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Zuerst dachte Gabrielle, es wäre nur wieder ein erotischer Traum gewesen. Aber als sie am nächsten Morgen nackt in ihrem Bett aufwachte, ihr Körper ausgelaugt und gewisse Körperteile an den richtigen Stellen schmerzend, wusste sie, dass Lucan Thorne definitiv leibhaftig da gewesen war. Und, mein Gott, was hatte er für einen fantastischen Leib! Sie hatte nicht mehr mitgezählt, wie oft er sie zum Höhepunkt gebracht hatte. Wenn sie alle Orgasmen der vergangenen zwei Jahre zusammenzählen würde, würde das dem, was sie letzte Nacht mit ihm erlebt hatte, vermutlich nicht einmal annähernd nahekommen.

Und doch wünschte sie sich wenigstens noch einen einzigen, als sie mühsam ihre Lider öffnete und enttäuscht feststellte, dass Lucan nicht dageblieben war. Ihr Bett war leer und die Wohnung still. Offensichtlich war er irgendwann in der Nacht verschwunden.

So erschöpft, wie sie war, hätte Gabrielle einen ganzen Tag schlafen können, aber die Verabredung zum Mittagessen mit Jamie und ihren Freundinnen trieb sie etwa zwanzig nach zwölf aus dem Haus in die Stadt hinein. Als sie das Restaurant in Chinatown betrat, spürte sie, wie sich Köpfe in ihre Richtung drehten. Sie erhielt anerkennende Blicke von einer Gruppe von Werbefritzen drüben an der Sushibar, und ein halbes Dutzend junger leitender Angestellter in Nadelstreifen sah zu, wie sie auf ihrem Weg zu der Sitzecke hinten im Raum, wo ihre Freunde bereits saßen, an ihnen vorbeiging.

Sie fühlte sich in ihrem dunkelroten Pullover mit V-Ausschnitt und dem schwarzen Rock sexy und selbstsicher, und es war ihr egal, wenn alle Menschen im Restaurant sehen konnten, dass sie heute Nacht den unglaublichsten Sex ihres Lebens gehabt hatte.

„Endlich beehrt sie uns mit ihrer Anwesenheit!“, rief Jamie aus, als Gabrielle den Tisch erreichte und die anderen mit einer schnellen Umarmung begrüßte.

Megan küsste sie auf die Wange. „Du siehst großartig aus.“

Jamie nickte. „Ja, das stimmt, meine Süße. Ich liebe dein Outfit. Ist das neu?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern ließ sich einfach wieder in die Sitzecke fallen und schlang einen gebratenen Kloß in einem einzigen Stück hinunter. „Ich war am Verhungern, also haben wir schon mal ein paar Vorspeisen bestellt. Wo warst du übrigens? Ich wollte schon einen Suchtrupp losschicken.“

„Tut mir leid. Ich habe heute ein bisschen verschlafen.“ Sie lächelte und setzte sich neben Jamie auf die Vinylbank mit dem türkischen Muster. „Kommt Kendra nicht?“

„Die ist schon wieder verschollen.“ Megan nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse und zuckte dann mit den Schultern. „Nicht dass das eine Rolle spielen würde. In den letzten Tagen ist sie sowieso dauernd mit ihrem neuen Freund beschäftigt – weißt du, dieser Typ, den sie letztes Wochenende im La Notte aufgegabelt hat?“

„Brent“, ergänzte Gabrielle, die bei der Erwähnung der schrecklichen Nacht gegen ein Gefühl von Unbehagen ankämpfen musste.

„Ja, der. Sie hat es sogar geschafft, ihre Nachtschicht im Krankenhaus gegen die Tagschicht zu tauschen, sodass sie jede Nacht mit ihm verbringen kann. Offenbar muss er geschäftlich viel reisen oder so und ist im Allgemeinen tagsüber nicht zu erreichen. Ich kann nicht glauben, dass Kendra sich von irgendeinem Kerl so in ihr Leben hineinreden lässt. Ray und ich sind inzwischen seit drei Monaten zusammen, aber ich nehme mir trotzdem noch Zeit für meine Freunde.“

Gabrielle zog die Augenbrauen in die Höhe. Von den vieren war Kendra der größte Freigeist, und das absolut kompromisslos. Am liebsten hielt sie sich einen ganzen Stall von verfügbaren Typen und war entschlossen, Single zu bleiben, bis sie mindestens dreißig war. „Meinst du, sie ist verliebt?“

„Lust, meine Süße.“ Jamie schnappte sich den letzten Kloß mit seinen Stäbchen. „Manchmal sorgt sie mehr als die Liebe dafür, dass man irgendwelche Verrücktheiten begeht. Vertrau mir, ich kenne mich damit aus.“

Während er auf seiner Vorspeise herumkaute, sah Jamie Gabrielle einen langen Moment in die Augen, befrachtete dann ihr offenes, zerzaustes Haar und ihre errötenden Wangen. Sie versuchte lässig zu lächeln, aber sie konnte ihr Geheimnis einfach nicht für sich behalten. Das glückliche Glänzen in ihren Augen verriet sie. Jamie legte seine Stäbchen auf den Teller. Er legte den Kopf auf die Seite, sodass sein blondes Haar um sein Kinn schwang.

„Oh. Mein Gott.“ Er grinste. „Du hast es getan.“

„Was getan?“ Ein sanftes Lachen drang aus ihrem Mund.

„Du hast es getan. Du bist flachgelegt worden, oder?“

Gabrielles Lächeln verwandelte sich in ein verlegenes, mädchenhaftes Kichern.

„Oh, meine Süße. Es steht dir aber gut, das muss ich schon sagen.“ Jamie tätschelte ihre Hand und lachte mit ihr. „Lass mich raten – Detective Dunkel und Sexy von der Polizei Boston?“

Bei dem albernen Spitznamen rollte sie mit den Augen und nickte.

„Und wann?“

„Letzte Nacht. Praktisch die ganze Nacht.“

Jamies Begeisterungsschrei zog die Aufmerksamkeit von einigen Nachbartischen auf sich. Er beruhigte sich, strahlte sie aber wie eine stolze Glucke an. „Er war gut, ja?“

„Fantastisch.“

„Okay, wie kommt es, dass ich nichts über diesen geheimnisvollen Mann weiß?“, warf Megan nun ein. „Und er ist Polizist, sagt ihr? Vielleicht kennt Ray ihn ja. Ich könnte ihn fragen …“

„Nein.“ Gabrielle schüttelte den Kopf. „Bitte sagt zu niemandem ein Wort. Es ist nicht so, als ob ich eine Beziehung mit Lucan hätte. Er kam gestern Abend her, um mein Handy zurückzubringen, und die Dinge … gerieten, also, einfach außer Kontrolle. Ich weiß nicht mal, ob ich ihn jemals wiedersehe.“

Sie hatte keine Ahnung, aber bei Gott, sie hoffte es.

Eine innere Stimme sagte ihr, dass das, was zwischen ihnen geschehen war, unbesonnen und leichtsinnig gewesen war. Es war verrückt. Sie hatte sich selbst immer als vernünftigen, vorsichtigen Menschen betrachtet – jemand, der seine Freunde vor ebensolchen Unvorsichtigkeiten, wie sie sie letzte Nacht begangen hatte, warnte.

Dumm, dumm, dumm.

Und das nicht nur aus dem Grund, weil sie in ihrem Rausch jede Art von Schutz vergessen hatte. Mit einem praktisch Fremden ins Bett zu gehen war selten eine gute Idee, aber Gabrielle hatte das schreckliche Gefühl, dass sie drauf und dran war, ihr Herz an einen Mann wie Lucan Thorne zu verlieren.

Und das, da war sie sich sicher, wäre reichlich idiotisch.

Aber Sex mit ihm war nichts Alltägliches. Zumindest nicht für sie. Allein der Gedanke an Lucan Thorne ließ jede Faser ihres Körpers vor süßer Sehnsucht erbeben. Wenn er zufällig jetzt im Moment das Restaurant beträte, würde sie wahrscheinlich über die Tische hüpfen und über ihn herfallen.

„Wir hatten eine unglaubliche Nacht zusammen, aber für den Augenblick ist das alles. Ich möchte nicht mehr hineininterpretieren.“

„Aha.“ Jamie stützte seinen Ellbogen auf den Tisch und beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber. „Warum kannst du dann nicht aufhören zu lächeln?“

 

„Wo zum Teufel bist du gewesen?“

Lucan roch Tegan, bevor er den Vampir um die Ecke des Flurs des Wohntraktes im Inneren des Quartiers biegen sah. Der Mann war erst kürzlich auf der Jagd gewesen. Ihm haftete noch der metallische, süße Blutgeruch an – sowohl von menschlichem als auch von Rogues-Blut.

Als er sah, wie Lucan vor einer der Wohnungen auf ihn wartete, blieb er stehen, seine Hände in den Taschen seiner tief sitzenden Jeans zu Fäusten geballt. Tegans graues T-Shirt war stellenweise zerrissen und mit Schmutz und Blut verdreckt. Unter seinen hellgrünen, verquollenen Augen lagen dunkle Ringe. Langes, ungekämmtes lohfarbenes Haar fiel ihm ins Gesicht.

„Du siehst beschissen aus, Tegan.“

Dieser blickte unter den Strähnen aus schmutzigem blondem Haar auf und grinste wie üblich höhnisch.

Glyphen zogen sich über seine Unterarme und den ausgeprägten Bizeps. Die eleganten Zeichen waren nur eine Spur dunkler als sein eigener goldener Hautton, und ihre Farbe verriet nichts über die aktuelle Stimmung des Vampirs. Lucan wusste nicht, ob er es mit reiner Willenskraft schaffte, dass seine Haut stets Gleichgültigkeit ausdrückte, oder ob seine dunkle Vergangenheit tatsächlich jedes Gefühl in ihm abgetötet hatte.

Gott wusste, er hatte so viel erdulden müssen, dass es ausgereicht hätte, um einen ganzen Kader von Kriegern daran zerbrechen zu lassen.

Aber Tegans persönliche Dämonen waren sein eigenes Problem. Alles, was für Lucan zählte, war, dass der Orden stark und handlungsfällig blieb. Da war kein Platz für schwache Glieder in der Kette.

„Du hast dich fünf Tage lang nicht gemeldet, Tegan. Ich frage noch mal, wo zum Teufel bist du gewesen?“

Tegan lachte. „Verpiss dich, Mann. Du bist nicht meine Mutter.“

Als er weggehen wollte, versperrte Lucan ihm den Weg, indem er atemberaubend schnell die Distanz zwischen ihnen überwand. Er packte Tegan an der Kehle und stieß ihn mit dem Rücken gegen die Flurwand, um ihm eine Reaktion zu entlocken.

Er war kurz vor einem Wutausbruch – wegen Tegans nachlässiger Haltung gegenüber den anderen Mitgliedern des Ordens in letzter Zeit, aber noch mehr wegen sich selbst. Wie konnte er nur so naiv gewesen sein zu glauben, dass er eine Nacht mit Gabrielle Maxwell verbringen und sie dann vergessen könnte?

Weder Menschenblut noch die rasende Wut, mit der er in den Stunden vor der Morgendämmerung über zwei Rogues hergefallen war, hatten ausgereicht, um die Lust auf Gabrielle zu dämpfen, die noch immer durch seine Adern pulsierte. Lucan hatte den Rest der Nacht die Stadt durchstreift wie ein Geist und war mit einer rasenden, düsteren Wut zum Quartier zurückgekehrt.

Das Gefühl hielt an, als er seine Finger um die Kehle seines Bruders schloss. Er brauchte ein Ventil für seine Aggression, und da kam ihm Tegan, wild und verschlossen, gerade recht.

„Ich habe deine Scheiße satt, Tegan. Du musst dich zusammenreißen, sonst werde ich das für dich tun.“ Er quetschte den Kehlkopf des Vampirs fester, aber Tegan zuckte trotz des Schmerzes, den er verspüren musste, kaum zusammen. „Und jetzt sag mir, wo du die ganze Zeit gewesen bist, oder du und ich werden ernsthafte Probleme miteinander bekommen.“

Die beiden Männer waren gleich groß und waren einander durchaus gewachsen, was ihre Kräfte anging. Tegan hätte sich wehren können, aber das tat er nicht. Er zeigte überhaupt keine Gefühlsregung, sondern starrte Lucan nur mit stählernem, gleichgültigem Blick an.

Er fühlte überhaupt nichts, und das ging Lucan unglaublich auf die Nerven.

Mit einem Knurren nahm er seine Hand von der Kehle des Kriegers und versuchte seine Wut unter Kontrolle zu bekommen. Es war nicht seine Art, dermaßen auszurasten. Es war unter seiner Würde.

Mein Gott.

Und er stand da und sagte zu Tegan, er solle sich zusammenreißen?

Toller Rat. Vielleicht sollte er ihn selbst auch befolgen.

Der ausdruckslose Blick aus Tegans Augen drückte in etwa das Gleiche aus, obwohl der Vampir klugerweise schwieg. Als die beiden Verbündeten – trotz allem waren sie das – einander in düsterem Schweigen betrachteten, glitt in einiger Entfernung am Ende des Ganges mit einem leisen Zischen eine Glastür auf. Gideons Turnschuhe quietschten auf dem glänzenden Fußboden, als er aus seinem Privatquartier auf den Gang trat.

„He, Tegan, tolle Arbeit, Mann. Ich habe die Überwachung laufen lassen, nachdem wir uns gestern Abend unterhalten haben. Dein Gefühl, dass die Rogues die Green Line{3} observieren, scheint absolut gerechtfertigt zu sein.“

Lucan zuckte mit keiner Wimper, während Tegan seinem Blick standhielt, fast ohne Gideons Lob wahrzunehmen. Auch verteidigte er sich nicht gegen Lucans falsche Verdächtigungen. Er blieb einfach eine lange Minute dort stehen und schwieg. Dann ging er an Lucan vorbei und den Flur hinunter.

„Du solltest dir das anschauen“, rief Gideon Lucan zu, als er sich auf den Weg zum Labor machte. „Sieht aus, als ob demnächst was passieren wird.“