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Eine explosive Mischung aus Adrenalin, Wut und wahnsinniger Angst katapultierte Lucan auf das Dach der alten Nervenheilanstalt. Der Hubschrauber hatte kaum auf seinen Kufen aufgesetzt, als der Vampir bereits in seine Richtung stürmte. Lucan vibrierte vor Zorn, er war explosiver und instabiler als ein mit C4 bepackter Sattelschlepper. Er war bereit, demjenigen, der Gabrielle in dieser Maschine festhielt, alle Glieder auszureißen, wer auch immer es war.

Er näherte sich dem Helikopter von hinten, sorgfältig darauf bedacht, nicht gesehen zu werden, rollte sich unter dem Heck hindurch und tauchte dann mit gezogener Pistole auf der Copilotenseite des Cockpits auf.

Er erhaschte einen Blick auf Gabrielle im Inneren. Sie saß auf dem Rücksitz, neben einem großen Mann in schwarzer Kleidung und mit dunkler Brille, und sah so klein aus, so verängstigt. Ihr Duft umhüllte ihn. Und ihre Angst zerriss ihm das Herz.

Lucan riss die Cockpittür auf, stieß Gabrielles Entführer die Waffe ins Gesicht und griff mit der freien Hand nach ihr. Aber sie wurde zurückgezerrt, bevor er sie fassen konnte. „Lucan?“, keuchte Gabrielle, ihre Augen vor Überraschung weit aufgerissen. „Oh mein Gott – Lucan!“

Er versuchte mit einem schnellen Blick die Situation einzuschätzen und bemerkte den Lakaienpiloten sowie einen anderen menschlichen Sklaven neben ihm auf dem Vordersitz. Der Lakai auf dem Copilotensitz drehte sich um, um Lucans Arm wegzuschlagen – und bekam stattdessen eine Kugel in den Kopf.

Als Lucan kaum einen Augenblick später wieder zu Gabrielle sah, hielt der Mann auf dem Rücksitz Gabrielle eine Klinge an den Hals. Unter dem Ärmel seines langen, schwarzen Trenchcoats sah man die Dermaglyphen, die Lucan auf den Überwachungsfotos von der Westküste gesehen hatte.

„Lassen Sie sie los“, sagte Lucan zu dem Gen-Eins-Anführer der Rogues.

„Du meine Güte, diese Reaktion kam schneller, als ich gedacht hätte, sogar für einen im Blut verbundenen Krieger. Was hast du vor? Warum bist du hier?“

Die leise, arrogante Stimme überraschte Lucan.

Kannte er diesen Mistkerl?

„Lassen Sie sie gehen“, sagte Lucan, „dann werde ich Ihnen zeigen, warum ich hier bin.“

„Ich denke nicht.“ Der Gen-Eins-Vampir lächelte breit und entblößte dabei seine Zähne.

Keine Fangzähne. Ein Vampir, aber kein Rogue.

Was zum Teufel?

„Sie ist hinreißend, Lucan. Um genau zu sein, hatte ich erwartet, dass sie dir gehört.“

Gott, er kannte diese Stimme, tief begraben in seiner Erinnerung.

Tief in seiner Vergangenheit.

Ein Name drang ihm ins Gedächtnis, so scharf wie eine Klinge.

Nein. Er konnte es nicht sein.

Unmöglich …

Er schüttelte seine Verwirrung ab, aber seine mangelnde Konzentration rächte sich sofort. Ein Rogue war aus dem Inneren des Gebäudes auf das Dach der Nervenheilanstalt gekommen und hatte sich unbemerkt von der Seite an ihn herangeschlichen. Mit einem Knurren packte er die Hubschraubertür und stieß sie mit dem Rand gegen Lucans Schädel.

„Lucan!“, schrie Gabrielle. „Nein!“

Er taumelte, und seine Knie gaben unter ihm nach. Seine Waffe fiel ihm aus der Hand. Sie rutschte über die raue Oberfläche des Daches, mehrere Meter außer Reichweite.

Der Rogue verpasste Lucan mit seiner riesigen Faust einen Schlag gegen den Kiefer. Eine Sekunde später traf ihn ein brutaler Fußtritt in die Rippen. Lucan ging zu Boden, aber er holte mit seinem Stiefel aus und ließ das Bein seines Angreifers unter ihm einknicken. Er stürzte sich auf den Rogue, tastete mit einer Hand nach der Stichwaffe, die er sich in einer Scheide um den Körper geschnallt hatte.

Etwa einen Meter entfernt begannen die Rotoren des Hubschraubers sich schneller zu drehen. Der Pilot bereitete sich darauf vor, wieder abzuheben. Das konnte Lucan nicht zulassen. Wenn er Gabrielle von diesem Dach abfliegen lassen würde, dann bestand für ihn keine Hoffnung mehr, sie je lebend wiederzusehen.

 

„Bring uns hier raus“, befahl Gabrielles Entführer seinem Piloten, als die Rotoren des Helikopters sich immer schneller drehten.

Draußen auf dem Dach kämpfte Lucan gegen den Rogue, der heraufgekommen war und ihn angegriffen hatte. Durch die Dunkelheit erhaschte Gabrielle einen Blick auf einen weiteren Kerl, der durch eine Dachluke der Nervenheilanstalt heraufkam.

„Oh nein“, flüsterte sie. Durch die Stahlschneide, die in ihre Kehle drückte, konnte sie kaum sprechen.

Der große Mann neben ihr beugte sich vor, um zu sehen, was auf dem Dach passierte. Lucan war auf die Beine gekommen. Er zerteilte den ersten Rogue, der über ihn hergefallen war, und schlitzte ihm den Bauch auf. Der Schrei des Rogue übertönte sogar das laute Dröhnen der Hubschrauberrotoren. Und sein Körper begann sich zu krümmen, sich zu verkrampfen … zu schmelzen.

Lucan wandte den Kopf zu dem Helikopter. Wut brannte in seinen Augen; sie wirkten wie zwei glühende Kohlen, die von Höllenfeuer erleuchtet wurden. Er machte brüllend einen Satz nach vorn, die Schultern zusammengezogen, und ging mit der Wucht eines Güterzuges auf den Hubschrauber los.

„Bring uns jetzt sofort hier raus!“, brüllte der Mann neben Gabrielle, und zum ersten Mal hörte sie in seiner Stimme wahre Besorgnis. „Jetzt sofort, verdammt noch mal!“

Der Helikopter begann aufzusteigen.

Gabrielle versuchte sich der scharfen Klinge zu entziehen, indem sie ihre Wirbelsäule gegen die Lehne des kleinen Rücksitzes presste. Wenn sie nur einen Weg finden könnte, den Arm dieses Kerls wegzuschlagen, dann wäre sie vielleicht imstande, die Cockpittür zu erreichen …

Plötzlich ging ein Ruck durch den Hubschrauber, als ob er an irgendeinem Teil des Gebäudes hängen geblieben wäre. Der Motor heulte angestrengt auf.

Gabrielles Entführer schäumte nun vor Wut. „Heb ab, du Idiot!“

„Ich versuche es, Sire!“, entgegnete der Lakai an der Steuerung. Er zog einen Hebel, und der Motor protestierte mit einem schrecklichen Stöhnen.

Von draußen gab es einen neuen Ruck, ein hartes Ziehen nach unten, das alles im Innenraum des Helikopters zum Klirren brachte. Der Helikopter schlingerte nach vorn. Gabrielles Entführer rutschte vom Sitz und war für einen kurzen Moment unaufmerksam.

Die Klinge glitt von ihrem Hals weg.

Entschlossen warf sich Gabrielle nach hinten, trat mit beiden Beinen nach dem Vampir und schleuderte ihn gegen die Lehne des Pilotensitzes. Der Helikopter neigte sich dramatisch nach vom. Gabrielle versuchte fieberhaft, den Türriegel des Cockpits zu erreichen.

Die Tür schwang weit auf, der gesamte Innenraum bebte und wackelte. Gabrielles Entführer richtete sich auf und wollte sie erneut packen. Seine Sonnenbrille war ihm in dem Durcheinander von der Nase gefallen, und er blickte sie mit eisgrauen, boshaften Augen an.

„Sagen Sie Lucan, diese Sache ist noch lange nicht vorbei“, befahl ihr der Anführer der Rogues. Er zischte die Worte mit einem bösartigen Lächeln, als ob er vorhersähe, was sie tun würde.

„Fahren Sie zur Hölle“, schoss Gabrielle zurück. Im gleichen Augenblick machte sie einen Satz durch die Türöffnung und sprang mehr als einen Meter tief auf das Dach hinunter.

 

Sobald er sie sah, ließ Lucan die Kufen des Hubschraubers los. Dieser schoss nach oben und drehte sich wie wild, während der Pilot darum kämpfte, die Kontrolle über die Maschine wiederzuerlangen.

Lucan rannte zu Gabrielle und zog sie auf die Beine. Seine Hände glitten über ihren ganzen Körper, da er sich versichern wollte, dass sie heil und gesund war. „Bist du in Ordnung?“

Sie nickte ruckartig. „Lucan, hinter dir!“

Auf dem Dach steuerte ein weiterer Rogue auf die beiden zu. Lucan nahm die Herausforderung mit Vergnügen an, nun, da Gabrielle bei ihm war. Jeder Muskel in seinem Körper bereitete sich darauf vor zu töten. Er zog eine zweite Klinge und stürmte auf den Angreifer zu.

Der Kampf war wild und schnell. Mit fliegenden Fäusten und Klingen führten Lucan und der Rogue einen tödlichen Kampf Mann gegen Mann. Lucan wurde mehr als einmal getroffen, aber er war nicht aufzuhalten. Gabrielles Blut in seinem Körper gab ihm noch immer Kraft und verlieh ihm eine Wut, durch die er auch in der Lage gewesen wäre, zehn Gegner gleichzeitig zu bekämpfen. Er schlug hart und mit tödlicher Effizienz zu und tötete den Rogue mit einem vertikalen Schnitt durch seinen Oberkörper.

Lucan wartete nicht ab, bis das Titan seine Arbeit getan hatte. Er wirbelte herum und lief zu Gabrielle zurück. Als er sie erreicht hatte, musste er sie einfach in seine Arme ziehen und sie an sich gepresst festhalten. Er hätte die ganze Nacht dort bleiben können, um ihren Duft einzuatmen, ihr Herz schlagen zu fühlen und ihre weiche Haut zu streicheln.

Er hob ihr Kinn an und drückte ihr einen intensiven, zärtlichen Kuss auf die Lippen. „Wir müssen hier raus, Süße. Jetzt sofort.“

Über ihren Köpfen stieg der Helikopter weiter in die Höhe.

Aus der Glaskuppel des Cockpits starrte der Gen-Eins-Vampir, der Gabrielle gefangen genommen hatte, nach unten. Er salutierte vage in Lucans Richtung und grinste, während die Maschine in den Nachthimmel aufstieg.

„Oh Gott, Lucan! Ich hatte solche Angst. Wenn dir etwas passiert wäre …“

Gabrielles Worte ließen Lucan seinen geflohenen Feind völlig vergessen. Das Einzige, was für ihn zählte, war die Tatsache, dass ihr nichts passiert war. Sie lebte. Gabrielle war bei ihm, und er hoffte bei Gott, dass er dafür sorgen konnte, dass dies auch weiterhin so war.

„Wie zum Teufel sind die zu dir gelangt?“, fragte er eindringlich. Das Zittern seiner Stimme verriet noch immer die ausgestandene Angst.

„Nachdem du heute Nacht das Gelände verlassen hattest, musste ich unbedingt weg, um nachzudenken. Ich bin nach Hause gefahren. Kendra tauchte dort auf. Sie hielt Jamie in einem Auto draußen als Geisel fest. Ich konnte nicht zulassen, dass sie ihm etwas antaten. Kendra gehört – gehörte – zu den Lakaien, Lucan. Sie haben sie getötet. Meine Freundin ist tot.“ Gabrielle schluchzte auf. „Aber Jamie konnte zumindest entkommen. Er ist irgendwo in der Stadt und hat wahrscheinlich eine Todesangst. Ich muss ihn finden und mich davon überzeugen, dass er in Ordnung ist.“

Lucan hörte das leise Geräusch des Hubschraubers, als dieser höher in die Luft stieg. Er musste Niko das Signal geben, den Ort in die Luft zu jagen, bevor die Rogues im Inneren ebenfalls eine Chance hatten zu entkommen.

„Lass uns hier verschwinden, dann kümmern wir uns um den Rest.“ Lucan hob Gabrielle hoch und trug sie auf seinen Armen. „Halt dich an mir fest, meine Süße. So fest, wie du kannst.“

„Okay.“ Sie schlang die Arme um seinen Hals.

Er küsste sie erneut, und seine Erleichterung, sie in seinen Armen zu halten, überwältigte ihn.

„Und lass nicht mehr los“, sagte er und blickte in die glänzenden, wunderschönen Augen seiner Stammesgefährtin.

Dann trat er über den Rand des Daches und sprang so sanft, wie er konnte, mit ihr zu Boden.

„Lucan, sprich mit mir, Mann!“, rief Nikolai über den Hörer. „Wo bist du? Was zum Teufel ist da draußen los?“

„Alles in Ordnung“, antwortete er, während er Gabrielle rasch über das Gras der Nervenheilanstalt trug, zu der Stelle, an der der Geländewagen der Krieger wartete. „Alles wird jetzt in Ordnung kommen. Drück den Knopf des Sprengzünders und lass uns diese Sache zu Ende bringen.“

 

Gabrielle schmiegte sich in Lucans starken Arm, als der Geländewagen der Krieger in die Straße einbog, die zu dem Hauptquartier führte. Er hielt sie fest an sich gedrückt, seit sie von dem Grundstück der Nervenheilanstalt entkommen waren, und hatte ihre Augen beschirmt, als der gesamte Gebäudekomplex in einem höllischen Feuerball in die Luft geflogen war.

Lucan und seine Brüder hatten es tatsächlich getan – sie hatten das Hauptquartier der Rogues zerstört. Der Helikopter hatte es geschafft, der Explosion zu entkommen, und war im Schutz der Dunkelheit und des schwarzen Rauches hoch in den Himmel gestiegen.

Lucan war nachdenklich. Tief in Gedanken versunken starrte er aus dem getönten Fenster in den Sternenhimmel hinaus. Gabrielle hatte seinen überraschten Blick – seinen ungläubigen, fassungslosen Blick – gesehen, als er auf dem Dach gewesen war und die Cockpittür des Hubschraubers aufgerissen hatte.

Es war, als hätte er einen Geist gesehen.

Diese Stimmung haftete ihm sogar jetzt noch an, als sie auf das Anwesen kamen und Nikolai zu der Garage der Wagenflotte fuhr. Der Krieger hielt in dem riesigen Hangar an. Als er den Motor abstellte, machte Lucan schließlich den Mund auf.

„Heute Nacht haben wir einen wichtigen Sieg über unsere Feinde errungen.“

„Ja, zum Teufel“, stimmte Nikolai zu. „Und wir haben Conlan und Rio gerächt. Es hätte ihnen gefallen, dabei zu sein und zu sehen, wie dieser Ort in die Luft ging.“

Lucan nickte in dem dunklen Fahrzeug. „Aber täuscht euch nicht. Wir treten jetzt in eine neue Phase des Kampfes gegen die Rogues ein. Das ist nun ein Krieg, jetzt mehr denn je. Heute Nacht haben wir in das Wespennest gestochen. Aber derjenige, den wir kriegen müssen – ihr Anführer –, lebt noch.“

„Lass ihn nur weglaufen. Wir werden ihn schon zu fassen bekommen“, meinte Dante und grinste zuversichtlich.

Aber Lucan schüttelte grimmig den Kopf. „Dieser Kerl ist anders. Er wird es uns nicht leicht machen. Er wird unsere Schritte vorhersehen. Er wird unsere Taktiken verstehen. Der Orden wird seine Strategien verbessern und die Anzahl der Mitglieder erhöhen müssen. Wir müssen die wenigen verbleibenden Kader überall auf der Welt mobilisieren und weitere Krieger einsetzen, je eher, desto besser.“

Gideon drehte sich auf dem Vordersitz um. „Meinst du, es ist der Gen-Eins-Angehörige von der Westküste, der die Rogues anführt?“

„Da bin ich mir sicher“, antwortete Lucan. „Er war heute Nacht in dem Hubschrauber auf dem Dach, wo er Gabrielle festgehalten hat.“ Er streichelte ihren Arm zärtlich und hielt dann inne, um sie anzusehen, so als ob ihr bloßer Anblick ihn beruhigte. „Und der Mistkerl ist kein Rogue – jetzt nicht, und vielleicht war er das auch nie. Irgendwann war er ein Krieger wie wir. Sein Name ist Marek.“

Gabrielle spürte einen kalten Hauch aus der dritten Sitzreihe des Geländewagens und wusste, dass Tegan Lucan nun ansah.

Lucan wusste es ebenfalls. Er drehte den Kopf, um dem starren Blick des anderen Kriegers zu begegnen. „Marek ist mein Bruder.“