27

Gabrielle schreckte mit einem Ruck aus einem unruhigen Nickerchen auf dem Sofa hoch. Die Frauen hatten die vergangenen Stunden in Savannahs Wohnzimmer zusammengesessen, bis auf Eva, die vor einiger Zeit in die Kapelle gegangen war, um zu beten. Die Stammesgefährtin war nervöser als der Rest von ihnen, sie war den größten Teil des Abends herumgelaufen und hatte auf ihrer Lippe gekaut.

Von irgendwo über dem Labyrinth aus Gängen und Räumen drangen die gedämpften Geräusche von Bewegungen und abgehackte Worte von Männerstimmen zu ihnen herunter. Das schwache Summen des Fahrstuhls von der Oberfläche ließ die Luft vibrieren, als der Aufzug seinen Abstieg zur Hauptetage des Quartiers begann.

Irgendetwas stimmte nicht.

Sie konnte es fühlen.

„Lucan.“

Gabrielle schob die Chenilledecke beiseite, unter der sie gelegen hatte, und drehte sich herum, um ihre Füße auf den Boden zu setzen. Ihr Herz raste und verengte sich bei jedem verzweifelten Schlag mehr in ihrer Brust.

„Mir gefällt der Klang auch nicht.“ Savannah ließ einen angespannten Blick durch den Raum gleiten.

Gabrielle, Savannah und Danika strömten aus der Wohnung, um die Krieger zu begrüßen. Keine von ihnen sagte ein Wort, und sie atmeten kaum, als sie in Richtung des ankommenden Fahrstuhls eilten.

Noch bevor die Stahltür aufglitt, wurde durch die hektischen Geräusche im Inneren des Aufzugs deutlich, dass schlechte Nachrichten im Anmarsch waren.

Gabrielle war nur nicht darauf vorbereitet, wie schlimm es war.

Der Geruch von Qualm und Blut traf sie wie ein physischer Schlag. Sie zuckte bei dem fauligen Gestank nach Krieg und Tod zusammen und spähte verwirrt in die Kabine. Keiner der Krieger kam heraus. Zwei lagen auf dem Boden, drei andere kauerten um sie herum.

„Hol saubere Handtücher und Decken!“, rief Gideon Savannah zu. „Bring so viele, wie du kannst, Liebling!“ Als sie sich auf den Weg machte, fügte er hinzu: „Wir brauchen auch etwas zum Transportieren. Da ist eine fahrbare Krankentrage auf der Krankenstation –“

„Ich hole sie“, antwortete Niko aus dem Inneren des Fahrstuhls.

Er sprang über eine der beiden übel zugerichteten Gestalten, die ausgestreckt auf dem Boden lagen. Als er an ihr vorbeieilte, sah Gabrielle, dass sein Gesicht, sein Haar und seine Hände rußgeschwärzt waren. Die Kleidung des Kriegers war zerrissen, und seine Haut war mit Hunderten blutender Schürfwunden übersät. Gideon und Dante sahen ähnlich aus.

Aber ihre Wunden waren unbedeutend gegen die schweren Verletzungen, die die anderen beiden Stammeskrieger erlitten hatten. Offenbar hatten ihre Brüder sie bewusstlos von der Straße hereingetragen.

Gabrielle spürte das bleierne Gewicht in ihrem Herzen und wusste, dass einer von ihnen Lucan war. Leise trat sie vor und hielt den Atem an, als sie sah, dass ihre Ängste Wirklichkeit geworden waren.

Blut sammelte sich unter ihm, ergoss sich dunkel wie Rotwein auf den weißen Marmor des Portals. Seine Stiefel und seine Lederkleidung waren zerfetzt wie auch der größte Teil seiner Haut an Armen und Beinen. Sein Gesicht war ein hässliches Chaos aus schwarzem Ruß und karmesinroten Schnittwunden. Aber zumindest war er am Leben. Er bleckte die Zähne und zischte durch seine ausgefahrenen Fangzähne hindurch, als Gideon ihn bewegen musste, um ihm einen behelfsmäßigen Stauschlauch anzulegen und die tiefe, blutende Schnittwunde an seinem Arm abzubinden.

„Scheiße – es tut mir so leid, Lucan. Das ist ziemlich tief. Himmel, diese Scheiße hört nicht auf zu bluten.“

„Helft … Rio.“ Die Worte wurden mit einem dunklen Knurren ausgestoßen. Es war ein direkter Befehl, auch wenn Lucan flach auf dem Rücken lag. „Mir geht es gut“ – er brach mit einem gequälten Knurren ab – „verdammt … ihr sollt … euch um … ihn kümmern.“

Gabrielle kniete sich neben Gideon. Sie streckte die Hand aus, um ihm das Ende der Aderpresse abzunehmen. „Ich kann das machen.“

„Sind Sie sicher? Das ist eine hässliche Sache. Sie müssen wirklich Ihre Hände direkt hineindrücken, um es festzuziehen –“

„Ich mache das schon.“ Sie nickte energisch. „Machen Sie, was er sagt. Kümmern Sie sich um Rio.“

Der verletzte Krieger auf dem Boden neben Lucan litt deutlich erkennbar Höllenqualen. Auch er blutete stark aus Wunden und am Rumpf einer schrecklichen Verletzung am linken Arm. Die zerfleischte Extremität war in einen blutdurchtränkten Fetzen gehüllt, der vielleicht vorher ein Hemd gewesen war. Sein Gesicht und seine Brust waren so verbrannt und aufgerissen, dass er nicht wiederzuerkennen war. Er begann tief in der Kehle zu stöhnen, ein herzzerreißendes Geräusch, das Gabrielle heiße Tränen in die Augen schießen ließ.

Als sie sie wegblinzelte, bemerkte sie, dass Lucans Blick aus blassgrauen Augen auf sie gerichtet war. „Hab den … Scheißkerl … gekriegt.“

„Pst.“ Sie strich ihm schweißdurchtränkte Strähnen aus der geschundenen Stirn. „Lucan, bleib einfach still liegen. Versuch nicht zu reden.“

Aber er ignorierte sie, schluckte mit trockener Kehle und stieß die Worte mühsam hervor. „Vom Nachtclub … Der Scheißer war heute da.“

„Der dir entkommen war?“

„Diesmal nicht.“ Er blinzelte langsam. Sein Blick war so wild wie starr. „Kann dich jetzt … nie mehr verletzen …“

„Ja“, bemerkte Gideon launig hinter ihnen. „Und du hast verdammtes Glück gehabt, dass du noch am Leben bist, du Held.“

Gabrielle schnürte sich die Kehle noch mehr zu, als sie auf ihn hinunterblickte. Trotz all seiner Beteuerungen, dass die Pflicht zuerst kam und dass es für sie nie einen Platz in seinem Leben geben konnte, hatte Lucan heute Nacht an sie gedacht? Er blutete und war verletzt – wegen etwas, was er für sie getan hatte?

Sie nahm seine Hand und drückte sie an sich, um wenigstens einen Teil von ihm in den Armen halten zu können. Sie presste seine gebogenen Finger an ihr Herz. „O Lucan …“

Savannah kam herbeigelaufen, den Arm voll Decken und Verbänden. Niko folgte dicht hinter ihr und schob die rollende Krankenliege vor sich her.

„Erst Lucan“, sagte Gideon zu ihnen. „Legt ihn in ein Bett und kommt dann zurück, um Rio zu holen.“

„Nein.“ Lucan stöhnte, aber es klang mehr nach Entschlossenheit als nach Schmerz. „Helft mir auf.“

„Ich glaube nicht, dass du –“, sagte Gabrielle, aber er versuchte bereits allein vom Boden aufzustehen.

„Ganz ruhig, mein Großer.“ Dante schritt ein und schob eine starke Hand unter Lucans Arm. „Du hast da draußen ganz schön was abbekommen. Warum machst du nicht eine kleine Verschnaufpause und lässt dich zur Krankenstation schieben?“

„Ich habe gesagt, mir geht es gut.“ Als Gabrielle und Dante jeweils einen seiner Arme stützten, hievte Lucan sich in eine sitzende Position. Er keuchte ein wenig, blieb aber aufrecht. „Hab ein bisschen was abbekommen, aber scheißegal … geh in mein eigenes Bett. Ich lasse mich … nicht dahin bringen.“

Dante warf Gabrielle einen Blick zu und rollte mit den Augen. „Er ist so dickköpfig, dass er meint, was er sagt.“

„Ja. Ich weiß.“

Sie lächelte, dankbar für die Sturheit, die ihn seine Stärke nicht verlieren ließ. Vorsichtig schoben sie und Dante ihre Schultern unter Lucans Arme und stützten ihn mit ihren Körpern, während er langsam auf die Beine kam.

„Hierher“, sagte Gideon zu Niko, der die Krankentrage in die richtige Position für Rio brachte, während Savannah und Danika taten, was sie konnten, um seine Wunden abzubinden und seine schmutzige, zerfetzte Kleidung sowie die jetzt nutzlosen Waffen zu entfernen.

„Rio?“ Evas Stimme war hoch, als sie in das Durcheinander hineinlief, den Rosenkranz noch immer umklammert. Sie trat an die geöffnete Aufzugkabine heran und wich augenblicklich zurück, wobei sie ein ersticktes Geräusch von sich gab. „Rio! Wo ist er?“

„Er wird sich nicht unterkriegen lassen, Eva“, sagte Niko und trat einen Schritt von der beladenen Trage weg, um Eva den Weg abzuschneiden. Er führte sie mit fester Hand weg, bevor sie dem Verletzten zu nahe kommen konnte. „Heute Nacht hat es eine Explosion gegeben. Er hat das Schlimmste abbekommen.“

„Nein!“ Sie schlug voller Entsetzen die Hände vor das Gesicht. „Nein, du irrst dich. Das ist nicht mein Rio! Das kann nicht sein!“

„Er lebt, Eva. Aber du musst stark für ihn sein.“

„Nein!“ Sie begann in wilder Hysterie zu schreien und versuchte sich gewaltsam zum Aufzug durchzukämpfen, um in der Nähe ihres Gefährten zu sein. „Nicht mein Rio! Gott, nein!“

Savannah trat zu ihr und fasste Eva unter dem Arm. „Komm hier weg“, sagte sie sanft, aber fest. „Sie wissen, wie sie ihm helfen müssen.“

Evas verzweifelte Schluchzer erfüllten den Korridor. Gabrielle empfand eine ganz persönliche Mischung aus Erleichterung und eiskalter Angst. Sie fürchtete um Rio, und es brach ihr das Herz, sich vorzustellen, was Eva fühlen musste. Sie verstand diesen Schmerz nur zu gut. Es hätte auch Lucan sein können, der an Rios Stelle blutend und reglos auf der Trage lag. Ein paar Millimeter – Bruchteile einer Sekunde – waren vielleicht alles, was darüber entschieden hatte, wer von den beiden Kriegern in einer immer größer werdenden Blutlache um sein Leben kämpfte.

„Wo ist Tegan?“, fragte Gideon, der konzentriert auf seine eigenen, sich schnell bewegenden Finger starrte, während er den verletzten Krieger geschickt versorgte, untersuchte und behandelte. „Ist er noch nicht zurück?“

Danika schüttelte den Kopf. Sie warf Gabrielle einen besorgten Blick zu. „Warum sollte er hier sein? War er denn nicht mit euch zusammen?“

„Wir haben ihn aus den Augen verloren, als wir in dem Rogues-Versteck waren“, erklärte Dante. „Nachdem die Bombe explodiert war, mussten wir alles daransetzen, Lucan und Rio so schnell wie möglich zum Quartier zurückzubringen.“

„Los jetzt“, sagte Gideon und packte das Kopfende von Rios Trage. „Niko, hilf mir, das Ding zu fahren.“

Die Frage nach Tegan wurde in den Hintergrund gedrängt, als alle sich beeilten, für Rio zu tun, was sie konnten. Sie machten sich gemeinsam auf den Weg zur Krankenstation. Gabrielle, Dante und Lucan kamen am langsamsten voran, da Lucan schwankte, sich an beiden festhielt und darum kämpfte, auf den Beinen zu bleiben.

Gabrielle warf ihm einen Blick zu. Sie wünschte sich so sehr, sein zerschlagenes und geschundenes Gesicht zu liebkosen. Als sie ihn mit blutendem Herzen ansah, schnellten seine dunklen Wimpern nach oben, und er begegnete ihrem Blick. Sie wusste nicht, was in diesem lang anhaltenden Augenblick der Ruhe inmitten des Chaos zwischen ihnen vorging, aber es fühlte sich warm und richtig an, trotz allem, was an den Ereignissen dieser Nacht schrecklich war.

Als sie den Raum erreichten, in dem Rio schon versorgt wurde, stand Eva neben der Krankentrage, über seinen schwer mitgenommenen Körper gebeugt. Tränen strömten ihr über die Wangen.

„Das hätte nicht passieren sollen“, stöhnte sie. „Es hätte nicht mein Rio sein sollen. Nicht so.“

„Wir werden für ihn tun, was wir können“, versprach Lucan. Sein Atem ging durch seine eigenen Verletzungen mühsam, und er krächzte. „Ich verspreche es dir, Eva. Wir werden ihn nicht sterben lassen.“

Sie schüttelte den Kopf und starrte auf ihren Gefährten hinab. Als sie ihm über das Haar strich, murmelte Rio unzusammenhängende Worte. Er war halb bei Bewusstsein und litt sichtlich unter starken Schmerzen. „Ich will, dass er sofort hier rausgebracht wird. Er soll in die Dunklen Häfen gebracht werden. Er braucht ärztliche Hilfe –“

„Er ist nicht stabil genug, um aus dem Quartier weggebracht zu werden“, sagte Gideon beruhigend. „Ich habe die Kenntnisse und die Ausrüstung, die ich brauche, um ihn vorerst hier zu behandeln.“

„Ich will, dass er hier rauskommt!“ Evas Kopf schoss nach oben, und ihr vor Zorn sprühender Blick glitt von einem Krieger zum anderen. „Er nützt keinem von euch jetzt etwas, also überlasst ihn mir. Ihr habt kein Recht mehr auf ihn – niemand von euch. Er gehört jetzt ganz mir! Ich will nur, was für ihn am besten ist!“

Gabrielle spürte, wie Lucans Arm sich bei dem hysterischen Ausbruch anspannte. „Dann darfst du Gideon nicht in die Quere kommen. Du musst ihn arbeiten lassen“, sagte er streng, schon wieder in der Rolle des Anführers, trotz seines eigenen üblen Zustandes. „Im Augenblick ist das Einzige, was zählt, Rio am Leben zu erhalten.“

„Du“, sagte Eva. Ihre Stimme klang kalt, als sie ihren tränennassen, wütenden Blick auf Lucan richtete. Ihre Augen nahmen einen noch wilderen Schimmer an, und ihr Gesicht verwandelte sich in eine Maske aus purem Hass. „Du hättest es sein müssen, der hier stirbt, nicht er! Du, Lucan – das war der Handel, den ich gemacht habe! Du hättest es sein sollen!“

 

Ein gähnender Abgrund öffnete sich auf der Krankenstation und verschluckte jeden Laut. Nun stand nur noch die unfassbare Wahrheit dessen im Raum, was Rios Gefährtin soeben gestanden hatte.

Dantes und Nikolais Hände glitten zu ihren Waffen, und beide Krieger waren bereit, bei der geringsten Provokation zuzuschlagen. Lucan hob mühsam eine Hand, um sie zurückzuhalten, aber seine Augen blieben fest auf Eva geheftet. Es war ihm verdammt egal, dass ihre Feindseligkeit sich gegen ihn persönlich richtete. Wenn er das Ziel ihrer Wut und Bosheit gewesen war, sei’s drum, er hatte es jedenfalls überlebt. Rio dagegen würde es vielleicht nicht überleben. Jeder seiner Brüder, der bei dem Angriff in dieser Nacht dabei gewesen war, hätte Evas Verrat zum Opfer fallen können.

„Die Rogues wussten, dass wir da sein würden“, sagte Lucan, und seine Stimme klang durch die Tiefe seines Grimms umso kälter. „Wir gerieten in dem Lagerhaus in einen Hinterhalt. Du hast das arrangiert.“

Leises Knurren drang aus den Kehlen der anderen Krieger. Wenn das Geständnis von einem Mann gekommen wäre, hätte Lucan nicht viel tun können, um seine Brüder davon abzuhalten, sich in tödlicher Raserei auf den Betrüger zu stürzen. Aber der Verräter war eine Stammesgefährtin, eine ihrer eigenen. Eine Person, die sie gekannt und der sie vertraut hatten, die sie als Angehörige angesehen hatten, und zwar mehr als ein Menschenleben lang.

Nun blickte Lucan Eva an und sah eine Fremde. Er sah Wahnsinn. Tödliche Verzweiflung.

„Rio sollte verschont werden.“ Sie beugte sich über ihn und bettete seinen bandagierten Kopf in ihre Armbeuge. Er gab einen Laut von sich, etwas Raues und Wortloses, als Eva ihn in ihre Umarmung zog. „Ich wollte nur, dass er nie mehr zu kämpfen braucht. Nicht für euch.“

„Also wolltest du ihn stattdessen verstümmelt sehen?“, fragte Lucan. „Das ist die Art, wie du dich um ihn sorgst?“

„Ich liebe ihn!“, schrie sie. „Was ich getan habe, alles, habe ich aus Liebe getan! Rio wird irgendwo anders glücklicher sein, weg von all dieser Gewalt und diesem Tod. Er wird in den Dunklen Häfen glücklicher sein. Weit weg von eurem verdammten Krieg!“

Rio gab wieder ein Geräusch von sich, das aus der Tiefe seiner Kehle drang. Es war ein klagender Laut, trauriger als vorher und unverkennbar voller Qualen. Aber niemand wusste, ob es ein Stöhnen infolge des körperlichen Schmerzes war oder ob seine Qual daher rührte, dass er mit anhören musste, was geschehen war.

Lucan schüttelte langsam den Kopf. „Das ist eine Entscheidung, die du nicht für ihn treffen kannst, Eva. Du hattest nicht das Recht dazu. Dies ist so sehr Rios Krieg wie der von uns anderen. Es ist das, woran er geglaubt hat – und ich weiß, dass er immer noch daran glaubt, selbst nach dem, was du ihm angetan hast. Dieser Krieg betrifft den gesamten Stamm.“

Sie lachte bitter. „Wie ironisch, dass du so denkst, wo du doch nur ein paar Schritte davon entfernt bist, dich selber in einen Rogue zu verwandeln.“

„Gott im Himmel“, zischte Dante von seinem Standort in der Nähe. „Du hast unrecht, Eva. Du bist verdammt noch mal irre.“

„Bin ich das?“ Ihr Blick blieb auf Lucan geheftet, und sie klang sadistisch in ihrer falschen Fröhlichkeit. „O ja, ich habe es bemerkt. Ich habe gesehen, wie du mit deinem Hunger kämpfst, wenn du denkst, dass niemand in der Nähe ist. Ich habe dich beobachtet, Lucan. Deine Fassade der Selbstbeherrschung täuscht mich nicht.“

„Eva“, mischte sich Gabrielle ein, und ihre ruhige Stimme durchdrang die Spannung im Raum. „Sie sind sehr aufgeregt. Sie wissen nicht, was Sie sagen.“

Eva lachte. „Bitten Sie ihn, es zu leugnen. Fragen Sie ihn, warum er sich das Blut vorenthält, bis er fast ausgehungert ist!“

Lucan schwieg als Antwort auf diese öffentlichen Anschuldigungen, weil er wusste, dass sie der Wahrheit entsprachen.

Und Gabrielle ebenfalls.

Es rührte ihn, dass sie versucht hatte, ihn zu verteidigen, aber es ging jetzt weniger um ihn als um Rio und den Betrug, der den Krieger vernichten würde. Und vielleicht war das schon geschehen. Der Schwerverletzte quälte sich sichtlich, fuchtelte immer heftiger mit seinen bandagierten Gliedern und bemühte sich verzweifelt, trotz seiner Verletzungen zu sprechen.

„Wie hast du die Übereinkunft getroffen, Eva? Wie hast du Kontakt zu den Rogues aufgenommen – auf einem deiner Tagesausflüge an die Oberfläche?“

Sie stieß ein spöttisches Lachen aus. „Das war nicht schwer. Lakaien laufen in der ganzen Stadt herum. Man muss nur nach ihnen suchen. Ich habe einen gefunden und ihm gesagt, er soll für mich Kontakt mit seinem Meister herstellen.“

„Wer war das?“, fragte Lucan. „Wie sah er aus?“

„Ich weiß nicht. Wir haben uns nur einmal getroffen, und er hat sein Gesicht verborgen gehalten. Er trug eine dunkle Brille und hatte die Lampen in dem Hotelzimmer ausgeschaltet. Es war mir gleichgültig, wer er war oder wie er aussah. Alles, was zählte, war, dass er genug Einfluss besaß, um die Sache anzuleiern. Ich wollte nur sein Versprechen.“

„Ich kann mir denken, was du ihm dafür bezahlen musstest.“

„Es waren nur ein paar Stunden mit ihm. Ich hätte jeden Preis gezahlt“, erklärte sie. Jetzt sah sie Lucan nicht mehr an, auch keinen der anderen, die sie angewidert anstarrten, sondern blickte auf Rio hinunter. „Ich würde alles für dich tun, mein Liebling. Ich würde … alles ertragen.“

„Du hast vielleicht mit deinem Körper gehandelt“, meinte Lucan, „aber es war Rios Vertrauen, das du verkauft hast.“

Ein krächzendes Geräusch entwich Rios aufgesprungenen Lippen, als Eva gurrende Laute von sich gab und ihn liebkoste. Seine Augenlider öffneten sich flatternd. Er atmete flach und keuchend, als er Worte zu bilden versuchte.

„Ich …“ Er hustete, und sein gequälter Körper verkrampfte sich. „Eva …“

„O mein Geliebter – ja, ich bin hier!“, weinte sie. „Sag mir, was du brauchst, Schatz. Sprich mit mir, Rio.“

„Eva …“ Seine Kehle arbeitete einen Moment lang stumm, dann versuchte er es erneut. „Ich … verurteile … dich.“

„Was?“

„Tot …“ Er stöhnte. Ohne Zweifel ging seine Seelenqual tiefer als die seines Körpers, aber der wilde Blick in seinen trüben, blutunterlaufenen Augen zeigte, dass nichts ihn vom Sprechen abhalten würde. „Existierst nicht mehr … für mich … du bist tot.“

„Rio, versteh doch – ich habe das für uns getan!“

„Verschwinde“, keuchte er. „Dich … nie … Wiedersehen …“

„Du kannst das nicht so meinen.“ Sie hob den Kopf, und ihr Blick schoss wild von einem zum anderen. „Er meint es nicht so! Das kann nicht sein! Rio, sag mir, dass du das nicht so meinst!“

Als sie nach ihm zu greifen versuchte, knurrte Rio. Er nutzte die wenige Kraft, die er besaß, um ihrer Berührung auszuweichen. Eva schluchzte auf. Blut aus seinen Wunden bedeckte die Vorderseite ihrer Kleidung. Sie starrte auf die Flecken hinab und dann wieder zu Rio, der sich von ihr abgewandt hatte und nun ganz unnahbar dalag.

Was dann geschah, dauerte höchstens ein paar Sekunden, aber es spielte sich wie in Zeitlupe ab, als habe die Zeit sich zu einem gnadenlosen Schneckentempo verlangsamt.

Evas verzweifelt umherirrender Blick fiel auf Rios Waffengurt, der neben dem Bett lag.

Ein Ausdruck der Entschlossenheit huschte über ihr Gesicht, als sie sich auf eine der Klingen stürzte.

Sie hob den glänzenden Dolch in die Höhe.

Und flüsterte Rio zu, dass sie ihn immer lieben würde.

Dann drehte Eva die Waffe in ihrer Hand und fuhr sich damit an die Kehle.

„Eva, nein!“, schrie Gabrielle, und ihr Körper machte einen reflexartigen Ruck, als wollte sie die andere Frau retten. „O mein Gott, nein!“

Lucan hielt sie fest. Er zog sie rasch in die Arme und drückte ihr Gesicht gegen seine Brust. Schützte sie davor, mit ansehen zu müssen, wie Eva ihre eigene Halsschlagader durchtrennte und blutend und leblos zu Boden fiel.