie, ihre Arme um einen Sturm zu legen.

Als sie frustriert wegschaute, fiel ihr Blick auf den Tisch, an dem sie saß, glitt über die Teller und das Silberbesteck. Da sah sie das unbenutzte Messer liegen, dessen polierte Klinge glänzte.

Sie konnte ihn nicht mit Worten zurückhalten, aber es gab noch etwas anderes …

Gabrielle schob den langen Ärmel ihres Bademantels zurück. Ganz sanft, mit der gleichen furchtlosen Entschlossenheit, die schon hundertmal zuvor ihren Zweck erfüllt hatte, hob sie das Messer und setzte die Schneide gegen das Fleisch ihres Unterarms. Ein ganz kleiner Druck, und die Klinge durchdrang ihre Haut.

Sie wusste nicht, welcher von Lucans Sinnen zuerst reagierte, aber das Gebrüll, das er ausstieß, als er den Kopf hob und sah, was sie getan hatte, brachte jedes Möbelstück im Raum zum Zittern.

„Verdammt noch mal – Gabrielle!“

Die Klinge sprang aus ihrem Griff, wurde durchs ganze Schlafzimmer geschleudert und bohrte sich am anderen Ende des Raumes bis zum Heft in die Wand.

Lucan bewegte sich so schnell, dass sie ihm kaum mit Blicken folgen konnte. In der einen Sekunde stand er noch mehrere Schritte entfernt am Fußende des Bettes, in der nächsten schloss sich seine große Hand hart um ihre und zog sie auf die Beine. Blut quoll aus der dünnen Linie ihrer Schnittwunde, saftiges, tiefes Rot, und lief an ihrem Arm entlang. Ihre Hand steckte fest in Lucans zermalmendem Griff.

Er überragte sie wie eine Mauer aus finsterer, schäumender Wut.

Seine Brust hob und senkte sich, und seine Nüstern weiteten sich, als er heftig ein- und ausatmete. Sein attraktives Gesicht war verzerrt von Schmerz und Entrüstung, aber seine Augen brannten durch die unverkennbare Hitze seines Hungers. Keine Spur von Grau war mehr darin übrig, und seine Pupillen hatten sich zu schwarzen Schlitzen verengt. Seine Fangzähne wurden lang, und ihre scharfen weißen Spitzen glitzerten hinter den grausam gekräuselten Lippen.

„Jetzt versuch mir zu sagen, dass du nicht brauchst, was ich dir anbiete“, flüsterte sie wild.

Schweiß glitzerte auf seiner Stirn, als er auf ihre frische, blutende Wunde starrte. Er leckte sich die Lippen und stieß ein Wort in einer anderen Sprache hervor.

Es klang nicht freundlich.

„Warum?“, verlangte er in anklagendem Ton zu wissen. „Warum tust du mir das an?“

„Weißt du es wirklich nicht?“ Sie hielt seinem wilden Blick stand, trotzte seiner Wut, während die Blutstropfen eine Spur auf ihrem schneeweißen Bademantel hinterließen. „Weil ich dich liebe, Lucan. Und das ist alles, was ich dir geben kann.“